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Fadl Paschas Schicksal

Als wir von unserem Hotel bei Luxor längs des Nilufers spazieren gingen, begegneten wir einer Equipage, in der ein älterer Mann mit weißem Schnurrbart saß; er trug europäische Kleidung, aber einen Fez. Ein Kawaß in goldgesticktem Feuerrot saß auf dem Bock; ein weißgekleideter barfüßiger Saïs lief den Pferden voran. Es war gegen Sonnenuntergang, und Thebens Berge lagen wie ein Rosenwall jenseits des milchweißen Flusses. Die wenigen auf dem Wasser sichtbaren Dahabiehs erhoben ihre Raaen wie ungeheure über den Himmel gespannte Flitzbogen. Aus Luxors Tropengärten drang ein betäubender Duft zu uns herüber. Und um uns her wimmelten die englischen Touristinnen, hellgekleidet, begleitet von ihren braunen Dragomanen.

Mein ägyptischer Freund nickte nach der blinkenden, schellenklingenden Equipage hinüber. »Khasil Pascha!« sagte er. »Sehen Sie seine Wange an!« Und ich gewahrte auf dem Gesicht des Paschas, der ruhig, fast wie ein Schlafender, in den Seidenkissen des Wagen lehnte, eine lange Narbe, einen tief in die braune faltige Wange geschnittenen schneeweißen gezähnten Striemen.

»Von dieser Narbe kenne ich eine Geschichte,« sagte mein Begleiter. »Eine der zahllosen Sagen aus den letzten Tagen Ägyptens, aus der merkwürdigen Durchbruchs-, Reibungs- und Verwandlungszeit in diesem Lande, diesem Mahlstrom zwischen Ost und West. Und meine Erzählung wird auch manches von dem beleuchten, was uns in diesen letzten Zeiten als Beweggrund für den Verfall des Ostens erschienen ist. – –

Khasil Effendi, schon als ganz junger Mann Kontorchef im ägyptischen Finanzministerium, erhielt eines Tages vom Departement Ordre, sich bei seinem Minister einzufinden und diesem einen besonderen Auftrag von Seiner Hoheit dem Khediven, sowie einen Befehl zur Audienz zu überbringen. Als heller, mit politischer Phantasie begabter Kopf wußte er diese auch nach heute gültigem ägyptischen Brauch ungewöhnliche Mission richtig zu deuten und wandte sich unverzüglich an das Karakol des Stadtviertels, um für etwaige schwierige Fälle eine Ehrenwache von zehn Soldaten unter der Führung eines Polizeileutnants mit sich zu nehmen.

Die Zeiten waren ja recht unruhig. Es war in jenen ersten Reformtagen um die achtziger Jahre, vor der englischen Okkupation, aber schon mitten in der Zeit der europäischen Besetzung. Die Reformen hatten vorerst mit Geschenken Napoleons III. an den Khediven – französischen Stutzuhren, Sèvres-Kaffeekannen – und dem Suezkanal ihren Anfang genommen. Nun stürmten die französischen Moden und der englische Stil das Land und verbreiteten Verwirrung und Schrecken in der morgenländischen Hofetikette. Kassierte Theatergarderoben, vergoldete Thronstühle, initialengekrönte Barockspiegel und englische Fuchsgemälde hielten ihren Einzug in Kairos verschlossenen Palästen, und die Haremsdamen statteten einander Visiten ab in Prinzeßkleidern mit Tournüre, streng nach französischen Modejournalen, und mit französischen Chignons, die mit altererbten Brillantketten und den ersparten Golddukaten ihrer Trägerinnen behangen waren. Der Hof des Khedive bewies seinen Reformeifer durch feenhaft illuminierte Gartenfeste und durch die häufigen Pariserreisen Seiner Hoheit. Es gelang denn auch, vierschrötigen abendländischen Komfort mit verschnörkeltem orientalischen Luxus zu vereinigen, und die hungrige Schatullenkasse des Khediven fand reichlich Nahrung in einer bequemen kleinen Anbohrung der ägyptischen Finanzen, deren Einleitung der wechselnden Reihe der Finanzminister oblag – zuletzt Fadl Pascha.

Fadl Pascha, der in der Geschichte unter einem anderen Namen bekannt geworden ist, besaß in dem alten El Hilmieh-Viertel einen großartigen Familienpalast, einen ungeheuren Komplex von Haremshäusern und Kiosken, von weißen Marmorhöfen und düsteren Palmengärten, in deren Zisternen Schlangen und Skorpione ihre Schlupfwinkel hatten. Es war eine ganze Stadt mitten in der Stadt, umgeben von haushohen Mauern, eingeklemmt in Kairos enge Gassenlabyrinthe.

Khasil Effendi machte sich ohne Säumen auf den Weg, um seinen Auftrag auszuführen. In einer jener neuen Karossen des Ministeriums, deren Läufer unter beständigem Warnungsgeheul »Rechts aufgepaßt! Achtung auf dein linkes Bein!« sich durch das Gewimmel Bahn brachen und ohne weitere Vorrede mit der Flußpferdpeitsche auf die in den Kehrichthaufen der Straße sich sonnenden, lumpenbehangenen Buckel der Bettler losdroschen, erreichte er, an bedrohlich geneigten morschen Mauern und geborstenen Haremsbalkonen vorbei, die Straßenfront des Palastes, eine ungeheure nackte Riesenmauer. Nur eine einzige, von Fayencearabesken umrahmte kleine Tür, die bloß in halber Höhe aus dem festgestampften Straßenschmutz ragte, führte in das Innere. Der in einen Sack gehüllte Bowah schlief auf der Türschwelle und Khasil Effendis Saïs mußte ihn mit seinem Stock auf den Kopf schlagen, worauf er langsam auf die Beine kam und die Tür öffnete. Die zwanzig Soldaten stellten ihre Gewehre in Pyramidenform auf, und der Leutnant ging in ein gegenüberliegendes Haus, um unter anderem eine Nargileh zu rauchen und sich frisieren zu lassen. Khasil begab sich in den Palast.

Um den Brunnen des großen Vorhofes mit den niederen Sandsteinarkaden, die sich in dem blendenden Sonnenschein grell gegen die schattigen Bogengänge abzeichneten, kauerten die Torwächter mit ihrem Anhang – der ganze ungeheure Stab der Hausaraber, den Tag vertrödelnd in tiefer staunender Betrachtung des einen unter ihnen, der sich etwa zum Arbeiten veranlaßt sah. In ihren weißen Galabiehs mit den bunten Shawls und dem roten Tarabusch-Zipfen über der grinsenden Negerfratze hockten sie da, dicht wie schnatternde Enten um ein Bassin, klatschend, schwatzend über alle intimsten Angelegenheiten der Herrschaft und des Hauses, in spottlustiger Verachtung all des Unverständlichen, das diese verrückten Zeiten mit sich brachten. Immer neue Freunde und Bekannte kamen hinzu, ließen sich nieder, erkundigten sich nach den Neuigkeiten und blieben regungslos auf ihren Fersen hocken. Über ihnen stand im Rahmen der Mauergesimse das Viereck des Himmels wie ein hoher blauer Baldachin. Kairos Hunderte von Weihen und Falken segelten kreisend auf ihren goldenen Schwingen über das blaue Feld, auf der Jagd nach den Moscheetauben und den Hühnern, die hoch oben auf den verfallenen Gitterdächern zwischen Zuckerrohrhaufen und Wäschestücken ihre Bauer hatten.

