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Der dunkelblaue Enzian zum zweiten Mal

Vom nächsten Tag war in Erichs Tagebuch zu lesen:

Morgen ist Kilian! Drei Tage Kilian! Volks- und Schützenfest auf historischer Grundlage! Meine Herrschaften, das muß man gesehen, das muß man gehört haben – jede Nummer gewinnt! Zehn Pfennige Einsatz! Nur zehn Pfennige! Hau den Lukas! – Holla! Böllerschuß und Tschingdara und Zapfenstreich!

Und auf der andern Seite:

Sonntag, den ersten Kilianstag. Drei Schöne habe ich aufgebracht! Die eine zwischen den Gärten; zuerst stahl ich für sie Birnen, dann knöpfte ich ihre Blouse auf und hinter einer Hecke kam sie zu Fall – Winden knüpfte ich um ihre Schenkel; ich wette, sie trägt sie noch. Die zweite fiel am Nachmittag, beim Tanz; ihre Brüste hüpften wie ein Paar Melonen – da führte ich sie ins Korn. Von der dritten komme ich her – die hatte den Teufel in den Beinen.

Und auf der nächsten:

Montag, den zweiten Kilianstag. Heute werde ich saufen gehn.

Und auf der vierten:

Dienstag, den dritten Kilianstag. Als ich meinen Kater vertrunken hatte, geriet ich an einen Ingenieur. Wir saßen auf dem Thron, er hatte eine Rede gehalten und versuchte uns nun mit einer Erklärung der Kilowattstunde zu düpieren.

Zuerst amüsierte es mich, ihm zuzuhören, dann aber mußte ich einer Erscheinung gedenken, die mich zuweilen überfällt: Es stößt mir wohl zu, daß ich mir plötzlich vorkomme als ein wie aus allen Himmeln Gestürzter, daß ich einen Baum, eine Blume, besonders eine Hecke mit fremden Augen und maßlosem Erstaunen, mit einer betroffenen Bangigkeit anblicke und ängstlich zu mir spreche: was ist das?

Ich liege an dem besonnten Abhang eines Hügels und in der Ferne glänzt ein Strom – da fällt mein Blick von den Wolken und Schwalben fort auf die vanilleduftenden Strahlenblüten einer Fetthenne. – Und plötzlich schiebt es sich wie eine Wand zwischen mich und die geschauten Dinge, daß ich sie nun als etwas Nie-Gesehenes, Unüberbrückbar-Fremdes, nie zu deuten Wunderbares ansehen muß. Die Namen, die wir über sie geworfen haben, verfliegen, und ich stehe nun den Namenlosen gegenüber – einsam, unausdenkbar verlassen, in einer unerhörten Welt, von einem rätselhaften Grauen gepackt: was ist das?

Und da erinnere ich mich, wie wir einmal die fetten Blätter solcher Sedumarten zerdrückt und in dem grünlichen Schleim die Chlorophyllkörner und Kerne gesucht haben:

Und das Graue, meine Herrn, ist jenes Plasma, das uns alle aufbaut. Fügen Sie etwas Quecksilberoxydul hinzu – Sie werden sehen, es färbt sich ziegelrot. –

Da haben sie die Pflanze zerschnitten, zerfasert, zerquetscht und verbrannt und haben gefunden, daß dieses Ding da, das sie Sedum telephinum nennen, besteht aus dem und dem, seine spezifischen Eigenschaften sind die und die, und es wächst und blüht dann und dann, und so und so, und da und dort. Derart haben sie es erkannt und als etwas so Erklärtes und Erkanntes ihrem Schema einverleibt; sie kennen seinen Stoff, seine historisch gewordene Form und seine, kausal gedachten, physiologischen Eigenschaften; dieses dann mechanisch-mathematisch geordnet bildet die Wissenschaft über die Knollige Fetthenne, und diese Wissenschaft schließt kühn in sich Philosophie und wenn du willst, Religion, Ästhetik und Politik.

Aber mich trennt in diesem Augenblick eine unüberbrückbare Kluft von dem da vor mir, etwas wie Ehrfurcht und Grauen und das herzklopfende Bewußtsein meiner kläglichen Einseitigkeit, Kurzsichtigkeit, Subjektivität und absoluten Unfähigkeit hält mich gebannt, bis es schließlich mich hinwegstürmen heißt zurück in die schwankend-feste Wortwelt der Menschen. –

Und doch ist dieses Leben und sein Bild, die Gedanken und das Rätsel, die es in mir auslöst, der Ausfluß einer Welt – und doch trennt mich von ihm eine solche Kluft.

