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Das Bergwerk

Träge kroch der Zug durch den Oktobernachmittag und rollte und rasselte unmutig durch den Regen, der seinen weißen, quirlenden Atem zerfetzte und in weißen Brocken auf die Felder warf. In einer Ecke des niedrigen und schmutzigen, hin und her schwankenden und stoßenden Wagens hockte Erich und sah gedankenlos die regenglänzenden Äcker und verschlafenen Gehöfte vorüberziehen – faul und eintönig kamen sie an, faul und eintönig flossen sie wieder zurück in den Regen.

Alle paar Minuten hielt der Zug, und alle paar Minuten schoben sich neue regentriefende Gestalten in den überfüllten Wagen. In schwarzen Klumpen standen sie um ihn, dufteten nach Schnaps und Tabak, und ein widriger Geruch stieg von ihren durchnäßten Kleidern hoch. Aber sie fühlten sich wohl, es war warm und roch nach Menschen und Fusel, und sie konnten sich reden hören; und als ein halbwüchsiger Bursche eine Harmonika hervorzog und aus ihr den neuesten Operettenquark zerrte, und sie gröhlen und mitsingen konnten und Zoten machen, da war Sonntagnachmittags- ach ja Feiertagsstimmung im Wagen.

Er blickte auf sie hin und sah dann wieder hinaus auf die trüb und grau vorüberziehende Welt. Dunkler wurde es, und heftiger schlug der Regen gegen die Fenster.

Aus der Winkelgröße der Rillen, die die herabfließenden Regentropfen auf dem Fensterglase ziehen, und der Geschwindigkeit des Zuges muß sich die Fallgeschwindigkeit der Regentropfen annähernd berechnen lassen.

Und er fing an, auf einem Bogen Papier, in den er des Vormittags sein Frühstück eingeschlagen hatte, Formeln und Zahlen zu schreiben, bis er sich auf die Lippe biß, das Papier zerfetzte und wieder vor sich hin starrte. Plötzlich öffnete er das Fenster und warf Papier und Bleistift hinaus.

Dunkler wurde es, und wie eine Wolke brütete und lastete der Dunst der zusammengepferchten Menschen in dem Wagen, ein trübes Licht flackerte an der Decke und malte die bleichen und alkoholgeröteten Gesichter, die aus dem Klumpen starrten, zu brutalen und geistlosen Fratzen; sie redeten nicht mehr – was sollten sie reden? sie gröhlten nicht mehr – was sollten sie gröhlen? Sie starrten vor sich hin, und weiterging es durch die Nacht und den Regen.

Die Arme auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen vergraben, saß Erich da.

Vor einem Jahr, oder war's vor zweien? da ging ich mit einem Mädel, wie hieß die noch? an der Saale entlang; den Giebichenstein, an dessen Wand der Efeu im Winde wogte wie ein Kornfeld wogt, gingen wir hinauf, und als wir uns über die Brüstung lehnten und in den Abend hinaus blickten, da sprach sie ein Gedicht – von einem Jüngling, der noch nie die Sonne gesehn hatte und starb, als er sie sah – wie hieß das dumme Ding?

Inzwischen hielt der Zug von Minute zu Minute, rollte und stieß von Weiche zu Weiche, ein Licht nach dem andern huschte vorbei, gelb und verwaschen oder grell und geisterhaft blau – die Industrie nahte. Da wachte er aus seinem Sinnen auf, blickte wie aus einem fernen Traum erwacht im Wagen herum und auf die Lichtkleckse und Regenbogen, die die vorbeihuschenden Lichter auf die Scheibe warfen, dann verdüsterte sich sein Gesicht; er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Räder stampften und dröhnten rhythmisch unter ihm hin, Ruß und Regen schlug ihm ins Gesicht, und aus dem Dunkel fuhren ihm Schatten entgegen, glotzten ihn mit glühenden Lichtern an und bäumten sich hoch, als würfen sie sich über ihn, und rissen sich wie ein Blitz wieder zurück in die Nacht und hinter ihnen wälzten sich Schlackenberge, unter deren Kruste es noch glummte und glühte, und Erzhalden, die grau und gelb und seltsam stumpf im Regen glänzten, wälzten sich wie ungeheure gläserne Walfische heran, vorbei und die Seilbahnen, an denen die Wagen wie närrische Kinderspiele glitten, drehten sich und kreisten und fuhren plötzlich himmelhoch in die Luft, in die die Hochöfen mit ihren feurigen Zungen drohten und leckten – ein Knäuel wassertriefender schwarzer Bollwerke und kleiner rundkuppliger Türme, die tanzen einen wilden grotesken Tanz, rote Strahlen zischen jäh aus ihnen hervor, sprühen in schimmernden Feuergarben hoch und in Feuer und Dampf hüllt sich die zischende Bande – das stampft und zischt und dröhnt, das wallt von Dampf und Qualm und Rauch und wirft mit seinen wilden Lichtern in die Nacht, die schwarz und drohend über diesem Allen hängt und selbst wie erbost und zuckend über diesem dröhnenden und gellenden Hexenkessel liegt.