In dem langen engen Vestibül, das Khasil Effendi rasch passierte, erhoben Sattelknechte und Wasserträger sich langsam von ihren Matten. Fadl Paschas Leib-Kawaß kam ihm in goldgesticktem purpurrotem Kaftan und ungeheuren gelben Bauschhosen entgegen und begrüßte ihn mit einer scheuen Frage in den blaß schielenden Negeraugen. Erst im Vorsaale, wo die dicken persischen Teppiche begannen, nahm Khasil Effendi seine Lackstiefeln ab und durchschritt in Socken und seinem hellen englischen Promenadenanzug die langen Treppenkorridore, in denen ihm sofort ein süßlich gepfefferter Haremsduft entgegenschlug. Überall gab es bunte weiche Teppiche und funkelneue, nach französischen Barockmustern gezeichnete Tapeten mit mächtigen goldenen Arabesken, aber die Wände waren bis zu Mannshöhe mit zahllosen Abdrücken schmutziger Handflächen bedeckt. Die kolossalen Kristallkronen mit den roten Moscheelampen trugen lange Spinnweb-Draperien, und der aus allen Nebengemächern strömende Gestank von Abflüssen und Entleerungen bewog schließlich selbst Khasil Effendi, ein parfümiertes Taschentuch diskret an die Nase zu führen, wie er es die Europäer beim Besuch von Araberhäusern tun gesehen hatte. Er war ja übrigens Reformägypter. Seine Karriere war reißend gegangen: vom Schreiber im Tribunal zum Greffier und von da in einem raschen Sprung zum Kontorchef im Ministerium. Er hatte mehr als ein halbes Jahr die Missionsschule besucht und sich dort zum vollkommenen Freidenker ausgebildet. Nun da er sein vierundzwanzigstes Jahr zurückgelegt hatte, wähnte er sich im Besitz eines vollkommen weltmännischen Benehmens und meinte sogar noch einige Points vor den Abendländern vorauszuhaben, die ja eben keine Ägypter waren.

Fadl Pascha erwartete ihn in einem Mandarah, das an den Harem stieß, einem hohen Raum mit masretischem Schnitzwerk, Stalakitbaldachinen und keramisch eingelegten, mit niedrigen Kissen belegten Diwans, in deren Mitte eine kleine Rosenwasser-Fontäne ihren Wohlgeruch in ein niederes Marmorbecken ergoß.

Fadl Pascha saß schlank und aufrecht, mit gekreuzten Beinen auf den Kissen. Er trug arabische Hauskleidung: einen Khamis aus weißer Seide und darüber einen graumelierten englischen Rock mit Samtkragen; denn er war um seine Gesundheit ängstlich besorgt. Es blies in diesen Tagen ein glühend heißer Chamsin; jeden Nachmittag verschleierte sich die Sonne von gelbem brennenden Wüstenstaub, und man mußte sich in Kleider hüllen, um sich die trockene Hitze vom Leib zu halten. Khasil Pascha, der gewohnt war, den Minister nur im schwarzen Diplomatenrock zu sehen, wenn er auf dem Wege nach den Audienzgemächern die Ministerialkontors durcheilte, betrachtete diesen ruhig seine Zigarette rauchenden alten Mann, der zu Hause die bequeme altarabische Tracht nicht zu entbehren imstande war, mit einem scheuen und leicht ironischen Verständnis.

Vor der Tür stand noch der große kohlschwarze Kawaß mit dem langen goldbeschlagenen Krummsäbel, den er liebevoll mit seinen beiden Tatzen umklammert hielt, und während Khasil Effendi mit der rechten Hand zum Gruße Stirn, Mund und Brust berührte, tastete er unwillkürlich in der Tasche nach dem Elfenbeingriff seines kleinen Revolvers. Auf einen Wink des Paschas nahm er in den Diwankissen Platz, worauf ein Nubier einen Kulleh mit Orangenwasser brachte und den türkischen Kaffee in einem Dekreg aus Sèvres-Porzellan servierte.

»Ich komme, um mich nach dem Befinden Euer Exzellenz zu erkundigen,« sagte der Kontorchef, indem er mit einer Verbeugung der dargereichten kleinen Silberschachtel eine Zigarette entnahm. Der Pascha nickte lächelnd verständnisvoll, und nun saßen sie eine Zeitlang nebeneinander, ohne eines des anderen Gedanken durch Worte zu stören. Die Fliegen summten schläfrig gereizt durch die schrägen Sonnenbalken aus und ein und setzten sich als dicke Kuchen in Ohren und Schnurrbärte der beiden Männer. Aus einem der fernen Haremsräume scholl das schwache Weinen eines Kindes. Dann verstummte auch dieses und alles Leben des Palastes ruhte todmüde und betäubt unter der verdorrenden Hitzewoge des Chamsins.

Khasil behielt unter den blinzelnden Wimpern seinen Wirt fest im Auge. Er fühlte sich ganz besonders ausgezeichnet und geehrt, als Gast des Ministers und namentlich anläßlich einer Sendung von so ganz diskreter Beschaffenheit hier zu weilen. Es war wie eine tiefe und intime Verbindung mit ihm, eine Annäherung so naher und verhängnisvoller Art, daß er es in allen Gliedern wie eine fast körperliche Berührung empfand. Ja, sie hatten ein gemeinsames Stück Wegs vor sich! Eine Wanderung in dunkle Fernen – bis hinaus an die äußerste Grenze! – Er lächelte heimlich in tiefer Dankbarkeit, und seine leichtfliegenden Pläne sahen kein Hindernis mehr. Diese Mission würde ihm sicherlich den Bey-Titel und vielleicht sogar die Ernennung zum Mudir in Tantah einbringen, wo seine Familie wohnte und viele reiche Freunde ihm lebten. Er fühlte etwas wie Sohneszärtlichkeit für den Minister: Wie reich dieser Mann wohl sein mochte! Die Kontorschreiber erzählten, er habe während seiner Ministerzeit mindestens vierhundert Millionen Franks zurückgelegt, die geprägt und in schwere Dukatenbeutel gestopft in einer Stahlkammer unter dem Dache hingen oder in den Kieshaufen des Kellers vergraben lägen. Khasil Effendi, der bisher weder die Expedition von Privatangelegenheiten, noch irgendeine Kasse unter sich gehabt, hatte noch keine Gelegenheit gefunden, ein Vermögen zu sammeln. Jetzt aber sah er neue Möglichkeiten. Er lächelte glücklich und wurde sentimental. Eine Zukunft stieg vor ihm auf. Vielleicht, dachte er naiv, vielleicht werde ich einmal Finanzminister! Allah weiß es!

Der Pascha betrachtete seinerseits mit seinen kleinen scharfen Schakalsaugen ein bißchen neugierig den jungen Kontorchef, der nun endlich den Brief aus dem Schweißleder seines Tarabusch hervorholte und mit einer tiefen Verbeugung zu den Füßen des Vorgesetzten niederlegte. Der Minister kannte allerdings den Inhalt im Vorhinein. Er war ihm von einem Schreiber des Khedivesekretariats, der ihm täglich die Abschrift aller vertraulichen Schriftstücke lieferte, mitgeteilt worden. Übrigens enthielt das Schreiben bloß eine kurze Verständigung, daß Seine Exzellenz sich so rasch als möglich in dem Residenzpalast einfinden möge.