Aber ich muß die Wand wegschieben, muß sie überspringen – aber wie? –

Ein Joule ist nun gleich zehn hoch sieben Erg, und ein Erg ist die Arbeit, welche ein Dyn – – höre ich den Ingenieur.

Alles blühender Blödsinn! –

Was? Ich? –

Ja Sie! – Glauben Sie nicht? –

Und zur Bekräftigung und da es gerade Kilian ist, schlage ich ihn ins Gesicht. – Der Thron fährt hoch, die Adjutanten und Kellner springen – doch ich wehre die nächsten ab und verlasse mit dem Gefühl eines genossenen ungeheuren Spaßes das lamentierende Zelt. – Den Abend war ich wieder da, tanzte und trank – der Ingenieur sah mich scheel an und kniff. –

Und auf der folgenden:

Diese vier Tage haben mir gut getan. Keiner wußte, was er von mir denken sollte, da wurden sie beleidigt, und es ward eine große Prügelei. Aber ich fange wieder an, klarer in meiner Welt zu sehen; jetzt noch ein langweiliger Tag und eine tiefe Nacht – dann gehe ich auf Jagd: den alten Gang, nach der Jägereiche zum Enzian. –

Und unter dem Datum des letzten Augusttages schrieb er auf:

Vorgestern war ich unterwegs, und jetzt ist die Beute sortiert. – Es war um den beginnenden Nachmittag, als ich meinen Enzian fand und so lange in seinen dunklen Kelch schaute, bis mir nur noch so war, als sänke hier und da leise ein herbstlich purpurnes Blatt des Faulbaums oder auch das ziegelfarbene einer Zitterpappel zu Boden, als schrie fern vielleicht ein Häher und zögen hoch über mir die weißen Wolken – – –

Mit Hilfe deiner heiligen Dreieinigkeit, mit Zeit und Raum und Ursächlichkeit, du Narr, schaffst du und bist du die Welt.

Deine Zweifel sagen: diese Dreifaltigkeit und die Fähigkeit, durch sie die Welt zu schaffen, ist geworden – folglich dienen sie deinem Bauch und nicht dir, du Narr, und um die Welt zu erkennen.

Was aber zweifelt hier, was fällt hier ein Urteil über ein anderes? – Du über die Welt, wie du sie geschaffen hast und bist – du über dich: kann nun ein Ding über sich – und nicht nur über sich – etwas aussagen, das etwas anderes als es selbst ist? Kann der Geist mit Hilfe der Logik, d. i. durch sich über sich urteilen? zumal – wenn er tatsächlich geworden ist – seine Prinzipien höchst wahrscheinlich nicht geworden sind, um ein Organ einer adäquaten Erkenntnis zu werden? – Und sagst du: Gut, aber die Dinge, wie sie sind ohne meine zutuende Vermenschlichung – was weißt du von denen?

Urteile und zweifle, soviel du willst – so sagte der Enzian – du bleibst in deiner Welt. –

Aber es sagt mir jeder Nerv, jeder Knochen – ich bin heraus aus meiner Welt, ich kenne sie nicht mehr, glaube ihr und mir nicht mehr, traue mir nicht mehr – ich bin mir selber fremd geworden! Ich bin nicht mehr der verbummelte Student, ich bin ein Zwitterding, bin nichts –.

Ja, wenn dich die ganze Gattung, die ganze stiere dumme Herde mit ihrem gemeinsten und verrücktesten Triebe packt, wie willst du da noch eine eigenartige Welt sein? –

Wie kann Liebe so große Dinge tun! Liebe ist –

Nun, was ist sie? – lautete die kleine Teufelsglocke – du wußtest es; Plasmagebilde, nicht wahr, du Superkluger? Soviele Individuen, soviele Welten gibt es zwar, aber jede ist gleichzeitig ein Teil der andern. Jede ist auf tausend andere verstreut, wird durch tausend andere erbaut und baut mit an tausend anderen und langsam, ihr selber unmerklich, wird sie ihr Eigenes verlieren und sich in ein Produkt der andern verwandeln.