Das schlägt und stört die Stille der Nacht – wenn nur die Narren einsehen wollten, wozu? Einsehn? Einsehn? Hab ich noch nicht genug davon! Das hat mit Einsehn nichts zu tun; das ist Geld, das ist Wille und Macht; das ist der werdende Krieg, hier wird er geboren, der sich selber noch nicht kennt, bis er eines Tages Mann geworden und ausbricht tobend, brüllend, ein höllischer Taifun! Wie das flammt in der Nacht, wie das mit seinen breiten Lichtfäusten in den Himmel schlägt und lacht! Wirf dich hinein, tose und rolle mit, nicht rechts, nicht links – geradeaus! Ein Zahn in einem Rad dieser brodelnden Höllenuhr, die da Lichter und Donner in die Nacht wirft, ist mehr als der schillerndste Gedanke und die tiefgründigste Erkenntnis. Schlag zu! Werde Eisen und Wille und Zahn! Eisen, das ist's; gefühllos, skrupellos, nicht rechts, nicht links, ein Hieb, ein Schlag, ein Glühen! Eisen, das ist's, Geld, Gold – Krieg!

Bravo, alter Zaubermeister, nun lüge dir wieder vor, daß das, was du nicht ändern kannst, wozu dich bittere Not und Verzweiflung und Flucht vor dir selber treibt, das Allerschönste und Allerwahrste ist. Du bist auf dem besten Wege dazu, du bist und bleibst Hanswurst, du Narr und Wahrheitsfatzke. Was nichts ist als Arbeit und Not, nichts als hetzendes und gehetztes Geld, das – schlägt mit seinen schönen breiten Lichtfäusten in die Nacht, das ist ein Zauberhexenkessel, wie's auf der Bühne und im Märchen steht – o du Schönheitsfatzke und feiger Patron!

Aber seine Augen mochten sich nicht trennen von dem Glühen und höllischen Leuchten. Dann lachte er hell auf und warf sich zurück in seine Ecke und wußte nicht, sollte er sich nachher betrinken oder sich gleich aus dem Wagen werfen. Auf einem schmutzigen kohlenstaubschwarzen Bahnhof stieg er aus und drängte sich robust durch das Geschiebe trunkener Bergleute und Polen ins Freie.

Er hatte nicht weit zu gehen; er hauste mitten drin in dem Dröhnen, dem Qualm und Schmutz. Vor Jahren hatte da ein ärmlicher Kohlgarten um einen noch ärmlicheren Kotten sein verschlafenes Dasein gefristet; aber während das Eisen und das rollende Geld ins Land kam, und seine Nachbarn ihr Stück Boden zu klingender Münze gemacht hatten, blieb der Philemon dieses melancholischen Kohlkottens fest und sah geruhig zu, wie die Schlote und rauchenden Ofen ihm näher rückten und ihn schließlich umkreisten und umqualmten. Und als er starb, ließ man die zusammenbrechende Hütte stehen, man vergaß sie, und hier schlug Erich sein Heim auf. Im unteren Stock hauste eine Polenfamilie, oder waren's ihrer zwei? Er wurde nicht klug daraus; wie er auch nicht klug daraus wurde, zu wem der Haufen dreckiger Kinder gehörte, der da ewig lärmte und sich balgte. Sie wußten's wohl selber nicht, falls es zwei Stammväter und Mütter waren, sie hatten ihre Zeit um zwei Jahrtausende zurückgedreht und lebten in ewig sich prügelnder und ewig sich im Schnapsdusel versöhnender Güter- und Weiber- und Kindergemeinschaft. Die oberen zwei Giebelkammern bildeten sein Quartier und das zweier Bauernsöhne, die ein Jude und ihre Spekulationswut von ihrem Höfchen vertrieben und der Kohle in den Rachen gejagt hatte. Sie hatten sich eines Sonntags eine Polin heraufgeholt, die ihnen Bettgenossin und Aufwärterin wurde und ihnen des Morgens die Henkeltöpfe mit Kartoffeln und Fleischbrocken füllte – was war dabei?