Nachdem Fadl Pascha gelesen hatte, ließ er seinen Blick mit nachdenklichem Wohlwollen auf dem Effendi ruhen. Dieser vollführte rasch eine verwickelte Gedankenarbeit: Würde der Pascha ihm jetzt eine Summe Geldes anbieten, und wäre es wohl klug, sie zu nehmen? Aber noch ehe er zu einem Resultat gelangt war, erhob der Minister sich mit ernstverschlossener Miene, reichte Khasil Effendi die Hand zum Kusse und verließ ohne weitere Worte den Saal.

Khasil Effendi setzte sich wiederum zurecht, um nachzudenken. Es fiel ihm gar nicht ein, zu gehen. Er hatte Ordre, ohne den Minister nicht zurückzukommen. Alles Nähere blieb seinem eigenen Urteil überlassen. Er beruhigte sich indessen bald. Die Sache würde schon von selbst eine bequeme und zweckmäßige Richtung nehmen, und so überließ er sich denn, während er wartete, anderen und behaglicheren Gedanken. Nirgends war ein Mensch zu erblicken, und er saß hier in vollkommenem Behagen mit seiner Nargileh. Die Fliegen ließen sich auf ihm nieder. Er wurde schläfrig und sank immer tiefer in sich zusammen.

Fadl Pascha suchte unterdessen seinen Harem auf, in dem er auch während der drei letztverstrichenen Tage der Ministerkrise Zuflucht genommen hatte. Gleich beim ersten Anzeichen der Unruhe war er heimgegangen und hatte sich nach orientalischem Brauch zu Bett gelegt. Die Ursache der Krise war eine Zuschrift der französischen Commissaires de dettes gewesen, die über den ägyptischen Finanzen wachten. Es war Fadl Pascha gelungen, mit Rücksicht auf das ökonomische Interesse des Khedive die ägyptische Staatsschuld um einige wenige Tausend Millionen Franks zu erhöhen. Die Westmächte hatten Reduktion verlangt und das Ministerium wußte dies als eine Aufforderung zu außerordentlichen Besteuerungen aufzufassen. Man forderte Abgaben für Harem und Dienerschaft, für Galabiehs und Tarbusche, ja jeder Palmenbaum in Ägypten wurde registriert und mit Steuer belegt. Die Mudire erhielten überdies Ordre, an jedem Freitag 20.000 Franks an den Fiskus einzuzahlen, was die guten Gouverneure dahin verstanden, daß sie das Doppelte eintrieben – die Hälfte für sich selbst. Eine neue Großmachtnote hatte hierauf den Khedive neuerdings höchlichst beunruhigt und das Kabinett ins Wanken gebracht. Daraufhin hatte Fadl Pascha sich unverzüglich krank gemeldet, sich selbst Hausarrest diktiert und nach seinem Arzt geschickt.

Dieser, ein junger unternehmender Engländer, Dr. Edwin Bey, fand den Minister in dem großen himmelblau dekorierten Schlafgemach, in einem ungeheuren vergoldeten Bette, dessen Breite auf die Vermutung bringen konnte, daß sein Baumeister für den ganzen Harem des Pascha hatte Platz schaffen wollen. An der Wand hing, den muhamedanischen Regeln zu Trotz, das in Paris nach einer vergrößerten Photographie gemalte Porträt des Pascha in goldbordierter Gala. Es hatte eine Unsumme gekostet.

Der schlanke hellblonde Doktor betrachtete durch seine goldenen Stangenbrillen den unter dem gestickten Moskitonetz ruhenden Patienten. Ein schwarzer Eunuch hatte ihn durch düstere Hinterkorridore hierhergeleitet. Aber obwohl er sich, wie er wohl wußte, in einem der Haremsräume befand, war es ihm nicht gelungen, eine einzige der hier lebenden Frauen zu Gesicht zu bekommen.

Just dieser Umstand war es, der ihn als Abendländer hier im Orient am allermeisten ärgerte. Die Weiber des Morgenlandes schienen ja gar nicht zu existieren; nirgends fand man die entfernteste Spur von oder nach ihnen. Er dachte an sein eigenes Heim, wo sich stets eine der Hinterlassenschaften seiner Schwester, ein Nähzeug oder ein Strohhut, mitten zwischen den Instrumenten seines Arbeitstisches umhertrieb. Hier erwähnte man der Frauen nicht einmal und es galt als unartig, auch nur nach ihnen zu fragen. Und dennoch lebte hinter diesen mächtigen Mauern mit den von masretischem Schnitzwerk geblendeten, sonnengebleichten Hängebalkons eine Frauenwelt, so üppig, so wollüstig, so tief, tief feminin, so plappersüchtig und intrigant, so leidenschaftlich und sinnlich wie nirgends sonst auf der Welt, ein so reingezüchteter Frauentypus, eine so absolute Weiblichkeit, daß es ihn bei dem Gedanken daran beinahe ekelte. Und er erstickte seine Neugierde durch sittliches Ärgernis. Welch ein Abgrund von Lastern, von bestialischer Wollust, von Erniedrigung und Schande! Welche Verbrechen, welche raffinierten Roheiten, welche grausamen Abenteuer waren wohl hinter diesen Marmorarkaden vor sich gegangen, aus deren vergitterten Gucklöchern das Spülwasser durch schmutziggelbe Rinnen abfloß!

Was hatte der stumpfe Eunuch mit dem verrunzelten Stiefelledergesicht, der in seinem Diplomatenrock da draußen an der niedrigen Pforte hockte, schielend wie ein bissiger monomaner Kettenhund, nicht alles schon gesehen! Was lag wohl auf dem Grunde der drei tiefen Bronzebrunnen im Hofe des Harems verborgen? Ob es denn wirklich wahr war, daß es hier einen Raum gab, wo die Weiber an den Fersen aufgehängt und mit einer Flußpferdpeitsche gezüchtigt wurden, – ein Blaubart-Zimmer, dessen Wände beschmiert waren von Blut und ausgerissenem Kopfhaar? In seines Herzens Tiefe verachtete er diese Orientalen, die hier Staat spielten und wie eine Schar halbdressierter Affen in goldbordierten Zirkus-Uniformen Hof hielten. Ihre wenigen Revolutiönchen ohne höhere soziale Ziele, ihr ganzes schnödes System von Unterschleifen und Bestechungen, dies alles ärgerte ihn. Wie oft war er nicht anläßlich irgendeines mystischen Giftdramas oder eines mitten bei einer prinzlichen Tafel stattgehabten kleinen Kugelwechsels nach einem dieser Paläste geholt worden! Es hatte ihm allmählich alle Araberpraxis verleidet, so glänzend sie ihm auch bezahlt wurde. Und mit derselben zur Schau getragenen Würde und heimlichen Geringschätzung begegnete er auch diesem Orientalen hier, der ihn gerufen hatte, ohne an einer anderen Krankheit zu leiden als an der, die das ganze Morgenland ergriffen hat: weit vorgeschrittene moralische Auflösung.