– Siehe den freiwilligen Einsiedler, den eigensten, freiesten Menschen, die in sich harmonischste Welt. Weshalb bist du nicht Einsiedler geworden, Erich? –

Und jetzt sieh Mann und Weib, um die der Geschlechtstrieb sogleich eine gegen andere Einflüsse schützende Ringmauer schlägt – nimm zwei Menschen mit eigenem Geist und machtbegehrlichem Willen und lasse sie in jener Ringmauer zu ihrem Turnier auf einander los: und kommt es nach prickelndem Kampf zur gegenseitigen Modifizierung, verknoteten Abhängigkeit, Zugehörigkeit und schließlichen Unterwerfung eines Teils und haben die beiden an dem Zucken der sie verknäuelnden Fäden ihre Lust – das ist die Liebe.

– Wie konntest du lieben! Du schwächst, auch als Sieger, dein Selbst. Wie sehr bindet der Unterworfene noch seinen Überwinder! – Und die Frage: wer war in eurem Fall der Stärkere? – Du lächelst, aber siehst du nicht schon mit Loos Augen die Welt: liebst du nicht die Welt? Weswegen trittst du deiner Welt gerade mit Liebe gegenüber?

Hier steckt's, hic haeret aqua hier liegt der Hase im Pfeffer und der Hund begraben – hier wurde deine Welt brüchig und brachen die Mauern deines Hauses ein, daß die Zweifelwinde blasen und wehen und wehe tun konnten.

Was ist aus deiner Sehnsucht geworden? Konnte sie nicht darauf hinausgehen, einmal die Kraft zu erlangen, deine selbstgeschaffene Welt mit kühler Verachtung abzutun? – Und nun Liebe? Was heißt das? Kann ein Ding, wenn nichts außer ihm existiert, sich lieben? Sagtest du nicht: Ich bin die Welt! Die Welt sich lieben? Wo steckt denn das Andere, das sie, um sich zu lieben, von sich scheiden muß? O du Liebender! O du Geliebter! O du Zwitter! O du Hanswurst! –

Uneins ist deine Welt, halb und zerstört, unselig verheddert eure beiden! Da sitzt sie und quält sich mit Sehnen, Seele, Welt und Tod – deinem Spezialfach, mein Teurer, aber unselig lächerlich doppelt verwandelt und verdreht – o hau den Knoten durch, den löst ihr nicht mehr, den löst kein Gott – !

Oder – willst du fliehn? Versuch's. Ein gut Teil von dir, und welch guter Teil, bleibt zurück bei Loo, ist Loo. Willst du als Kastrat in die Wüste ziehn, als Centaur auf die Berge steigen?

Oder – willst du so weiter leben, taumelnd und wankend in Genüssen, die für dich keine Genüsse sind – aber stagnierende Lachen, in denen die Frösche vergnüglich quaken, das Herdenvieh! – und in Stunden der Einsamkeit gequält vom Hunger und Durst nach dir, deiner Ganzheit, deiner Welt – mit dem Bewußtsein, ihn niemals stillen zu können, um dann fluchend zurückzutorkeln in die Lachen – Tier, nur Mensch, nur Mischmasch sein?

Ich hau den Knoten durch, ich hole mir im Tode meine Welt, mein Ich zurück, ich vereinige mich mit mir in meiner Vernichtung.

Dann ist die Formel gelöst; die Welt ist tot, ist nichts und wird nichts sein, wie sie ohne mich Schaffenden nichts gewesen; ist zeitlos, raumlos, ursachlos, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit tot. O du großer Tod.

Doch noch einmal wollen wir aufflammen wie ein schönes Licht – dann wird die Zeit getötet, die Ursächlichkeit erschlagen und der Raum gewürgt, dann wird die Formel gelöst. – Und Loo? Reiß sie mit! – Laß sie leben, was liegt an ihr?

So? was liegt an ihr! – Das, daß die Tiere kommen, die feigen, viehischen Weniger-als-Tiere und täppisch, geil und widerlich in meiner Welt, meinem Erbe wühlen: ihr vorschnarren: was Gnädigste ersehnen, bin ich – äh, Assessor Pavian, äh, Graf Schimpanse auf Gabun – – O die Affen! O der Mischmasch! – Loo leben lassen? Reiß sie mit, sie ist deine Welt.

Ich werde auch Loo erschießen. Ich tu's – oder sie mag zusehen, wie sie zur rechten Zeit es selber tut.

Da lachte die blaue Glocke, da nickte der karnevalbunte Herbst mir zu, daß die roten flittergoldnen Blätter aus seinen Haaren stoben – ein Wind tat sich auf, ein Häher schrie – da erwachte ich, riß die Glocke aus und warf sie dem feixenden Alten ins Gesicht: lach du – ich tu's.


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