Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Ein paar Tage später gingen sie zusammen sorglos durch die Eichendickung, die auf der anderen Seite der Wiese lag. Sie wollten die Wiese überqueren und dort, wo die hohe Eiche stand, zu ihrer alten Straße gelangen. Als das Gebüsch vor ihnen heller wurde, hielten sie an und spähten hinaus. Dort an der Eiche bewegte sich etwas Rotes.

»Wer mag das sein . . .?« flüsterte Bambi.

»Wahrscheinlich Ronno oder Karus«, meinte Faline.

Bambi zweifelte: »Die wagen sich doch jetzt nicht mehr in meine Nähe.« Bambi sah schärfer hin. »Nein«, entschied er, »das ist weder Karus noch Ronno . . . das ist ein Fremder . . .«

Faline stimmte zu, erstaunt und sehr neugierig: »Richtig, ein Fremder, jetzt sehe ich es auch . . . sonderbar!«

Sie beobachteten.

»Wie ungeniert er sich benimmt!« rief Faline.

»Dumm«, sagte Bambi, »ja wirklich dumm! Er benimmt sich wie ein ganz kleines Kind . . . als ob es gar keine Gefahr gebe!«

»Gehen wir hin«, schlug Faline vor. Sie war zu neugierig.

»Gut«, erwiderte Bambi, »gehen wir . . . den Burschen muß ich mir näher anschauen . . .«

Sie machten ein paar Schritte, da stockte Faline: »Aber . . . wenn er mit dir Streit anfängt . . . er ist stark . . .«

»Bah!« Bambi hielt das Haupt schief und zog eine geringschätzige Miene. »Sieh doch die kleine Krone an . . . soll ich davor Angst haben . . .? Dick und fett ist der Kerl . . . aber stark? Das glaube ich nicht. Komm nur . . .«

Sie gingen.

Drüben der andere war damit beschäftigt, von den Grasrispen zu naschen, und bemerkte sie erst, als sie schon ziemlich weit auf der Wiese draußen waren. Sogleich kam er den beiden entgegengelaufen. Er machte freudige, spielerische Sprünge und erweckte wiederum einen sonderbar kindlichen Eindruck. Bambi und Faline blieben verdutzt stehen und erwarteten ihn. Nun war er heran bis auf ein paar Schritte. Er stand gleichfalls still.

Nach einer Weile fragte er: »Kennt ihr mich nicht?«

Bambi hatte kampfbereit das Haupt geduckt. »Kennst du . . . uns?« gab er zurück.

Der andere fiel ihm ins Wort. »Aber Bambi!« rief er vorwurfsvoll und vertraulich.

Bambi stutzte, als er sich mit seinem Namen nennen hörte. Ihm zuckte aus dem Klang dieser Stimme eine Erinnerung ins Herz, aber schon sprang Faline dem Fremden entgegen.

»Gobo!« rief sie und verstummte. Sprachlos stand sie da, ohne Regung. Der Atem war ihr weggeblieben.

»Faline . . .« sagte Gobo leise, »Faline . . . Schwester . . . du hast mich also doch erkannt . . .« Er kam zu ihr und küßte sie auf den Mund. Die Tränen rannen ihm nun plötzlich über die Wangen.

Auch Faline weinte, und sie konnte nicht sprechen.

»Ja . . . Gobo . . .« begann Bambi. Seine Stimme zitterte, und er war sehr erregt, er war tief gerührt und erstaunt über alle Maßen. »Ja . . . Gobo . . . bist du nicht tot . . .?«

Gobo lachte auf. »Du siehst ja . . . ich glaube wohl, man merkt es mir an, daß ich nicht tot bin.«

»Aber . . . damals . . . im Schnee?« beharrte Bambi.

»Damals?« Gobo warf sich ein wenig in die Brust: »Damals hat Er mich gerettet . . .«

»Und wo warst du die ganze lange Zeit . . .?« fragte nun Faline in Verblüffung.

Gobo erwiderte: »Bei Ihm . . . die ganze Zeit bei Ihm . . .«

Er schwieg, sah Faline und Bambi an und weidete sich an ihrem ratlosen Staunen. Dann fügte er hinzu: »Ja, meine Lieben . . . ich habe viel erlebt . . . mehr als ihr alle zusammen hier in eurem Walde . . .« Es klang ein wenig prahlerisch, aber sie merkten es noch nicht, sie waren noch zu sehr benommen von der großen Überraschung.

»Erzähle doch!« rief Faline außer sich.

»Oh«, meinte Gobo zufrieden, »erzählen könnte ich tagelang und käme nicht zu Ende mit allem.«

Bambi drängte: »So erzähle doch!«

Gobo wandte sich zu Faline und wurde ernst. »Lebt die Mutter noch?« fragte er zaghaft und leise.