Wie das kleine tabakbraune Gesicht des Pascha auf dem gestickten Kissen ruhte, mit strammen Zügen, seitwärts gespannten Lippen, die die langen gelbgeriffelten Zähne entblößten, und dem wie Falkenfedern an die gerunzelte Stirnhaut geklebten weißen Haar, fand der Arzt darin eine Ähnlichkeit mit den abscheulichen altägyptischen Mumien, die Mariette kürzlich im Museum zwischen guter Kunst aus der großen Zeit aufzustellen für gut befunden hatte. Dieselbe dürre Grausamkeit, derselbe Zug erloschener Wollust um den trübselig lächelnden Mund, derselbe Ausdruck bitterer Todesträumereien: die Larve des Verstummten, Erstorbenen. Ja, es war das tote Ägypten, das da vor ihm ruhte – marklos infolge seiner Laster, entnervt durch Extravaganzen, erstarrt in unempfänglichem morgenländischen Fatalismus, die Größe der Kalifenzeit überlebend mit magerer Gemütsruhe und ohne Grausen vor dem nahenden Untergang. Ein traurig grinsender Augur fast eher als eine tragisch erhabene Maske! Wie erbärmlich war doch dieser schlaue Würdenträger, der sich im Augenblick der Krise krank stellte, um ein Schicksal hinauszuschieben, welches aufzuhalten er keine Sekunde erwog, dem zu entkommen er keinen Versuch machte, das er höchstens durch träge Kniffe zu umgehen bestrebt war. In Allahs Namen! Mochte geschehen, was geschehen mußte! Wenn man sich nur streng jedes Eingriffs enthielt, der die Absichten der Vorsehung hindern oder fördern konnte!

Der Doktor schrieb indessen ein Attest, daß der Pascha krank sei, und stellte nach orientalischem Brauch – den zu behindern er nicht das Recht fühlte – die Quittung für das vom Schatzmeister des Hauses empfangene hohe und auf den doppelten Betrag lautende Honorar aus. Das Attest wurde rechtzeitig an die entscheidende Ministerratssitzung abgesandt und gab eben den Anlaß zu der Khasil Effendi erteilten Mission. – –

Khasil Effendi fuhr zusammen. Mit einem Schauer, der ihm alle Glieder durchzuckte, erwachte er vollständig. Langsam wandte er sich um und blickte um sich. Er war allein, alles war still. Die Sonne hatte das Gemach verlassen, ein rotbraunes drückendes Zwielicht schlich aus den Winkeln hervor. Ein heftiger Schreck durchrüttelte ihn. Was war geschehen, was würde geschehen? Mindestens zwei Stunden mußte er schon hier gewartet haben und nichts hatte sich gezeigt. Es wurde ihm mit einemmal so todesangst zumute; er glaubte sich in einen Hinterhalt gelockt; er lauschte: Waren Bewaffnete hinter der Tür versteckt? Denn da der Pascha keinen Versuch gemacht hatte, ihn zu bestechen, war ja ein Mordanfall als näherer und bequemerer Ausweg wahrscheinlich. Ja, es war geradezu undenkbar, daß Fadl Pascha nicht versuchen sollte, ihn beiseite zu schaffen! Selbstverständlich fürchtete er ihn und erst jetzt fühlte er selbst, welch bedeutungsvolle und gefährliche Person er sei: als Vollzieher einer ganz besonderen Mission, die nur den Erwähltesten anvertraut wird.

Er stand da, zitternd, vor Angst lächelnd, das Ohr dicht an die geschlossene Tür gepreßt. Kein Laut! Ein panischer Schreck ergriff ihn. Er stürzte in den Korridor hinaus. Kein Mensch zu sehen. Und nun fiel ihm ein, daß der Pascha vielleicht Zeit gefunden, sich ihm durch die Flucht zu entziehen, und daß er seinen Vorgesetzten nun Grund zur Unzufriedenheit gegeben habe und sie ihm die Beförderung verweigern würden.

Er lief durch die Höfe zurück der Eingangstür zu. Dort trat der Polizeileutnant ihm entgegen, lächelnd, neufrisiert, zigarettenrauchend.

»Kommen Sie!« rief Khasil Effendi atemlos. »Kommen Sie!« In einem Nu waren die Soldaten unter Gewehr und marschierten in den ersten Hof ein. Khasil Effendi blieb stehen, krampfhaft lächelnd, gestikulierte mit den Armen, suchte zu erklären. Aber sein Gaumen war zundertrocken. Er schielte umher, schwenkte hysterisch den kleinen Revolver. Er mußte den Pascha haben – ihn sehen – ihm nahe sein! Er war ihm attachiert – ihm aufrichtig ergeben! Ja, er sehnte sich nach ihm mit unsagbarer Zärtlichkeit! Es war sein Pascha, sie waren miteinander verbunden, innig und unlöslich!

»Vorwärts!« schrie er. »Diesen Weg! Hier!«

Aber beim Eingang des Harems hielt der Polizeileutnant bedenklich inne, bohrte seine Säbelspitze in den Kies und schlug die Augen nieder. Seine Leute drückten sich scheu in einem Haufen zusammen. Sie wagten die Schwelle nicht zu überschreiten. Diese Stätte war unverletzlich. Keines fremden Mannes Fuß durfte sie betreten!

Khasil Effendi focht wild mit den Armen. Er schluchzte vor Schmerz und Wut. »Hier drinnen ist er! Vorwärts! Kommt!«

In der Türöffnung hatte sich plötzlich ein Eunuch erhoben, ein kolossaler Neger mit dem Fez wie einem blutigen Skalp über dem Scheitel und einem pechschwarzen Kaftan wie Rabenflügel von den Schultern bis zu den Fersen. Er hob die blassen Handflächen und seine zirpende Heuschreckenstimme warnte, drohte mit dem Gesetz des Propheten!

Khasil Effendi knurrte heiser. Das Haar sträubte sich klebrig auf seinem Kopfe. Er richtete den Revolver auf die Armhöhle des Negers, schoß und der Eunuch fiel ohne einen Laut vornüber. Khasil trat auf ihn zu, stampfte mit den Socken in sein schaumbedecktes Gesicht. »Hund!« heulte er. »Zehnfaches Schwein!« Und der Polizeileutnant hob krankhaft lächelnd die Achsel und schritt langsam über die Leiche hinweg in den Harem.

Sie durchliefen mit angelegtem Gewehr die langen pechfinsteren Korridore und Höfe; über den geschnitzten Sängertribünen brannten noch die Memraklampen. Vor ihnen war fernes Händeklatschen vernehmbar; dann das nahe Rascheln von Seidenröcken, das Schleifen von Pantoffeln und der klatschende Laut fliehender nackter Füße. Es waren die Haremsfrauen, die bei ihrem Nahen die Flucht ergriffen. Überall lagen ihre Schminkdosen und Kukumflaschen, ihre silberdurchwirkten Schals, Tamburine, abgelegte Wäschehaufen und die Zeugpuppen der Kinder, und der betäubende saure Duft von Benzoinsalbe und Frauenkörpern mischte sich mit den wallenden Räucherwolken und füllte die Korridore. In einer der Badekammern trafen sie ein junges Sundanesermädchen, halbnackt, wild vor Schreck und Scham, das Gesicht hinter den Zipfeln des Hemdes versteckt. Die Goldmünzen ihrer vielen Flechten klapperten, als sie sich heulend der Länge nach auf den Boden warf. Khasil Effendi stürzte auf sie zu, hieb mit dem Revolverkolben auf ihren Kopf und spie sie an. Seine Augen waren starr und aufgerissen, und sein Oberkörper begann sich rollend zu wiegen wie bei den Festtänzen der Derwische.

Plötzlich begegneten sie in der Tür eines großen erleuchteten Saales dem Gesuchten: Fadl Pascha an der Seite des europäischen Arztes.

Khasil Effendi duckte sich und streckte die Arme aus, um die hinter ihm einherstürmenden Soldaten aufzuhalten.

Während der Doktor ihnen in voller Front mit schaukelnden Knien entgegentrat und, die geballten Fäuste aus den Hosentaschen aufreckend, ihnen auf englisch zurief, was zum Henker sie denn wünschten, hatte der Pascha selbst nur eine Geste höflicher Beruhigung. Er hatte die Hände in die Ärmel gesteckt und betrachtete die Ankömmlinge mit einem schwach fragenden Lächeln.