Es ist Sonntag heute, ach ja Feiertag, und Feiertag heißt Glück, und die Quintessenz des Glücks ist Schnaps, eine Harmonika und, wenn es sich selbst übertrumpft, ein Grammophon. Vielleicht sind sie aber gesunder als ich, dachte Erich als er die unbeleuchtete und brüchige Leitertreppe hinaufstieg und das Dudeln einer Harmonika und patriotische Krächzen eines Grammophons an sein Ohr klang, vielleicht war ich nur krank, mein ganzes Suchen eine fixe Idee, ein Krampf meines Körpers, dem die Arbeit fehlte und der sich da in theoretischen Parorismen erging. Die da sind glücklich, sind Tier wie's sich gehört – wohlan! werde ich Tier. –

Als er in das Zimmer trat, sah er auf dem Tisch in einem winzigen Holzbauer einen Kanarienvogel hocken und mit ängstlichen Augen in das Licht blinzeln und auf das Heer von leeren und halbleeren Bierflaschen, die rings um ihn aufgefahren waren; der Schnaps fehlte nicht, und auf der Ecke des Tisches schnarrte neben einem Strauß knallroter Papierblumen das Grammophon einen Parademarsch.

Da feiert einer seinen Namenstag; sie haben auch Gemüt, was willst du mehr?

Er legte einen Taler auf den Tisch, setzte sich zu ihnen und machte mit. O, es ging hoch her; und die beiden Dirnen sahen nicht übel aus, breithüftig und jung und zu allem bereit. Er redete irgend was und trank und blickte dann wieder starr auf den verschüchterten Vogel. Was plustert der gelbe Spatz sich auf! Was denkt er wohl von uns! Aber sie lachten ihn aus und die Burschen füllten von neuem sein Glas. Da zog er eine zu sich heran, ihre Bluse war offen, da fuhr er mit seiner Hand hinein und legte sie um ihre kräftige Brust und sang und trank und merkte, wie er betrunken ward und doch nicht vergaß.

Als gegen Mitternacht die beiden Dirnen verschwunden und die beiden Burschen mit ihrer Polin in das Schlafzimmer getorkelt waren, machte er auf dem Sofa sein Lager zurecht, streckte sich hin und starrte ins Licht. Der Kanarienvogel hatte sich noch mehr aufgeplustert und blickte mit bangen Augen bald in das Gesicht des Menschen, der da auf dem Sofa lag, und bald in das blendende Licht.

Sie starrten beide so lange ins Licht, bis Marinka aus dem Verschlag trat, in dem sie sonst mit den Burschen schlief; sie hob wie geblendet die Hand vor die Augen und machte sich nichts daraus, daß ihr das Hemd von der Schulter sank.

Das fehlte noch. –

Und er rief sie mit heiserer Stimme zu sich. Da setzte sie sich zu ihm und er streifte ihr Hemd vollends bis zum Rock herab, dann löschte er ängstlich das Licht.

Als er am nächsten Morgen aufwachte, lag der Kanarienvogel tot in seinem Bauer. Da nahm er den Käfig und warf ihn aus dem Fenster –:

Nun mögen die Bälge von unten sich an ihm traktieren. He! Marinka! –

Als er dann von ihr zur Grube ging, füllte sie dankbar seinen Henkeltopf mit den besten Stücken. So war ihr geholfen; denn sie hatte nun auch den zum Geliebten, der sich bis jetzt gegen sie gesträubt hatte, und ihm; denn er bekam von den dreien das beste Essen. Er bemerkte es wohl und hinderte es nicht.

Aber nach einiger Zeit verließ er sie und ihre beiden Genossen, da er keine Lust hatte, sich an der Auseinandersetzung über die Vaterschaft an dem Kinde, das Marinka erwartete, zu beteiligen.

Ich habe noch nicht den Mut, eventuell meinem eigenen Kinde in die Augen zu sehen, meinte er. Marinka und die andern beiden lachten ihn aus, aber er ging und mietete sich bei irgend einer Witwe ein und lebte mit ihr.

Denn die Dirne gehört mit zum Schnaps, soll das Glück vollkommen sein. Es ist ja nicht gerade Glück, es ist so, als wenn man einen brennenden Stollen zumauert, damit die Glut nicht ins Freie dringt und Unheil stiftet. Aber hinter den Mauersteinen brennt's noch jahrelang, immerfort – wehe, wenn es die Mauern zerreißt und ins Freie schlägt! Aber ich werde es schon bändigen und eindämmen, ich werde schon Stein auf Stein über mich schütten.

Doch nach einiger Zeit verließ er wieder dieses Weib, er wechselte oft. Denn sie liebten ihn alle. – Ich bin noch immer auf der Flucht vor mir, es fällt erbärmlich schwer – und dann schloß er sich in seiner Weise irgend einer Dirne oder einem Lumpen an. –

Inzwischen ging die Zeit dahin, und der Winter spannte schon wieder gelassen seine sternhellen Nächte über das rauchige Land, das da zwischen Ruhr und Rhein seinen Boden zerreißt und seine Menschen zu Sklaven und Maulwürfen schlägt; er kommt ungern von den Feldern und Wäldern des Ostens hierher, aber jetzt hing Nacht für Nacht sein diamantenfunkelnder Deckel über dem brodelnden und zischenden Hexen-Gold-Kessel. Böse Nächte waren das für Erich, er mochte die Sterne nicht sehen und zog die Stirne kraus oder sang laut ein Hurenlied.

