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Die Lippe

Den Weg zur Lippe, die von hier aus noch einige Stunden sich durch sandige Ufer windet, bis sie sich in den Rhein ergießt, ging Erich mehrere Male des Tags; und darum sinnierte er sich dann jedesmal einen kleinen Roman zurecht, wie er es auf alten und bekannten Wegen pflegte; es handelte sich da meistens um eine Privatdozentenstellung nebst einer anhängenden blonden Grafen- oder exotischen Fürstentochter.

Und nach dem Bade streckte er sich nackt ins Gras und ließ stundenlang die steile Mittagssonne auf sich nieder brennen – .

Als ich Junge war und auf Vaters Armen das Schwimmen lernte, ließ er mich untertauchen und das etwas salzige Wasser schmecken –: Sieh, so, aber viel stärker schmeckt das Meer. – Dann streiften wir über die Wiesen, benannten Blumen und sprangen über Bäche und sahen das Wasserhuhn auf dem sandigen Grund unter den Wellen laufen. Im Dorf aber beim Schummerlicht erzählte ich den Nachbarjungen, wie gewaltig tief die Lippe sei und wie dort schwarze Vögel, groß wie ein Strauß, gleich Fischen unter dem Wasser schwimmen, und die rufen so, gerade als wenn ein kleines Kind ertrinkt. – Doch wenn die Fledermäuse kamen und die Glühwürmer tanzten, wurden wir unter dem Wagen, wo wir hockten und erzählten, hervorgeholt und zu Bett gebracht. Dann kam das Gute Nacht, das wohlige Sich-Gruseln und Verstecken-Spielen in den Kissen und dann das Gebet: Da war ein Kaninchen krank geworden – Lieber Gott, laß es wieder gesund werden – ein kleiner Eichbaum gepflanzt – Lieber Gott, laß ihn anwachsen – war ein Feuerchen angezündet, und das wird morgen geklatscht – Lieber Gott, laß mich keine Prügel kriegen.

Da gedachte er – und reckte sich eitel-behaglich in der bratenden Sonne – wie er bei solcher Gelegenheit auf die Frage: Willst du es nicht wieder tun? – nach einigem Überlegen mit Ja! geantwortet hatte, da er sich sagen mußte: Ja, ich will es nicht wieder tun – ist richtiger als die doppelte Negation: Nein, ich will es nicht wieder tun. Die Belohnung für diese erste Probe logischen Gefühls war nicht ausgeblieben. –

Und da mir gesagt war, Amen bedeute soviel wie: Ja, ja, es soll also geschehen – so hängte ich an mein zierliches Gebet einen ungeheuren Amenschwanz; hunderte Male leierte ich das Zauberwort her und zählte es an den Fingern ab –: wenn ich mir soviel Mühe gebe, kannst du mir auch helfen! –

Doch dieses trauliche Bittverhältnis nahm bald ein Ende; er merkte schnell, daß sein Gebet wenig fruchte, im Gegenteil, hatte er im Hinblick auf ein gefährliches Vergnügen heftiger als sonst um Sicherheit gebeten und ging dann umso sorgloser zu Werke – Feuermachen, auf die Bäume-Klettern, Eisschollen- und Nachenfahren auf dem Teich, so traf ihn desto sicherer das Verhängnis; dazu die Belehrung älterer Kameraden, der unverständliche Katechismusunterricht mit Auswendig-Lernen, Prügel und Nachsitzen, wenn die Andern sich draußen tummelten: Das störte bald dieses Verhältnis, das nur auf Bitten und berechtigten Erwartungen beruhte. – Seinen letzten Stoß erhielt es mit dem Tode eines kleinen Mädchens. Noch einmal hatte er während ihrer kurzen Krankheit alle seine Gebetsmacht aufgerufen, hatte sein Amen! so dringlich und unzählig hergeschrien, bis der mitleidige Schlaf ihn in die Arme nahm – aber die Kleine, Zarte starb, still und schön wie ihr kurzes Leben – .