Khasil Effendi, der sich einstweilen zur Not gefaßt hatte, schlug nach europäischer Sitte kavaliermäßig die Fersen zusammen und erklärte in wenigen Worten, Seine Hoheit der Khedive habe, da die Straßen infolge religiöser Unruhen zurzeit nicht ganz sicher seien, eine Ehrenwache gesandt, um Seine Exzellenz Fadl Pascha nach dem Residenzpalast zu geleiten.

Der Doktor blickte den Pascha fragend an. Dieser aber nickte nur bekräftigend und versicherte, daß er Seiner Hoheit für diese Fürsorge ungemein verbunden sei. Der Scheik der blinden Studenten von Alhazar halte jeden Tag aufreizende Vorträge im Záwiyet el-Omyán. Diese Blinden hätten den Ruf heftiger Fanatiker. Er nehme die Eskorte dankbar an und werde sich sogleich auf den Weg machen.

Der Doktor zuckte die Achseln. Er wußte nicht, log dieser Araber oder war er verrückt. Jedenfalls aber war er Patient und unter seiner Behandlung. »Gut!« sagte er. »Gehen wir. Ich gehe mit. Der Pascha ist krank und,« fügte er mit Nachdruck hinzu, »ich trage die Verantwortung für seine Gesundheit!«

Khasil Effendi verbeugte sich lächelnd und trat zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Der Doktor faßte des Paschas Arm und schob ihn vor sich her, indem er ihm den Rücken deckte. Er vernahm schleichende Schritte hinter sich, fühlte sich selbst als Weißer aber zwischen diesen heulenden Arabern vollkommen sicher. Während sie die Korridore durchschritten, blickte er scharf um sich. Er hatte den Schuß recht wohl gehört, aber alle Blutspuren waren bereits entfernt und der Polizeileutnant hatte die Leiche des Eunuchen sogleich in einen der brunnentiefen Abfallhöhlen des Harems werfen lassen.

Der Pascha nahm mit seinem Arzt den Vordersitz der Karosse ein, während Khasil Effendi, der wieder seine Stiefel angezogen hatte, ihnen gegenübersitzend, eine Konversation in dem lächerlichen Sonntagsenglisch der Missionsschule einzuleiten versuchte. Es war fruchtlos; der Doktor antwortete mit keiner Silbe.

Im Khedivepalast wurde dem Arzt während der Wartezeit ein Audienzgemach angewiesen. Ein Adjutant leistete ihm Gesellschaft und versuchte ohne viel Erfolg das Gespräch auf westeuropäische Politik zu lenken. Eine Stunde später kam Fadl Pascha zum Vorschein, begleitet von dem Effendi, der sich dicht hinter ihm hielt und hinter seiner Schulter hervorschielte.

»Dr. Edwin Bey!« sagte der Pascha, seine mageren ringbesetzten Hände reibend. »Wie ich erwartete, ist das Kabinett aufgelöst worden, aber es hat Seiner Hoheit gefallen, mir eine große Gnade zu erweisen, indem er mich zum Mudir von Kosér ernannt hat.« Er schloß die Augen, um seinen Mund erschienen leidende Linien. »Es ist der Wunsch Seiner Hoheit,« fügte er hinzu, »daß ich noch heute abend abreise. Khasil Effendi wird mich als mein Adjutant begleiten.«

Der Arzt bedachte sich ein wenig. Es war unmöglich, in den Augen des Pascha etwas zu lesen. Hier im Osten ließ nichts sich festhalten! Die Motive der Menschen schlichen verkleidet umher; man bekam sie nie offen zu Gesicht, sie waren einem europäischen Sinn unerforschbar: kohlschwarze, pechfinstere Negerpsychologie! Die Reihenfolge der Handlungen dieser Leute war unbegreiflich; ihr Zaudern, ihre Pausen schienen der Ursachen zu ermangeln, ihre Energie schoß stets jäh, in willkürlichen Ausbrüchen empor. Als Männer waren sie ewig Kinder; als Kinder allzu früh erwachsen, ohne Lachen, ohne Spiele. Kein Zweifel, es waren die schmählichsten Lebensdilettanten, die ihm jemals begegnet waren.

Er zog die Luft weit durch die Nase hinauf. »Als medizinischer Konsulent Eurer Exzellenz«, sagte er mit trockener Arztesmiene, »muß ich Ihnen diese Reise widerraten. Sie könnte von äußerst schädlichen Folgen für Ihre Gesundheit sein.« Und er maß die beiden Männer scharf.

Zu seiner Verwunderung wechselten sie einen Blick, der offenbar zum Teil auf seine Kosten ging, in welchem zugleich aber einer den anderen aufs Korn zu nehmen schien. Der Pascha lächelte verbindlich.

»Ich danke Ihnen, Bey,« sagte er. »Aber diese Reise ist nun einmal beschlossen und muß also stattfinden. Weder Sie noch ich können es hindern. Sie wissen ja,« fügte er hinzu, »was wir Orientalen über das Schicksal denken. In unserem heiligen Koran stehen folgende Worte: Keiner kann sterben außer zufolge Gottes Willen und jenes Buches, das die Grenzen für jedermanns Leben bestimmt hat.«

Bei der Heimfahrt geriet der Arzt in einen der Aufzüge der blinden Studenten. Brüllend kam die ungeheure Schar unter der Führung ihres Scheiks nach der Zuweyleh-Pforte gezogen, hinter deren amulettbehangenem östlichen Flügel ein Kuth, der zurückgekehrte Geist eines heiligen Fakirs, seinen Wohnsitz aufgeschlagen haben sollte. Die weißen Turbane der Blinden wimmelten durch die Straßen wie eine Scharf fliegender Möwen. Ihre blaugemalten Finger fuhren in die Luft empor, sie schwenkten heulend ihre Eisenknüppel und stülpten die blutigen Lider von den blassen Augäpfeln zurück, bohrten die Finger in die eitrigen Höhlen, warfen sich aufs Knie und stießen die Stirn gegen das schleimige Pflaster der Schwelle, während ihr Scheik, den grünen Turban über dem fettbleichen Gesicht, mit seinem schnaufenden schiefen Maule den Koran las. Und aus allen Seitengassen, von allen Dächern herab kam der winselnde Refrain: Allah! Allah! Allah! –

Naja! dachte Dr. Edwin Bey. Der Osten ist eben verrückt! Muß unter Behandlung! Worauf England eigentlich bloß wartet! – –

Von der Bulakbrücke segelte an demselben Abend Fadl Paschas großes Nilboot ab. An Bord waren Fadl Pascha und sein Adjutant. Außerdem zehn Polizisten als Schutzwache. Der Harem des Pascha sollte in den nächsten Tagen folgen. Mit seiner eigenen Abreise hatte man offenbar Eile gehabt.

Es war Mitternacht, als der lange rote Dahabieh um Gezireh herum langsam nilaufwärts glitt, gerudert von den singenden Bootsleuten. Und als die Sonne aufging und die Brise kam, entfaltete das Schiff seine beiden gewaltigen Mövenflügel. Von rosigem Nebel umflort, entschwanden Kairos Minarette im Morgen. Die beiden Männer begegneten einander bei der Mahlzeit, die ihnen auf einem Servierbrett oben auf Deck aufgetischt wurde: gebackene Gemüse mit Pfeffer und in einer Suppe schwimmendes Schaffleisch. Fadl Pascha nahm mit den Fingern eine Scheibe des fettriefenden Fleisches und reichte das Stück, ohne es nach Sitte und Brauch zuvor zu kosten, dem Effendi hin.