Aber eines Tages hielt er es nicht mehr aus, sondern setzte sich hin und schrieb einen Brief, in dem er den Eltern seine Vermählung mit einer aus dem Arbeitshause entlassenen Dirne mitteilte.

Wahrlich schwer fiel diese Lüge, sagte er, als er den Brief besorgt hatte, aber es soll das Weihnachtsgeschenk sein, das ich mir beschere. Denn jetzt soll die letzte Brücke brechen – wir halten den Damm schon fest! –

Dann lachte er vergnügt, pfiff ein Lied und ging seinen Weg.

Und wirklich, wenn er jetzt des Nachts seinen Arbeitsweg ging und über ihm die Sterne blinkten, sah er sie nicht und dachte nicht an sie, die ewigen Versucher und Verführer zu den Abwegen und Abgründen des Denkens, sondern dachte an das Leid, das er durch jenen Brief geschaffen hatte. Lieber grub und bohrte er in seiner Wunde, als daß er des Rätsels der Gravitation gedachte, an das sich für ihn sogleich der ganze Teufels-Rattenschwanz uralter Rätsel und aller Lösung lachender Fragen schloß. Ich halte den Damm schon fest!

Und er hielt ihn fest, bis auch durch diese Welt von Kohle und Eisen und Geld und wieder Geld das Kinderlied von Weihnachten betteln ging.

Um zwei Uhr Mittags war er mit seiner Belegschaft zu Tage gefahren und schlenderte nun am Heiligabend durch die Straßen, von einer bösen Unruhe geplagt. Die Fabriken ruhten, nur in den Hochöfen schmolz der Koks das Eisen, und der Schnee, der am Vormittag gefallen war, blieb auf den Dächern liegen und hing an den Schloten, ohne wie sonst gleich von einer schwarzen Ruß- und Staubschicht bedeckt zu werden. Auf den Straßen ward er zu einer schwarzen glitschigen Masse, aber er gefror schnell und zerbrach dann klirrend unter dem Fuß. Der Himmel klärte sich auf, er hing gelbgrün und von braunroten Wolken durchflogen über dem fremdartigen Winterbild von verschneiten Zechen und Schloten und verhieß eine klare und kalte Nacht.

Vor einem Schaufenster stand Erich, er lachte laut, als er sah, daß es ein Juwelierladen war.

Soll ich ihr was schenken?

Das war ein sechzehnjähriges Mädel, das er für die Tage, die seine Witwe verreist war, zu sich genommen hatte.

Das fehlte noch! Schenken, um sich an der Freude der Beschenkten zu freuen! Einem andern eine Freude machen, um selbst unter dieser Freude zu leiden, das war etwas. Nein, dann würde man sich noch über sein Leiden freuen und sich darauf etwas zugute tun. Man kommt nicht heraus, verflucht.

Und er bohrte die Hände in die Taschen und schlenderte weiter, bis er ins Freie kam; und hier rastete er erst, als er vor sich mitten im Felde die Reste eines Dorfes sah, das wegen Einsturzgefahr verlassen war. Zerfallene Häuser, herausgefallene Fensterläden und eingestürzte Mauern, Schutthaufen und mit Wasser gefüllte Senkungen, und über Allem Schnee und Winterhimmel. Die Sonne aber hatte gerade mit ihrem unteren Rand den Horizont erreicht und rosa Schatten über den Schnee geworfen.

Nicht weiter, Lieber! Das spukt und gespenstert hier wieder nach Schönheit und Wehmut, und du weißt, welche Teufel dahinter auf dich lauern. Hüte dich, geh heim, süßer Hanswurst.

Doch er trotzte und lehnte sich an eine Weide, die da stand, und sah der Sonne zu, wie sie unterging, wie der Himmel bleicher wurde und bläuliche Schatten über den Schnee liefen. Ein Hund, den Hunger oder Erinnerung trieb, strich in diesem Augenblick um das verlassene Dorf.

Oh, ich habe nie mit ihr zusammen den Schnee gesehn! Ich habe nie mit ihr – – willst du heim, du toller Hund!