Da streifte ich mir die schwarze Trauerbinde vom Arm und band sie vor die Augen, daß dem kleinen umherstapfenden Jungen die ganze Welt schwarz erschien; des Nachts suchte ich zwischen den Sternen, ob ich nicht dort ihr Veilchenauge fände, des Tages aber sammelte ich Primeln und Hainanemonen – das waren ihre Lieblingsblumen, und legte sie auf ihr kleines Grab. –

Dann brachte die unheimlich losplatzende Liebeszeit Nöte über Nöte. Und da fielen die schimpfenden Worte eines bornierten Pfaffen, der ihn zur Konfirmation vorbereitete und für sein Geld etwas leisten wollte, auf geeigneten Boden; der wetterte von Sünde und ewiger Höllenpein, daß der Scheublickende, Ratlose sich ansah wie ein ganzes Nest von Sünden. Und hatte er so kein Vertrauen und keine Ehrfurcht, geschweige denn Liebe für den wieder aufgetauchten Gott, so doch vernichtende Furcht. – Da fielen ihm die Edda und seltsamer Weise die Dichtungen Shelleys in die Hände; die vertrieben den eifernden Judengott und setzten den Verschüchterten wieder mitten in die Natur.

Da hatte ich auf einer hohen Stange, um die ich eine Türkische Bohne hatte ranken lassen, meine Wetterfahne stehen –: das war eine Schwanenfeder, die auf der dornigen Astspitze einer Schlehe spielte; auf der Ligusterhecke, in der die Wetter-Bohnen-Stange ihren Halt hatte, hockte mein Kompaß –: den hatte ich gebaut aus einer mit Wasser gefüllten Lippmuschelschale, in der auf Holundermark eine magnetisierte Nadel schwamm; daneben ein hygroskopischer Fichtenzapfen und am Fenster das Thermometer waren meine übrigen meteorologischen Instrumente, – aber es waren seltsame Instrumente: um ihre Aufzeichnungen kümmerte ich mich wenig, ihr einfaches Dasein, von mir geschaffen und zusammengestellt und nun lebend in der freien Natur, bei Tag und Nacht, Regen und Sonnenschein – genügte mir. Sie bildeten für mich die Verbindung, den Kontakt mit dem Innersten der Natur – dem Innersten? Haha! dem Innersten der Natur!

Aber als ich Gott Valet gesagt und dem Engländer die Hand gereicht hatte, lebte ich, wenn ich des Morgens zur Bahn ging, um nach der naheliegenden Gymnasialstadt zu fahren, es mit seltsam lyrischem Stolz nach, wie der Sonnenaufgangsäther die rosa Schäfchenwölkchen umarmte, ehe er sie trank, sah in düsterseliger Melancholie den Sturm der Raben Scharen wiegen und hörte ihn an den Telegraphendrähten seine Klagelieder pfeifen. Und die Edda bevölkerte meine Welt mit Riesen aus Frost und Reif und dem einäugigen Windegott, wie er neun Tage an der Esche hängt und aus Mimes Quell dicke Weisheit schlürft.

Aber je tiefer ich mich in diese Gestalten flüchtete, je vertrauter mir das Rauschen eines einsamen Wacholders wurde und je bedeutsamer die schwüle Stille des Mittags, wo die Kornweibchen über den wogenden Roggenfeldern geistern, desto tiefsinniger zugleich, rätselhafter und einem innigen Erfassen widerstrebender wurde das, was mich da umgab. Und da kam es, daß ich eines Tages neugierig in einen Garten trat voll hoher Pappeln: doch was Spinoza mir zu Einem Großen einte, zerschlug Schopenhauer mit einem Hieb: ich und das Ding da draußen, das ich doch erraten wollte, ich und das Ding in mir, das ich doch fassen wollte: und da bekam ich ein Wort, ein wüstes wildes drängendes Wort – und so war es denn wieder nichts weiter als der in ein Wort verkleidete hinterweltliche Finstergott und der Junge, der mit seinen schwachen Kräften gegen ihn loszieht.

So warf ich das Große Eine, das ich ersehnte und wofür ich nun die Formel gefunden, und die ewige Zweiheit, die ich fürchtete, deren Formel ich aber nicht widerlegen konnte, zusammen und begnügte mich mit Schlagworten, die ich nur zum Teil verstand.

Aber was mir so an Verständnis abging, ersetzte sich reichlich durch Gefühl. Ich wußte und fühlte mich glücklich darüber, daß ich mit meinem amor dei, meiner substantia cogitans et extensa oder meiner Erlösung des Willens durch den Intellekt, meiner interesselosen Anschauung, meiner Welt als moralisches Problem irgend etwas Tiefes aussagte und jedenfalls den Dingen näher stand als meine Mitschüler und Lehrer, wenn sie mit donnerndem Pathos »die Worte des Glaubens« hinwarfen und nicht ahnten, was sie sagten und, wußten sie es, zu feige waren, aus ihrem Wissen die Konsequenzen zu ziehen. Sie fühlten, wie ich sie kannte und verachtete, und dankten mir mit Spott und gemeinem Hohn.