»Nicht wahr, es ist gut?« sagte er. »Bei der Khedivetafel,« fuhr er fort, »verlangen die Europäer immer eine Gabel zum Speisen. Was wir anderen nachher über sie lachen! Wie kann etwas munden, was man nicht zuvor mit den Fingern angefühlt hat! Essen Sie! Ich fühle es, es ist gut!«

Der Effendi konnte eine Empfindung der Unruhe und Verwirrung nicht unterdrücken. Es war ganz begreiflich, daß der Pascha Argwohn gefaßt hatte. Aber nun sah es ja ganz danach aus, als habe jener mit diesem Bissen Fleisch etwas vor. Es blieb jedoch nichts übrig, als diesen zu schlucken. »In Allahs Namen!« sagte er, sich auf dem Sitze verbeugend.

Die Sache war die, daß kurz vor ihrer Abfahrt ein unbekannter Bote ihm ein Päckchen überbracht hatte, das kleine grützenartige Kristalle enthielt. Er war sich sogleich über die Bestimmung dieser Gabe klar und hielt das Päckchen bereit in der Tasche. Als der Kaffee serviert wurde, ließ er rasch und unbemerkt einen kleinen Kristall in des Pascha Tasse fallen.

Dieser hielt die Augen fest auf ihn gerichtet, während sie Kaffee tranken. Ob er es weiß! dachte der Effendi und begegnete dem Blicke forschend. Der Pascha lächelte und leerte die Tasse auf einen Schluck. Ein Zucken durchfuhr ihn. Sein Mund öffnete sich langsam und für eine Sekunde schien sein Blick sich zu verschleiern. Im nächsten Augenblick war die Wirkung vorüber. Er stand auf und ging ohne ein Wort seiner Kajüte zu. Ob er es weiß? dachte der Effendi wieder. Ob es etwa zu wenig war? Morgen will ich zwei Stücke nehmen, übermorgen drei. Wir haben dreißig Tage vor uns.

Draußen wanderten die Nilufer der Fahrt entgegen – gelbbrüchige Streifen Landes. Die Federkronen der Palmen wiegten sich in dem leisen Lüftchen, ohne in dem lehmbraunen gurgelnden Strom ein Spiegelbild zu erzeugen. Später engte sich das Tal zwischen den beiden Wüstenstrecken zu einem Gürtel von grellem Grün, den wechselnden Feldern der jungen Baumwolle und des schlanken Zuckers, begrenzt von den blinkenden Wassergräben. Die Sakiehs schaufelten das fette Wasser in ihre ewig kreisenden Tonkrüge, und die leisen Geigentöne der Räder hallten über das Land, langgezogen und jammernd. In endlosem Kreisgang wanderten alle die geblendeten Wasserbüffel unter ihrem Joch dahin. Die Luft wurde leuchtender. Mittags stand der Himmel in Flammen. Und während sie langsam südwärts segelten, vergaßen sie beide ihrer Vergangenheit, des Landes, aus dem sie kamen, der Kräfte, die sie hierher versetzt hatten. Sie empfanden nur das unabwendbare Geschick, das sie aneinanderband, fühlten nur das Merkzeichen, das ihre stets wachsamen Augen einander aufdrückten, harrten nur der Stunde der Ankunft, um endlich die Kette gelöst zu fühlen, die ihr Fleisch aneinanderfesselte.

Die großen Schlammauern der Fellahdörfer glitten an ihnen vorbei. Am Ufer standen nackte Bauern, goldbraun, mit glattrasierten Scheiteln, bis zur Brust im Wasser, und lenkten die langen Wippbäume der Bewässerungsbrunnen, füllten langsam Eimer um Eimer unter dem Gegengewicht der schweren Tonkugeln. Sie beschatteten ihre Augen mit den schorfigen Händen und spähten dumpf und unwillig dem großen roten Dahabieh nach, das in der Windstille schwerfällig auf seinen Rudern dahinkroch. In keuchendem Diskant scholl der Gesang der Schiffsleute: Eleïsa! wenn die Ruder gehoben, Hallimallah! wenn sie ins Wasser gesenkt wurden.

Jeden Tag tat der Effendi eines der kleinen Kristallkügelchen in des Paschas Tasse, einige Tage waren es zwei, aber höher wagte er nicht zu steigen. Er hoffte, die Dosis jedes Tages durch die nächstfolgende wirksam gemacht zu sehen. Einmal meinte er die Wirkung stärker zu merken als zuvor. Aber der Anfall ging vorüber und schien in dem Kranken keine Erinnerung hinterlassen zu haben. Eines aber sah Khasil Effendi klar: der Pascha war verändert; er war schwächer geworden, die Sprache war mitunter lallend, die Gesichtsmuskeln schienen verzerrt wie die eines Mannes, dessen Nerven einer langsamen Lähmung erliegen, und sein Blick glich dem eines Verrückten oder eines Träumers.

Gleichzeitig aber veränderte sich auch der Effendi selbst. Diese Fahrt auf dem ewigen Nil dünkte ihm etwas Wunderbares.

Tiefer und tiefer segelten sie hinein in ein fremdes und doch so heimatliches Land. Keiner von ihnen war zuvor so weit gen Süden gewesen. Und dennoch schien es ihnen, als begegneten sie erst hier ihrer Heimat, dem Land ihrer Stämme, einer Erde, die mit ihnen selbst verwandt war.

Khasil Effendi legte seine englische Kleidung ab und kaufte von einem Scheik ein Turbantuch von seiner eigenen Körperlänge. Er saß in seinem weißen Khamis zusammengekauert vorne im Schiff und sah das Wasser rieselnd unter den knirschenden Planken dahingleiten. Und die Zeit verstrich, die Zeit verstrich! Wo war nun die große Stadt mit ihren Kontoren; wo die französischen Employés, durch deren Freundschaft er sich so sehr geschmeichelt gefühlt hatte! Eine seltsam unwirkliche Welt wuchs um ihn her auf. Stumme Tempel erhoben ihre gebrochenen Säulen gegen die bronzeroten Felsen. Die Bergmauern wiesen Reihen von Höhlen, Grab an Grab. Geheimnisvolle Kolosse von Steinbildwerken lehnten stehend oder sitzend an einem Portal und starrten hinaus über das öde Land. Er fühlte sich unsicher. Er lauschte den Gesprächen der Schiffsleute und ihren traurigen Gesängen. Da draußen war das »Kaf«, die letzten Berge, die Grenze der Welt! In den Höhlen wohnten Gjinnen und Afriten. Ihre seufzenden Klagen stöhnten durch die pechschwarzen Nächte. Die Luft war voll von ihrem Atem, von wallenden gelben Nebeln, die der krustigen Schlammschichte der Ufer entquollen. Es war die Forderung der Toten an die Lebenden: »Das Fleisch in der Erde, das Rache verlangt an dem Fleisch über der Erde.« Und Khasil Effendi kaufte von einem wandernden Ulama ein Amulett, eine mit Koransprüchen beschriebene Zinnplatte in einem Ledergürtel.

Der Pascha ließ seinen Kinnbart wachsen. Unbeweglich saß er, eine schneeweiße Glorie um das braune Antlitz, in tiefe Betrachtung des Flusses versunken, der wie eine ungeheure Schlange seinen Silberbauch unter dem Schiffe dahinzog. Hie und da kam ein Funkeln in die Augen des alten Mannes, eine Flamme, die seinen Begleiter mit schneidender Angst durchfuhr. Und aus seiner Kehle kam es wie ein Echo seiner wandernden Gedanken – Worte, die niemand verstand, Namen, die keiner kannte. Wiederholte er sich nun sein Leben? Rief er sich die Lüste seines Harems zurück oder war er schon in einer neuen Welt, in dem kommenden Lande, und sprach mit den Toten, die jenseits leben?