Da machte er kehrt und lief zurück und ward ihr Bild und ihre Augen erst los, als er für einen Augenblick in eine Schenke trat; dann schlenderte er weiter und ging nach Haus. –

Ei, Konkubinchen ist ausgeflogen, das Nest des Weihnachtsprinzen ist leer. Träumen wir von ihr, träumen wir von euch beiden, von der da draußen im toten Dorf, um das der Hund streicht, und von diesem Hürchen, das fortflog wie ein Vogel, den ich mir gefangen. Träumen wir von zu Hause, vom Weihnachtsbaum und Mütterlein, träumen wir von Sonne und Sternen und blinkenden Rätseln. Vom Bergmann wollen wir träumen und von der pfründigen Professur, vom Schläger – ei ja, ich schwang den Schlager gut, doch jetzt wurde ein Schlegel daraus; vom Grafen und Porst und der Nachtigall, o von dem grauroten Schloß und von Sternen und Rätseln, o blinkende Sterne!

Da erblickte er in einem Spiegel, der ihm gegenüber hing, sein Bild und nahm ihn von der Wand und warf ihn gegen den Ofen, und es dauerte nur eine kleine Weile, da hatte er die Töpfe und Gläser, die da zu finden waren, zertrümmert und hatte seinen grimmigen Spaß dabei gehabt.

Jetzt wollen wir dem Konkubinchen Geschenke kaufen.

Und er kaufte ihr ein, soviel er tragen und zahlen konnte, doch wie er seinen Einkauf heimbrachte, war das Nest noch leer. Da machte er sich auf die Sohlen und suchte sie und fand sie in einer Spelunke am anderen Ende der Stadt, wo sie sich einen Spaß daraus machte, zwei junge Burschen gegeneinander auszuspielen und sich von ihnen betrunken machen zu lassen. Er setzte sich an einen Tisch nebenan und sah nur einmal zu ihr hinüber, gerade in dem Augenblick, wo sie ihm zum Trotz den einen ihrer Kavaliere umhalste. Dann bezahlte er sein Getränk und ging. Aber er war noch nicht weit gegangen, als sie ihn eingeholt und ihren Arm in den seinen gehängt hatte; sie sprachen kein Wort, aber im Gehen fühlte er, wie sie ihre junge Hüfte gegen die seine schmiegte.

Ich will denken, ich wäre um drei Jahre jünger, und sie trüge statt ihres Fähnchens ein blauweißes Kostüm, das ich ihr von meinem Kolleggeld gekauft habe.

Dann spielte er den Verliebten und wurde dabei selbst verliebt, und als er sie die Treppe zu seiner Stube hinauftrug, wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Dann zeigte er ihr die Geschenke und war den ganzen Abend wie ein Student, der fern von der Heimat mit seinem Ladenmädchen Weihnachten feiert. Als es kalt wurde und der klingende Frost seine Eisblumen und -Palmen ans Fenster warf, entkleidete sie sich, und es war dabei eine Unruhe und Erwartung, der die Süßigkeit des Verbotenen anhing. Und auch darauf war er nicht der brutale Narkotiker, der Vergessen sucht, sondern es schien fast so, als habe er sich und ihr eine Freude machen wollen.

Aber als sie in seinem Arm schlief, da war zwischen den Wedeln der Farn- und Palmbäume aus der Sigillarienlandschaft, die da am Fensterglas wuchs, eine Lücke geblieben, und durch diese Lücke sah man den Nachthimmel und einen einzelnen Stern. Der lockte ihn von dem warmen Mädchenleib fort in die Nacht. Behutsam schlich er von ihrer Seite, kleidete sich an und ging. Den Stern hatte er verloren, aber an seiner Stelle lockten ihn unzählige. Er eilte, und der Schnee knirschte unter seinen Füßen, er wußte nicht, wohin er ging, und er fand sich plötzlich wieder inmitten der zerfallenen Häuser und Schutthaufen des verlassenen Dorfes, um das am Abend der Hund gelaufen war. –

Der Schutthaufen, der dort aus dem Eis ragt, das die wassergefüllte Senkung überzogen, ist mein Thron und Altar. Einstürzende Häuser lauschen mir, aus Fenstern und Türen der verlassenen blicken Dunkel und Trostlosigkeit mich an. Schnee bedeckt sie und bedeckt das Feld, das diese Verlassenheit und ihren Thron in sich schließt. Es schweigt wie bei Toten, nur der Wind heult und klagt. Wie ein schwarzer Saum dehnt sich im Süden die Stadt und der Hütten und Zechen Gewirr und gleich nie ruhenden Wächtern leuchten die Hochöfen in die Nacht. – Besteig ich den Thron! –

Er glitschte hinüber über das Eis und setzte sich mitten auf die Höhe des Schutthaufens, der von dem Schnee wie mit einem Altartuch bedeckt war.

