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Colchicum autumnale

Als die Morgensonne steiler geworden war und den Regen und die Vögel vertrieben hatte, wusch Erich sich die Stirn in dem kalten Bachwasser und ging heim, an der Mühle vorbei mit ihren zwei Pappeln und langweiligem Rauschen, an den Teichen, in denen vor vier Monaten die Kaulquappen eine bestimmte Tiefe bevorzugt und sich derart wie ein zitterndes schwarzes Band an den Ufern hingeschlängelt hatten, durch den Tiefen Weg und über die Mittelstraße und stand plötzlich in seinem Zimmer:

Ein Tag? Monde und Jahre faßt ein Tag? Entfernungen wie Länder weit eine Wegstunde? Was heißt Raum, was Zeit! –

Da lächelte er und sagte zu sich:

Jetzt retten, was noch zu retten ist. Mein Kopf ist schwach und eng – aber meine Sehnen sind stark. Ist denn das Leben – ist denn das Leben nur mit dem Kopf zu kriegen? Das Tier schlägt dich unter sich –: ich will Tier sein und will dich unter mich schlagen. –

Darauf legte er einen Zettel auf den Tisch mit der Nachricht, er fahre in den Industriebezirk, um sich selber sein Brot zu verdienen, schlich sich durch eine Hintertür aus dem Hause und gelangte auf Umwegen zum Bahnhof. Dort fuhr er mit dem nächsten Zuge ab, um von der ersten größeren Stadt aus die Strecke zu wählen, auf der er dem heimkehrenden Grafen begegnen konnte. Und als er ihn auf dem Bahnhof eines Kreuzungspunktes in ein Abteil des nach der Heimat fahrenden Zuges einsteigen sah, ging er auf ihn zu, benachrichtigte ihn kurz über das Geschehene und schloß mit den Worten:

So kam es, daß Loo sterben und ich um eine Erkenntnis reicher werden mußte; ich nutze sie aus und werde Fabrikarbeiter. Das ist das Ende dieses Sommers, Herr Graf. –

Daß Sie sich deswegen in den Kittel eines Fabrikarbeiters stecken wollen, ist wohl nicht notwendig. Und daß meine Tochter starb – vielleicht war es ein Glück; sie starb ja im Glück – und was können wir weiter dabei tun, als konstatieren, daß der Mensch einmal so sein fragwürdiges Dasein verläßt und einmal so –: alt und jung, gern und ungern, das gibt vier Zusammenstellungen; wie nennt man's – Permutationen? Eine närrische Welt, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über sie, sie ist es nicht wert. –

Dann reichten sie sich die Hände. Erich stieg in einen Wagen vierter Klasse unter Polen und Rottenarbeiter, und der Graf in ein gepolstertes Abteil eines anderen Zuges. –

In einem Bergwerk, siebenhundert Meter unter der Erde fand Erich sein Brot; er schaufelte die Kohlen aus den Körben in die Wagen und fuhr sie dann in den niederen Gängen zwischen den gebogenen und geborstenen Holzstempeln, schweißgebadet, durch glühende Hitze und kalten pfeifenden Wind zum Schacht.

Und Loo? Ein Arzt kam und übersah den kleinen blauen Fleck auf ihrer linken Brust, redete von Herzschlag und schrieb darüber sein Attest. Dann begrub man sie; Thujabäume und Trauerweiden standen zwischen dem hohen fruchtenden Gras.

Den Gärtnerjungen, der sich in der nächsten Nacht auf ihrem Grabe entleibt hatte, begrub man dagegen nicht weit von ihr in der Kirchhofsecke.

Stiebende kalte Oktoberregen vertrieben die Klarheit und satte Stille des Herbstes. Wo vorher die melodisch rufenden Zickzackzüge der Kranichheere über die blau-dunstigen Wälder geflogen waren, kreischte jetzt durch Wind und Wolken die Wildgans und zauberte in den Nächten den Wilden Jäger in den Sturm. An einem solchen Tage, dem letzten Oktobersonntag, der Dunst und stiebende Nebel über die kahlen Felder fegte, kam Erich noch einmal ins Land.

Er war schnell aufgerückt in dem hämmernden, rasselnden und dampfenden Betriebe. Jetzt durfte er achthundert Meter unter der Erde unten im letzten schrägen Flöz die glitzernden Steine hauen, durfte viermal des Tags die steile Leiter hundertundfünfzig Meter auf und nieder steigen, den Griff der heißen Lampe krampfhaft zwischen die dumpf schmerzenden Zähne gepreßt – und hatte er dann atemlos die letzte Sprosse erreicht, so preßte der schneidende Luftstrom ihn zurück und warf ihn mit der zuknallenden Tür gegen den nassen salzigen Stein. –

Nun durchstreifte er, von keinem gesehen, die Gegenden, wo ihn jeder Baum und Strauch an die Verlorene gemahnen wollte, an jedes Wort und jede Liebkosung, die da und dort gefallen. – So kam er zu dem Bach, wo sie sich zuerst getroffen hatten. Der Regen fiel und fiel, daß, der Bach über die niedrigen Ufer trat und seine trüben Wasser über die Weidenstraucher wälzte. Er warf sich achtlos in das nasse Gras und stützte den Kopf in die Hand. Herbstzeitlosen, die in den letzten Tagen in Menge aufgesproßt waren, umstanden ihn. Er reckte sich aus und pflückte einige, und es durchfuhr ihn, hinzueilen und sie auf ihr Grab zu legen. Aber er entschlug sich des traurigen Wunsches:

Wozu? Da ist ein sandiger, regenzerwühlter Hügel, mit welken Kränzen bedeckt, und darunter – –.

Als seine Glieder kalt und steif wurden, stand er auf –

Die Komödie soll ihres symbolischen Schlusses nicht entraten – und ließ die Blumen langsam in den Bach fallen, der sie in seinen trüben Wassern rasch entführte. Er blickte ihnen nach, so lange sie zu sehen waren. –

Du bist ja doch nur ein Komödiant –: Herbstzeitlosen – im schattenbevölkerten Hades ist eure Heimat, und im nebelumbrauten Kolchis kamt ihr durch Zauber auf die Erde, um in unser Land zu wandern, auf niedere feuchte Wiesen, wenn der Oktober seine Nebel braut und aus ihnen seine grauen Regen auf die Erde gießt. O, ihr habt Heimatsinn und wißt, wohin ihr gehört, fremde seltsame Lebenskinder, die ihr eure Liebe selbst unter die dunkle Erde vergrabt und selbst dorthin wieder zurück taucht, geheimnisvoll und fremd, wie ihr gekommen: so seid nun ihr die Blume meines Lebens. –

Bravo! Bravissimo! Holla ho!

Der Dirne geb' ich die Wege nicht frei,
Wo Männer raufen, da bin ich dabei,
Und wo sie saufen, da sauf' ich für drei!
Halli und Hallo!


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