Khasil Effendi verließ ihn keine Sekunde; sein Blick war verzaubert von diesem weißen Greise, der langsam seinem Tod entgegensegelte. Er faßte eine Leidenschaft für ihn, die verzehrend und unnennbar war – eine Besessenheit, ein unaufhörlich stachelnder Wahnwitz. Beständig war er zu seinen Füßen, aufwartend, kriechend, schmeichelnd, um ihn in Ruhe zu wiegen und auf Kosten der eigenen Selbsterniedrigung seine stete Nähe zu genießen.

Tausende Feddan Landes besaß der Pascha auf dem Wege, den sie zurücklegten. Und von den Fellahdörfern kamen seine Bauern zum Nil herab, um ihn zu sehen. Die Omde und Ältesten der Dörfer kamen mit Gaben an Bord und saßen demütig im Kreise um ihren stummen und ewig lächelnden Herrn. Da trat dann der Effendi als sein Sahib auf, als sein bester Freund und Mittler gegenüber allen Besuchern niedrigeren Grades, und erklärte, was der schwelgende Pascha dachte. Und wenn dieser dann und wann ein Wort äußerte, unterstrich er dessen Bedeutung durch seinen Beifall und bemühte sich, die Weisheit und den Witz der Bemerkung darzulegen.

Tiefer und tiefer ging es südwärts.

Schon nahte die Zeit heran. Fünf Tage – vier Tage – drei, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten. Bis dahin mußte es vorüber sein!

Draußen breitete sich Kom-Ombos Wüstenbecken, von rosenroten Bergen umrändert. Und hoch in der Luft zeigten sich umgekehrte fremdartige Inseln mit Klippen und Palmen. Aus dem ewig wolkenlosen Himmel wuchsen wechselnde Bilder einer fernen zauberischen Landschaft, Blendwerke ohne Existenz.

Der Effendi sah längst, wie der Mann, den er als seinen Gefangenen mit sich führte, die tödlichen Merkzeichen dieser Reise an sich trug. Seine Pupillen waren groß und glänzend, tiefviolett, wie bei Menschen, die mit Belladonna oder Haschisch Mißbrauch treiben. Seine Haut war gesprungen, fahlgelb und um alle Knochen stark gespannt. Er sprach fast nicht mehr. Jeden Abend ließ er seine Matratze auf das Deck bringen und ruhte da, fieberheiß trotz der Nachtkälte und ohne der gierigen Mücken zu achten, die während der ersten Nächte in Schwärmen sein Lager umsangen. Später ließen sie ihn in Frieden. Blutlos wie ein Aas lag er zwischen seinen Kissen mit schwarzen Schorfen auf Stirn und Händen, die von Moskitobissen herrührten, und seine Lippen lallten Koranverse und Strophen alter Zaubergesänge, die der Effendi nicht verstand.

Das Niltal verengerte sich, war nichts als zwei schmale palmenumbuschte Streifen. Wie Schwalbennester lagen die Lehmhütten der Fellahs mit ihren niederen Brutöfen dicht an die Dämme des Flusses geklebt. Über den runden Taubentürmen kreisten goldig im Sonnenschein Adler und Weihe. Eine Tausendschar von Störchen segelte gen Norden. Nachts bellten die Schakale herüber von den verheerten Friedhöfen, deren Grabsteine nackt über den Gruben aus dem schmutziggelben Sand aufragten. Die steilen Randgebirge hatten eine eisenschwarze Färbung genommen. Geier hielten von den kahlen Klippen Auslug über den langen Wüstenweg, der sich kreideweiß von Totengebeinen zwischen den Höhen schlängelte. Der Katarakt war nahe. Die Entscheidung nahe. Die Menschen, die in Scharen längs der Ufer dahinwanderten, waren von fast schwarzer Hautfarbe – man hatte das Land der Neger erreicht. Die Nächte waren wie Pfuhle geronnenen Blutes, und die Sterne hingen tief aus dem Dunkel herab wie leuchtende Insekten, die sich an ihren Fäden hinausgesponnen haben, phosphor-weiß und so nahe, daß man sie greifen zu können glaubte.

Eines Morgens kam ein gelber Fakir an Bord, gekleidet in einen Dilk aus buntscheckigen Lappen, aber mit nacktem, von Wunden und Schmutz krätzigen Unterkörper – ein Murabit, ein heiliger Weli. Lange drehte er sich im Kreise der verstummten Schiffsleute, lockte mit seiner Rohrflöte, beschwor mit seinem Messingstab, an dem Muscheln und Mumienfinger klapperten, alle Geister des Schiffes und alle Gjinnen der Berge. Und siehe! Von dem Roof herab glitt eine Schlange, eine träge, uralte Cobra mit fetzig herabhängender schimmliger Rückenhaut. Sie folgte gehorsam der Musik der Flöte, sie legte ihren geschwollenen Kopf in des Weli Hand und er zeigte seinen Zuschauern das Gift, das unter dem Griff seiner Finger hervorsickerte. Dann führte er rasch den kleinen dreieckigen Schlangenkopf an seinen Mund, seine Zähne bissen knirschend um den Nacken des Tieres zusammen, und er spie Blut und Gift weit und zischend von sich, während der tote Körper sich in Krämpfen um seine Arme ringelte. So entführte er das Übel von dem Schiffe! Khasil Effendi aber zitterte und glaubte sich verraten. Er kniete an des Pascha Lager nieder und begann ihn seiner Freundschaft zu versichern. »Alles, was mein, ist dein! Ich bin dein Sahib! Schmerzt dich dein Auge, reiße ich das meine aus! Schmerzt dich dein Finger, haue ich meinen Arm ab!« Und die Schiffsleute rührte seine Güte. Sie lächelten. »Er ist ein großer Harami, ein großer Dieb! Er stiehlt dem Pascha das Böse und gibt ihm dafür das Gute!«

Der Effendi wußte aber, nun müsse es geschehen.

Sie hatten die ersten Klippen aus Kataralstein erreicht, die den Nil zwischen ihre ausgehöhlten Kiefer klemmen. Mitten auf einer palmengrünen Insel zeigte sich wie ein Kiosk im Paradies ein kleiner sonnenweißer Tempel. Gleich darauf aber wurde die Landschaft düster und leichenhaft. Brüllend wand der Fluß seine Wirbel zwischen kohlschwarzen Steinriffen dahin. Die Sonne sank ersterbend hinab und mischte ihr geronnenes trübes Blut mit der Finsternis. Die Welt ward unrein, stinkend von Aas. Ja, dies Land war toll, tobte im Wahnwitz gegen sich selbst! Die Nacht war ein unersättlicher Rachen, in dem alles Lebende unterging und verschwand, und mit dem Einbruch der Dunkelheit wurde alles Böse lebendig, glühte von den Klippen herab, lohte wie ein Höllenstein aus der einherstürzenden Flut. Und dort, genau im Süden, stand ein Stern, ein neues unbekanntes Bild, düster kündend, daß die Grenze der Welt nahe sei!