Die Wolkendecken zerriß und vertrieb der Wind, und schwindelnd blicke ich mitten in das Rätsel des Seins. In Milchstraßen und Sternbildern lodert's an mir vorüber und treibt mich und reißt mich durch seine funkelnden Nebel in Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit. O, ich weiß, was ihr wollt! Ich weiß, wohin ihr mich lockt, wozu ihr mich mit eurem funkelnden Schweigen verführen wollt! –

Lang streckte er sich über das verschneite Mauergetrümmer hin, und sein Auge verlor sich in dem Silberstaub, der da Punkt an Punkt den Himmel überwachsen hatte. Eine Stunde verrann und war nichts, denn ein blauschwarzes Dunkel, in das eine Hand silberne Funken gestreut, war nichts, denn ein sternenbestickter Hohlraum, durch dessen unermeßliches Dunkel eine Erde flog. Dann erhob sich der Einsame auf seinem Schutthaufen inmitten des Eises und hob kniend halb abwehrend, halb flehend die Hände hoch:

Glück und jeglichen Erdengenuß nahmt ihr mir, ihr locktet mich auf Wege, die zum Wahnsinn führen und Fluch, und die ihr Opfer nicht lassen aus ihrem höllischen Zauber. Seht, nun bin ich zum Tier geworden, zum Weniger-als-Tier, das Rettung vor sich sucht in Straßenfreuden und Straßenschmutz. Nun laßt mir dies! Laßt mich Tier bleiben und lockt mich nicht fürder mit eurem blinkenden Zauber und höllischen Rätseln – laßt mich nicht wahnsinnig werden, ihr ewigen Götter! –

Der Wind ist kalt und heult wie ein hungriger Wolf in der Nacht, und wie sie blinken und blitzen wie kalt, wie kalt – und ihr seid doch durch mich! Seid nichts ohne mich! Blinkt nur – ich blinke in euch. Funkelt nur – ich funkle in euch! –

Da warf er sich vornüber in den Schnee, und da er auf der Höhe des Schutthaufens lag, hing er beiderseits herab wie ein Toter.

Aber als er wieder aufstand und hoch auf seinem Schutthaufen die Faust zum Fluch gegen die Sterne hob, hörte er ein Lachen hinter sich und da er sich umwandte, siehe, da tanzte in einer Höhe, die wohl ein Kirchturm hat, ein bläuliches Gewirr von geometrischen Figuren und mathematischen Symbolen. Das schwirrte und raste um sich, sinnverwirrend. Dann wandelte es sich mit einem Male gemächlich in einen phosphorfarbenen Kreis, in dem ein Quadrat hing. Der Wind aber hatte inzwischen sein Heulen unterbrochen und die Nacht schwieg wie erstarrt. Da hörte er es sprechen:

Wir sind durch dich? Sieh her, das hast du geschaffen, ohne daß Auge oder Hand oder irgend ein Außending es dich gelehrt. Das bist ganz du, nun komm und enträtsele dich. – Du Narr! Oho! Du Dreiteufelsnarr!!

Dann knallte es wie ein Flintenschuß und ward eine rollende Dampfwolke, wie die Krone einer jungen Linde groß, und höhnte und lachte und stürzte sich auf ihn – hoho! du Narr!

Er aber zog den Kopf in die Schultern und lief wie ein Hase dem schwarzen Streifen am Horizont zu und hatte ihn in mehr denn Windeseile erreicht. Als er in die erste Straße einbog und den ersten trunkenen Nachtschwärmer sah, zerplatzte mit einem leichten Knall die Dampfkugel, die ihn bis hierher verfolgt und bis auf einige Armeslängen erreicht hatte. Er aber raste weiter und kam nicht eher zur Ruh, als bis er sein Zimmer gefunden und sich fest an den jungen Mädchenleib geschmiegt hatte.

Sie hatte sein Fortgehen und Kommen nicht bemerkt und war noch wie im Traum, und da sie sein krampfhaftes Zittern fühlte, spielte sie tröstend mit seinem Haar und sagte:

Denk nicht daran. Lieber; ich weiß, was du verloren hast. Aber denk nicht daran, wir sind allezusamt arme Hunde, ach! wie arme Hunde. Nun weine nur nicht – ach! was sind wir für arme Hunde. –

Und diese läppischen Trostworte taten ihm unendlich wohl.

Die beiden nächsten Tage war er ruhig und schweigsam und ließ es zu, daß die Kleine mit einer mütterlichen Sorgfalt um ihn wirkte. Aber er duldete nicht, daß sie sich länger von ihm entfernte, und fühlte sich am wohlsten, wenn sie auf seinen Knien saß und mit seinem Haar spielte. – Aber am übernächsten Tag ging er zur Grube, es war früh am Morgen und schneite. Die Kleine, die ihn verlassen mußte, begleitete ihn bis zum Schacht; hier küßten sie sich, und von da an verloren sie sich. Es war der letzte Kuß, den Erich von Frauenmund erhielt. –

Als er mit seinen acht Gefährten im Förderkorb stand und ihre verbissenen, vergrämten und verrohten Gesichter beobachtete, mußte er des Bildes gedenken, das ihm vor einigen Tagen der Spiegel gezeigt hatte.