Und dann war ich eines Morgens Student, war Fuchs und stand unter der kalten Ernüchterungsdousche: Schau, Leibfuchs, jetzt kommt das Leben, Mädel, Schläger- und Gläserklang! Und in den Ferien: bald nächtlicher Wanderer im Wald, bald Sternengucker; bald Mikroskopiker, bald trübsinniger Träumer am Bach – – semester-, jahrelang. – Da tauchte das Wort Sehnsucht auf – es hing so in der Luft, da holte ich es herunter. Und dann? Wo vorher die Sehnsucht gehangen, hing nun das Examensgespenst, wurde größer und größer und hüllte sich in die absonderlichsten Masken. –

Und jetzt liege ich hier und bin ein verbummelter Student. Und suche mir zu helfen, indem ich mich mit klarer Absicht und hellstem Bewußtsein auf dieser Bummelbahn des flüchtigen Naschens fortrollen lasse. Soll denn das Unergründliche, das mich in das bewußte Dasein geworfen, nur sein Spielzeug an mir haben wollen? Ein interessantes Experiment mit mir anstellen wollen, was aus solchem Konglomerat aus haltlosem Willen und überwacher Anschauung, hineingestoßen in das rastlos und erbarmungslos rollende Rad des Lebens, wird – um es dann, wenn es zerschellt, in die Rumpelkammer der mißratenen Existenzen zu werfen? Hm, auch mich interessiert's.

Ja, lieber Strom, das ist derselbe Knirps, den du vor zwanzig Jahren das Schwimmen gelehrt – ein wenig größer geworden, ein wenig dummer, ein wenig klüger, ein wenig braun gebrannt, ein wenig zerhauen – – Wie die Sonne brennt! Als ich am Lubminer Strand oben in Pommern lag, zog sie mir die Haut in Fetzen vom Leibe – ah! da war Leben.

Sollte vielleicht das, was ich meine blaue Sehnsucht, nenne, die versteckte Wut nach lautem Leben sein? Soll erst dann meine Willenskraft aufwachen, wenn ihm etwas Gewaltiges entgegentritt, nicht dieser elende Mikrokrimskrams von Bücherstaub und Tiftelei – Kampf und Krieg, ein lohendes Glück, ein mich niederschmetterndes, buchstäblich mich mit Füßen tretendes Leid – brausendes riesenfäustiges Leben?

Sehnsucht nach dem Leben? Eine vermaledeite Sehnsucht – schmeiß sie fort! –

Es war spät am Nachmittag, als Erich müde und wie betäubt von der brennenden Sonne zu Hause ankam.

Als es Abend ward, blätterte er in seinem verehrten Byron und las das süße Märchen von dem griechischen Inselkind Haidie. –

Und als er am nächsten Tag vom Bade heimkehrte, ging er auf sein Zimmer und schrieb:

Die Kieselkristalle blinzeln und glitzern mich an – bald fern und still wie ein Stern, bald wie neckische Geister. Über ihnen breitet ein Sauerklee, die hohe, ästige, an Gartenhecken häufige Form, seine Blätter; flach ausgebreitet am Tage, dicht zusammengefaltet in der Nacht – wie liegt in diesen bescheidenen Bewegungen das ganze Rätsel des Lebens!

Man nennt und gruppiert sie unter dem Namen Schlafbewegungen, nyktitropische, und reiht sie unter die durch äußere Reize hervorgerufenen Variationsbewegungen. Das sagt, mir nichts: so habe ich Schnitte durch die Blattpolster gemacht und sie unter dem Mikroskop betrachtet. Das sagte mir noch weniger.

Gewiß, wie diese Bewegungen möglich sind und zustande kommen, kann ein Schuljunge verstehn. Aber hiermit begnügen wir uns nicht, wir glauben mit diesen Bewegungen einen augenscheinlichen Nutzen für die Pflanze verbunden und kommen so immer wieder auf die verrufene Zwecktätigkeit zurück. Nun können wir aber nicht ins Blaue hinein den Pflanzen Empfindungen der Außenwelt und ein zweckmäßiges Reagieren auf deren Veränderungen zuschreiben, doch nicht das Bedürfnis als Grund der Handlung, es zu befriedigen, hinstellen. Sie müßten das Bedürfnis nicht nur deutlich empfunden, sondern klar erkannt haben und darnach unter den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten die zweckmäßigste aussuchen und zielbewußt anwenden, um das so erkannte Bedürfnis zu stillen. Und wissen wir überhaupt so bestimmt, ob ein solches Bedürfnis, wie wir es meinen, vorlag? Ob mit der erreichten Handlung überhaupt irgend ein Nutzen, und wenn – ob gerade dieser damit verknüpft war?