»Ja!« rief Faline munter. »Sie lebt . . . aber ich habe sie jetzt lange nicht gesehen.«

»Ich will gleich zu ihr!« sagte Gobo. »Kommt ihr mit?«

Und sie gingen.

Auf ihrem ganzen Wege sprachen sie nun kein Wort mehr. Bambi und Faline fühlten Gobos ungeduldige Sehnsucht nach der Mutter, deshalb schwiegen sie jetzt beide. Gobo schritt eilig voraus und blieb stumm. Sie ließen ihn gewähren.

Nur manchmal, wenn er blindlings an einer Wegkreuzung vorbeilief, immer geradeaus, oder wenn er in plötzlicher Hast eine andere Richtung einschlug, riefen sie ihn ganz leise. »Da!« flüsterte dann Bambi. Oder Faline sagte: »Nein . . . jetzt hier herum . . .«

Ein paarmal mußten sie über weite Blößen. Es fiel ihnen auf, daß Gobo niemals am Rande der Dickung stehen blieb, niemals auch nur einen Augenblick sichernd umherspähte, ehe er ins Freie trat, sondern ohne alle Vorsicht einfach hinauslief. Bambi und Faline wechselten erstaunte Blicke, sooft das geschah. Aber sie sprachen kein Wort und folgten Gobo ein wenig zögernd.

Lange mußten sie so umherwandern und suchen, kreuz und quer.

Auf einmal erkannte Gobo die Wege seiner Kindheit wieder. Er war ergriffen; er bedachte nicht, daß Bambi und Faline ihn geführt hatten, schaute sich nach ihnen um und rief: »Was sagt ihr, wie gut ich hierhergefunden habe?«

Sie sagten nichts. Sie sahen nur wieder einander an.

Bald darauf kamen sie zu einer kleinen Laubkammer. »Hier!« rief Faline und schlüpfte hinein. Gobo folgte ihr und blieb stehen. Es war die Laubkammer, in der sie beide zur Welt gekommen waren, in der sie als kleine Kinder mit der Mutter gewohnt hatten. Gobo und Faline sahen einander nah in die Augen. Sie sprachen kein Wort. Faline küßte den Bruder leise auf den Mund. Dann eilten sie weiter.

Sie gingen wohl noch eine Stunde hin und her. Die Sonne schien immer heller und heller durch die Zweige, der Wald wurde stiller und stiller. Es war Zeit, sich hinzulegen und zu ruhen. Aber Gobo fühlte sich nicht müde. Er schritt hastig voraus, atmete schwer vor ungeduldiger Erregung und schaute planlos um sich. Er zuckte zusammen, wenn ein Wiesel unter ihm durch die Grasbüschel hinwischte. Er trat beinahe auf die Fasanen, die sich eng an den Boden drückten, doch wenn sie mit lautem Flügelknattern und scheltend vor ihm aufflogen, erschrak er heftig. Bambi wunderte sich, wie fremd und blind Gobo einherging.

Gobo hielt inne und wandte sich zu den beiden. »Nicht zu finden!« stieß er verzweifelt hervor.

Faline beruhigte ihn. »Gleich«, sagte sie gerührt. »Gleich, Gobo.« Sie sah ihn an. Er hatte wieder das mutlose Gesicht, das sie so gut kannte.

»Sollen wir rufen?« sagte sie lächelnd. »Sollen wir wieder rufen . . . wie früher, als wir noch Kinder waren?«

Bambi aber ging weiter. Nur ein paar Schritte. Da erblickte er Tante Ena. Sie hatte sich schon zur Ruhe niedergetan und lag still im Schatten eines Haselbusches, ganz nahe.

»Endlich!« sagte er vor sich hin. Im selben Moment kamen auch Gobo und Faline. Sie standen alle drei nebeneinander und sahen zu Ena hinüber. Die hatte still das Haupt gehoben und schaute ihnen schläfrig entgegen.

Gobo tat ein paar zögernde Schritte und rief leise: »Mutter!«

Wie von einem Donnerschlag emporgerissen, war jetzt die Liegende auf ihren Beinen und stand wie festgemauert. Gobo sprang rasch zu ihr: »Mutter . . .« begann er wieder, wollte sprechen, konnte aber kein Wort hervorbringen.

Die Mutter sah ihm nahe in die Augen. Ihr starres Dastehen begann sich zu lösen; sie zitterte so, daß es ihr Welle um Welle über Schultern und Rücken lief.

Sie fragte nicht, sie verlangte nicht nach einer Erklärung, nicht nach Erzählung. Langsam küßte sie Gobo auf den Mund, küßte seine Wangen, seinen Hals; unablässig wusch sie ihn mit ihren Küssen, wie einst in der Stunde, in der sie ihn geboren hatte.

Bambi und Faline waren weggegangen.

 


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