Khasil Effendi hatte beschlossen, an diesem Abend den Rest der grauen Kristallperlen in des Paschas Tasse zu leeren. Nun mußte es zu Ende gehen! Bisher hatte er nur Schwächezeichen, schleichende Siechtumssymptome als Wirkung der langsamen Giftpillen beobachten können. Er wußte nichts von dem Mittel, das er anwandte, vermutete nur, daß es von der geheimen Apotheke im Khedivepalast herrühre und von Fürst zu Fürst vererbt worden sei seit uralten Zeiten, da solche Mixturen von irgendeinem Hakim am Hof der Kalifen gemischt wurden.

Aber just an diesem Abend weigerte der Pascha sich, Nahrung zu sich zu nehmen. Er fühle sich zu schwach, sagte er. Khasil aber begegnete seinen Augen und verstand ihr rasches scharfes Blinzeln. Grauen und Furcht ergriffen ihn beim Anblick dieses siechen Mannes, der schlaff und fieberheiß auf seiner Matratze lag. Er ahnte, daß der Pascha sein Schicksal kenne, es lange geargwöhnt und ohnmächtig, fruchtlos dagegen gekämpft habe und daß in der Tiefe dieses Blickes das letzte Leben um Gnade, um Aufschub bat – nicht ihn, sondern das Schicksal, das alles beherrschte.

Der Effendi entfernte sich, um zu überlegen. Längst hatte er alle Politik, alle Kontorintrigen, alle privaten Beförderungspläne vergessen. Von allen ursprünglichen Beweggründen losgelöst, fühlte er nur eines: daß der Pascha sterben, heute nacht von seiner Hand sterben müsse. Ja, denn so hatte das Schicksalsbuch es bestimmt. Sie beide erkannten es als sicher und unumstößlich. Und darum weigerte der Pascha sich, an diesem Abend etwas zu genießen. Er war sich der Unabänderlichkeit seines Geschicks bewußt, aber der Koran verbietet dem Gläubigen, sich durch unvorsichtige Handlungen ins Verderben zu stürzen. Ihm erübrigte bloß, zu warten – sich zu beugen und zu warten. Khasil Effendi aber wußte, daß von ihm diese Tat verlangt wurde, um Gottes Absichten zu vollziehen.

Er wartete, bis es dunkel wurde. Er rang die Hände, daß die Knöchel knackten. Nun war es bald ganz finster. Die Klippen schwärzten sich. Aus den Wüstenbergen da draußen wagte sich schon das Geheul der Hyänen hervor. Die Luft stank von Leichen. Die Schiffsleute schliefen zwischen ihren Rudern. Nur der Turban des Steuermanns war in dem Brunnen des Steuerloches sichtbar. Unruhig schlich der Effendi auf den Bastmatten des Decks umher. Im Mittelschiff, wo das Zelt errichtet war, unterschied er das Haupt des Pascha, der, die Wange schwer an die Matratze geschmiegt, schlief. Es war wohl bald dunkel genug! Er legte seinen Turban ab, behielt nur das kleine Filzkäppchen auf dem Kopfe, den er kürzlich hatte glattscheren lassen. Die Stirnlocke strich er unter die Filzkappe – falls es zum Kampfe kommen sollte! Und er entkleidete sich bis zum Gürtel. Dann kauerte er sich auf das Lager des Kranken.

Der Pascha drehte langsam das Haupt und sah ihn an. Seine Augen öffneten sich weit, schienen dem Brechen nahe. Der Schweiß sprang ihm auf die Stirne und Khasil Effendi merkte eine tierische Ausdünstung seiner Haut, einen Gestank wie von Wild, das bis zum Zusammenbrechen gejagt wird, einen berauschenden Geruch wie von Moschus und Aas. Und in einem Nu packten seine Hände den Hals des Liegenden, umklammerten sein Hinterhaupt, bohrten ihm die Daumen in die Kehle. Das Schicksal! Jawohl! Sie waren beide Gottes Werkzeuge. Gottes gehorsame Diener, seine Schattenfiguren, seine Marionetten.

Da aber fühlte er, wie der andere Gewicht bekam, zu einer Last wurde, die sich auf ihn wälzte, und nun sah er ihn vor sich auf den Knien liegen, ihm gegenüber, die Arme wie im Gebet ausgestreckt. Das Khamis war über der weißen Knochenbrust aufgesprungen, der Bart stand ihm wie Silberflammen um das Antlitz und die Augen flammten in einem Lächeln der Ekstase und trunkenen Leidenschaft.

Schwere Erinnerungen stürmten auf den Effendi ein, während er mit dem Wankenden rang. In seinen Ohren dröhnte es wie der Ritt Hunderter von Heeren, ein Sandsturm von Mann und Roß über die Wüste mit fliegenden grünen Fahnen und dem Blitzfeuer blinkender Säbel. Der Alten Ritt – der Toten Ritt – die Wanderung all der ersten Geschlechter von Osten her. Und dumpfe Sentenzen aus der christlichen Missionsschule hackten in den Ohren. »Wie Hunde sollen sie einander fressen! Ihren Geifer sollen sie gegen sich selbst wenden!« Er fletschte die Zähne vor Raserei. Wieder sah er die höhnische Miene des englischen Doktors vor sich, seine bissigen Bullenbeißerkiefer und den messerscharfen Blick der Verachtung durch die blinkenden Brillen.

Und hier! Hier zwischen seinen Händen hatte er einen knienden Mann. Einen Heiligen! Einen Scheik, der die brechenden Augen gen Osten wandte! Sein Griff erschlaffte. Und im selben Augenblick fühlte er Arme um seine Schultern, eine sekundenlange würgende Umarmung und des Paschas Mund an seiner Wange! Ein Kuß! Ja, dieser Kuß der Vergebung, den der Araber seinem Feinde nach beendetem Kampfe schenkt! Stechend, schneidend – ein Brandmal, das sich bis an die Knochen der Wange bohrte. Er schrie auf, griff in das Dunkel hinaus, tappte in eine Finsternis von Widerstand und Gestank und fühlte eine Last schwer von sich taumeln. –

Die Schiffsleute fanden ihn am folgenden Morgen nackt auf dem Decke, nicht bewußtlos, aber steif unter Krämpfen. Er lag in einem Pfuhl von Schlamm und Blut. Sie näherten sich, um ihn aufzurichten und an den Mast zu lehnen. Nach dem Pascha fragten sie nicht. Alle hatten gewußt, daß er eines Tages nicht mehr an Bord sein würde. Aber auf der Wange des Effendi sahen sie eine Wunde, einen Hieb, der bis an den Knochen ging. Sie kannten dieses Merkmal eines Vampyrbisses. Ein wenig später brach er in Tobsucht aus, und als sie ihn greifen wollten, schnappte er nach ihnen, biß mit schäumenden Lippen um sich wie ein toller Hund. Da schlugen sie ihn mit ihren Rudern, bis er ruhig wurde. Dann banden sie ihn, hüllten ihn in Decken und trugen ihn ans Land. – –

So erzählten mir meine arabischen Freunde Khasil Effendis und Fadl Paschas Schicksale. Später wurde der Effendi vollständig geheilt und erreichte es, Pascha und ägyptischer Finanzminister und ein reicher Mann zu werden, bis zuletzt die Engländer seinen Abgang forderten. Vier Jahre aber hatte er in Tollheit und geistiger Umnachtung verbracht. Man hat mir gesagt, daß Tiere in Todesangst ein Gift absorbieren, das durch ihren Biß übertragen werden kann. Doch genug davon! – Über Fadl Pascha ließ man verlauten, daß er auf einem Nilboot Selbstmord beging. Der Khedive konfiszierte seinen ungeheuren Besitz und versteigerte seinen Harem.


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