Nein, werde nicht ihr Kamerad! Die haben ein paar Hoffnungen verloren und sind verbittert durch Neid und Haß und Alltagsleid. Die sind fertig mit Allem, ihr kleines Leid und ihr Neid und Haß sind wie ihr Alkohol und ihre Weiber nichts denn ein Stimulanz zu ihrem weiteren Fliegenleben. Sie leiden und neiden und hassen, um zu leben, leben, um zu leben. Ich aber lebe dem Leben zum Trotz! Leid gegen Leid! Ich will doch sehen, ob mein Wille weiter geht als Leid und Rätselgeflunker. –

Ein Klingelzeichen klang, und elastisch hob sich der Korb, als zöge er tief Atem ein, bevor er den Sprung ins Bodenlose wagte, dann schwand der Boden, in den Ohren begann es zu brausen, es war, als flögen sie schwindelnd himmelan, Staubregen überfielen sie und Lichter kamen wie ein Blitz – nun fühlten sie, wie sie zur Tiefe fielen – nun wiegte und schwebte und federte der Korb – nun stieß er leise auf, und Licht ist rings.

Im Norden ist Gestein niedergegangen, und es sind Schlagwetter in der Luft, sagte jemand. Er nickte und ging schweigend seiner Arbeitsstätte zu; durch Gänge und Stollen, eine halbe Stunde weit, bis der Stollen auf das schräg aufsteigende Flöz stieß. Eine Leiter führte hinab an die hundert und mehr Meter tief, da nahm er die Lampe zwischen die Zähne und stieg in das gähnende Dunkel, über ihm hing der Schiefer glatt und grau, neben ihm surrten, von Drahtseilen gezogen, die Förderwagen auf und nieder; es ist glühheiß, und der Schweiß perlt. Licht kommt von unten – Glückauf! – und er ist angelangt.

Sein Atem geht schwer, die Luft ist dick und drückend warm, und seine Kleider sind zum Auswringen feucht. Da wirft er sie ab und arbeitet nackt. Doch die Hacke liegt heute schwer wie Blei in der Hand und prallt fast wirkungslos von den schwarzen glitzernden Bruchflächen ab. Da setzt er sich hin, lehnt sein Arbeitszeug zwischen die Knie und starrt vor sich hin. Die Grubenlampe hat er auf einen Gesteinsvorsprung gestellt und schraubt jetzt ihr Licht auf einen kleinen Funken herab – da setzt sich eine blaue handgroße Aureole dem gelben Lichtpunkt auf.

Es ist Schlagwetter in der Luft; das Barometer fiel, und im Norden, da hinten unter dem verlassenen Dorf, sind Gesteinsmassen niedergegangen. Dann tritt der Unsichtbare heraus aus seinem schwarzen Stein und schleicht durch die Gänge und Stollen, stülpt hier und da seine blaue Hand über ein Licht, und ein Funken fliegt in ihn, und mit dreizehntausend Kalorien schlägt er durch den Stollen und verbrennt und zertrümmert, was er findet.

CH 4, o ein tückischer Feind. So liegt und lauert der Wahnsinn auf den Gängen und Irrwegen des Lebens und zaubert seine blauen Aureolen und Wunderblumen, aber anstatt aus diesem Stollen zu flüchten, über dem der Wahnsinn hängt, freuen wir uns der Zauberblüten, bis der Funke in ihn fliegt und er unser Leben zerreißt und zerschlägt.

Was soll das in der Nacht und in dem Schweigen! Sieh, wie die blaue Blume da blüht und das Dunkel mich umkrallt und das Schweigen mir zuraunt. Bei der Vermoderung von Dingen, die einst gelebt, wird der Tückische geboren; aber die Deckgebirge, die die Meere über ihn gewälzt haben, halten ihn fest, bis wir kommen und sein Gefängnis lösen. Dann zischt und bläst und brodelt er aus dem schwarzen Stein und schlägt sich in Abbaue und hängt dort oben im Dunkel, hoch im Alten Mann; und kommt dann, wie heute, wo oben der Schnee fällt, aus seinen Schlupfwinkeln hervor und brütet und lauert über uns und wartet auf den Funken und schlägt dann mit seinem rasenden Druck und seinen fegenden Flammen unter der Erde her, schleudert die Wagen beiseite und preßt sie platt wie Papier, biegt und dreht die Fördergestelle zu bizarren Schlangen und Knäueln und reißt sie im blitzschnellen Rückschlag wieder zurück; und sein Bundesgenoß, der trockene Staub, bringt sein Flammen und Rasen von Sohle zu Sohle – die Grube brennt! Dann stehen sie da oben am Tage und ringen die Hände und sammeln und senden Depeschen, aber was er und der Brand noch nicht erschlagen hat, das würgt nun der Schwaden – kein Leben mehr zu Berg, denn den Sauerstoff hat Er mit seinen zwei Riesenflammen verzehrt. O, es ist ein braver Feind, o das ist Lust, das ist Reiz! –

