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Der schwarze Kahn

Nun ging, vom Tage müde,
Der junge Mai zur Ruh;
Ihn sangen Vöglein in Schlummer,
Und Sterne sahen zu.

Träumend schleicht zu Tale
Der Fluß durch Park und Hain;
Er kränzt sich mit Trauerweiden
Und hüllt in Schilf sich ein.

Weiße Nebel begleiten
Ihn wallend auf seiner Bahn;
Aus ihren Schleiern löst sich
Stromauf ein düstrer Kahn.

Darin ein stummer Ferge,
Der rudert wahrlich gut;
Die Sichel hinten im Kahne
Furcht leise die bange Flut.

Er rudert mit Knochenhänden;
Wenn er sich streckt und bückt,
Bei jedem Ruderschlage
Sein blanker Schädel nickt.

Und als er unter den Bäumen
Lautlos vorüberzieht,
Die Nachtigall erschrocken
Hält inne mit ihrem Lied.

Im Schatten der hohen Brücke,
Da holt er die Ruder ein.
Gelassen ruht er und wartet,
Und bange harrt der Hain.

*

Die Untreu steht am Wege,
Ein Weib in frechem Kleid.
Sie lacht, da wankt vorüber
Eine junge, süße Maid.

Hinter ihr zischelt's in Lüften
Mit tausendfachem Mund;
Mit hundert Fäusten die Schande
Geißelt den Rücken ihr wund.

Mit ihren weißen Händen
Faßte sie Blumen und Strauch –
Die schliefen. »Ihr Veilchen und Rosen,
Schlummern möcht' ich auch!«

Sie lehnt sich über die Brücke. – –
Da hebt sich der bleiche Graus
Und breitet aus tiefen Schatten
Barmherzig die Arme aus. – – –

Nun rudert talab der Ferge.
Am Ufer schluchzt die Nacht.
Auf seinem duftigen Lager
Ist jäh der Mai erwacht.

Im schwarzen Kahn ruht stille
Ein blasses Weib allein;
Die feuchten Locken küßt leise
Der milde Mondenschein.

 

*

 


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