Und dem Plasma, als der lebenden Kohlenstoffverbindung, allgemein die Fähigkeit der Empfindung und des zweckmäßigen Handelns zuzuschreiben, sagt garnichts; das ist nur eine Phrase mehr.

Und schalte ich die Zweckmäßigkeit und auch einen unbeabsichtigt erreichten Nutzen aus und betrachte allein den nackten Zusammenhang von Ursache und Wirkung, so haben sich vielleicht unzählige Ursachen von irgendwo her an diesem Punkt getroffen und ihr Zusammenstoß war eben die »zufällige« Ursache zu dieser ungewußten und ungewollten Wirkung.

Und diese Wirkung, diese Erscheinung hat sich nun vererbt – und zwar ohne daß in allen Fällen die zufälligen Ursachen, wie sie die erste Erscheinung bewirkt haben, weiter wirkten – , nun komme ich schon ohne Empfindung, Nutzen und Zweckmäßigkeit nicht weiter. Ich muß sagen: Die Pflanze hat den Nutzen der einmaligen Abänderung empfunden, er hat ihr im bekannten Kampf ums Dasein geholfen, und sie hat ihn deshalb ihren Kindern vererbt – denn die Erklärung: Das ist eine spezifische Eigenschaft des Plasmas, die durch äußere oder innere Eindrücke in ihm bewirkten Veränderungen zu vererben, ist keine Erklärung, ist nur eine sehr wohlfeile Beschreibung.

Aber auch schädliche Abänderungen vererben sich – ? –

Und nun steckt einmal in dieses Durcheinanderwirken von Ursachen und Wirkungen, Vererbungen und Anpassungen, unbewußten und bewußten Empfindungen, zweckmäßigen bewußten und unbewußten Handlungen, Tropismen, Nastien und Instinkten eure Molekulartheorie hinein, beseelten Stoff und stoffliche Seele, Kräfte von irgendwo her, die irgendwo angreifen – wundert ihr euch dann noch über euer hilfloses Gesicht? – Aber euer Gesicht ist glatt und eure Brillen sind ganz vergnügt – –?

Oder liegt die Erklärung wieder darin, daß wir alle Erscheinungen als in Wirklichkeit auch so seiend aber auch nur so seiend auffassen, wie sie uns scheinen, und sofort sie nach Zeit, Raum und Ursächlichkeit ordnen, schematisieren und erklären wollen, wo unser Intellekt vielleicht garnicht geschaffen ist, die Dinge adäquat zu erkennen? Aber weswegen ist er denn fähig, seine Unfähigkeit zur absoluten Erkenntnis einzusehen? Weswegen muß ich denn wissen, daß ich nichts wissen kann?

So stehe ich denn abermals vor der mit Brettern zugenagelten Wand – es ist so jämmerlich traurig. Oh, es ist wohl besser, dieser vermaledeiten Wand den Rücken zuzukehren, anstatt jahrlang an ihr entlang zu rasen und eine Öffnung zu suchen, von der man sich doch sagt, daß sie nicht zu finden ist, garnicht vorhanden sein kann? Oh, es ist wohl besser, mit einem Sprung, einem tollen, alles überjauchzenden Schrei in das Leben da draußen zurückzujubeln: Es lebe das Leben!

Aber da humpelt wieder die griesgrämige Frage an: Weshalb jubelst du nicht, es lebe die Arbeit? – Herrgott! weil sie doch wieder an die vernagelte Wand führt!

Und die andere, die ebenso griesgraugrämige: Tu's – aber was hast du davon?

Und die teuflische: Tu's – aber meinst du, du tust es, weil du willst? Du Narr, weil du mußt; du kannst nicht anders!

Ich werde ins Freie gehen. Wohin? Ins Bruch? In den Wald? In die Heide? – Soll ich schließlich den zureichenden Grund suchen, weshalb ich dieses Mal ins Bruch und nicht in die Heide gehe!


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