Reiz? Der Reiz ist die Dunkelheit, die Grabesabgeschlossenheit und das ewige Schweigen. –

Siebenhundert Meter unter der Erde, im Stein und ewigen Schweigen vergraben – warum kein Grab? Denn es ist nicht Genuß – der blinde frißt sich selber auf; es ist nicht Kunst – die feige scheut die Wirklichkeit; es ist nicht Liebe – die faule will nur Ruh und Rettung vor sich; es ist nicht Macht – die wilde wird zum Knecht des Erstrebten; und es ist Alles zusammen nicht, was mich halten könnte, denn Alles zusammen muß. Es ist das Einzige der Stolz und Wille zu sich und eine Mauer von Eisen um mich und eine Mauer von Stein in mir. Das ist's. Siebenhundert Meter unter der Erde, im Stein und ewigen Schweigen vergraben – warum kein Grab?

Und weiter lauschte er dem Schweigen, fühlte die Wucht des Berges über sich und gedachte seiner Kindheit und Jugend und ihrer unentwirrbaren Narrheit und Sinnlosigkeit – Zwei Mauern, eine von Eisen und eine von Stein, das ist's!

Dumpf schlug das Echo zurück und rollte dröhnend und drohend in das Dunkel, das da oben wie ein Riesenauge auf ihn stierte. Und näher kam es und schlich auf lautlosen Tigertatzen Schritt vor Schritt gegen ihn und – krallte sich mit einem Sprung auf ihn und würgte ihn. Da blickte er sich um, da kroch es fletschend zurück und stierte wieder von oben mit seinem gierigen Auge auf ihn und langte und langte und suchte das Licht zu stürzen – da fühlte er und hörte das Schleichen der Kralle und blickte hin und sah das Licht im Drahtkorb flackern und wogen – das Schlagwetter kommt!

Er nahm das Licht und umhüllte es, dann blickte er dem Dunkel fest ins Auge, ergriff seine Hacke und huschte die Leiter empor.

Er rannte und brüllte, aber als er halbwegs den Schacht erreicht hatte, hob es ihn wie eine Feder hoch und warf ihn krachend gegen den Stein, und eine rote Flamme fegte über ihn und noch eine, und ein Sturm kam und rollte ihn wie einen Wolleflausch zurück, dann ward es Nacht. –

Als er erwachte, sah er sich in einem weißen Saal liegen, sein Kopf war verbunden und sein Rücken brannte wie Feuer, und viel Stöhnen und Jammern kam aus den Betten, die um ihn standen. Und nach einigen Tagen hörte er, daß jene zwei Flammen, die über ihn gefegt waren und der giftige Schwaden, der ihnen nachgekrochen war, dreihundertundvierzig Mann gefressen hatten. –

Im Frühjahr verließ Erich das Krankenhaus; er war kahlköpfig geworden, und seinen Rücken deckte eine purpurrote glatte Haut. Nach einigen Tagen fuhr er wieder zu Berg und war nun, was er wollte, ein Zahn in einem Rad der brodelnden Höllenuhr, die da Lichter und Donner in die Nacht wirft und in sich den Krieg gebiert. Seine Augen blickten hart, und sein Gang war breit und fest. Der Weiber und des Schnapses bedurfte er nicht mehr, aber die Streiks machte er mit und redete mit in den harten und verbissenen Versammlungen, und freute sich, mit schneidenden und kühlen Worten die Instinkte derer, die da an seinen Lippen hingen, kitzeln und aufpeitschen zu können, seine Macht von neuem zu fühlen und sich seiner Menschenverachtung abermals bewußt zu werden.

So lebte er lange Jahre, zur Heimat fuhr er nicht mehr; nur im Herbst kam ihm wohl ein Sehnen, weiche Herbstzeitlosen in seiner Hand zu halten und sie Blume für Blume in einen regengeschwollenen Bach fallen zu lassen – den Narren, den Komödianten zu spielen! So überwand er es und mit jedem Jahr ging es leichter. Zwei Mauern, eine von Eisen und eine von Stein!

Und die Sehnsucht – – –


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