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Das zweite Gesicht

Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Seinen Küster ruft er herbei
Und reicht ihm den silberbeschlagenen Band:
»Dies, Alter, zur Sakristei!
Zwar düstert auf allen Pfaden die Nacht,
Doch wenn seine Fackel der Mond entfacht,
Dann geht er um Mitternacht heute
Ja doch zum Neujahrsgeläute.«

Stumm schüttelt den Kopf der Küster von Marx.
»Was? Reit' ihn der Kuckuck! Nein?
Er kehrt wohl, Er Hasenfuß Siebrand Tiarks,
Des Nachts beim Herrgott nicht ein?« –
»Ich geh' allein zum Geläut auf den Turm,
Und rüttelt ihn auch der Wirbelsturm,
Doch nimmer zu Chor und Altare
In der letzten Nacht im Jahre.

Silvester, Ehrwürden, das ist die Zeit,
Da reichen zwei Jahr' sich die Hand
Und finden den Bösen zum Spuk bereit
Und die Hölle aus Rand und Band.
Wenn dann die Glocke zwölfe schlägt,
Ein Schleier sacht sich wegbewegt
Und läßt mit Augen sehen,
Was künftig soll geschehen.

Zwei Jahr sind's heut. Grad' war ins Land
Der Neujahrsglockengruß
Mit vollem Klang hinausgesandt;
Da tast' ich mit Hand und Fuß
Die Stufen hinab im Treppenraum,
Und plötzlich treibt's mich, wie, weiß ich kaum –
Mir dröhnt im Ohr noch das Läuten –
Abseits durch die Kirche zu schreiten.

Durchs Fenster senkt sich auf braunes Gestühl
Des Mondes ruhiger Glanz.
An weißen Wänden ein leichtes Spiel
Von Schatten und Lichtern im Tanz.
Lebendig wird mit der Dornenkron'
Der Heiland vor Pilatus'[*] Thron,
Und Judas packt in der Ecke
Des Altars silberne Decke.

Da seh' ich, hilf Gott, so schattenhaft grau,
Rings durch das Gestühle verstreut,
Hier Kind und Greis, dort Mann und Frau,
Viel schweigende, harrende Leut'.
Sie beten nicht, sie singen nicht,
In ihren Augen ist kein Licht;
Es starren erloschene Sterne
Glanzlos weithin in die Ferne.

Menko Mennen stiert von der Prieche her,
Okko Tannen trieft von Blut,
Jantje Bomreman trägt ein Pelzkleid schwer,
Kea Rykena strohernen Hut.
Ich kneif' mir den Arm, es ist kein Traum,
O Grausen, allein ganz hinten im Raum
Mein Schwiegersohn Edzard Onnen, –
Da bin ich vor Schrecken entronnen.

Und alle, die damals mein Auge gesehn,
Die sah ich im selben Jahr
Im schwarzen Holz auf der Diele stehn
Und dann auf der Todtenbahr.
Drum, Ehrwürden, diesmal gebt Ihr mich frei
Und schickt mich morgen zur Sakristei.
Mir Alten frommt nicht, zu lüften
Den Schleier von Gräbern und Grüften.«

*

Die Uhr schlägt zwölf; um Mitternacht
Der Mond lugt still herfür,
Da schreitet vorbei an Gräbern sacht,
Ganz sacht zur Kirchentür
Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Schlüssel und Bibel in seiner Hand, –
Aufschließt er und schreitet verwegen
Dem harrenden Spuk entgegen.

Er schreitet und sieht im braunen Gestühl
Des Mondes ruhigen Glanz,
An weißen Wänden ein leises Spiel
Von Schatten und Lichtern im Tanz,
Doch starr verharrt mit der Dornenkron'
Der Heiland vor Pilatus' Thron,
Auch läßt sich in Winkeln und Ecken
Kein Menschenantlitz entdecken.

's ist totenstill im weiten Raum,
Die Schritte verhallen im Gang,
In schimmernden Pfeifen ruht ein Traum
Von brausendem Orgelklang.
Erhobenen Haupts am Altar vorbei
Die Bibel trägt er zur Sakristei,
Und war ihm das Herz beklommen,
Der Bann ist fortgenommen.

Schon ist es getan; nun tritt er heraus.
Dumpf grüßt ihn das Neujahrsgeläut'. – –
Da sitzen in Stühlen, o Schreck und Graus,
Viel schweigende, harrende Leut'.
Sie beten nicht, sie singen nicht,
In ihren Augen ist kein Licht,
Sie starren, das Antlitz erhoben,
Zur Kanzel hinauf nach oben.

Hilf Himmel, der Küster sprach keine Mär,
Sie sind's, die der Tod erkor!
Ach, pocht ihm das Herz! Sein Kopf wird schwer,
Und zitternd möcht er vom Chor.
Da setzt mit wundersamem Klang
Die Orgel ein und tönt so bang,
Und jäh hat er nach oben
Zur Kanzel den Blick erhoben.

O Jesus, mit ausgestreckter Hand,
Eigen und sonderbar,
Steht er dort selbst, Henrikus Brand,
Ragend im dunkeln Talar,
Und spricht auch sein Mund kein einziges Wort,
O Schrecken, Schrecken! es gleicht ihm dort
Der Schemen in jedem Stücke
Bis auf Beffchen und Perücke.

Kein Trug, er sieht sein eigen Gesicht!
Von fern mit leisem Klang
Tönt »Jesus meine Zuversicht«,
Sein eigener Grabgesang.
Sein Herz will stocken, er ächzt nach Luft
Und hastet, daß er der harrenden Gruft
Mit schnellem Fuß entrinne, –
Da schwinden ihm die Sinne. – –

Ehrwürden Pfarrer Henrikus Brand,
Im Morgendämmerschein
Siebrand Tiarks, sein Küster, fand
Ihn tot auf kaltem Stein.
Noch sah das Antlitz bleich vom Chor
Mit gebrochenem Auge zur Kanzel empor. –
»Bewahr' uns, Herr, zu lüften
Den Schleier von Gräbern und Grüften!«

 

*

 


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