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Der blinde Passagier

Der Dampfer »Sirius« wurde aus dem Westindiendock gewarpt. Den Kai entlang liefen in geschlossenem Trupp die Dockarbeiter mit Trossen und Schlepptauen. Auf dem Deck sausten die Dampfspille, der Dampf fegte tief hin über die Blahen der Schiffsluken, und im Innern zischte und wallte es. Über die Deckplanken kam die Wachmannschaft angestampft und der Kapitän stand auf der Brücke und fluchte unter heftigen Gestikulationen.

Der erste Steuermann tanzte auf dem Achterspill eine Art Kriegstanz. Die Mütze saß ihm hinten im Nacken und er schrie und schimpfte und witzelte in englischem, dänischem und portugiesischem Slang bunt durcheinander.

Nun öffnete die große Stahldrehbrücke majestätisch ihre gewaltigen Skelettarme. Die Schraube des »Sirius« tat ein paar ungeduldige Schläge in den schmalen, offenen Wasserlauf und hielt dann mitten in einem Auftakt jäh inne. Ein kleiner, schmutziger Raddampfer, qualmend von schlechter Kohle, arbeitete sich hervor und zog davon mit einer Koppel morscher Prahmen, in denen Mais in goldenen Haufen lag; sie prallten mit anderen vertäuten und treibenden Prahmen und Flößen mit Kolonialfrachten zusammen, blieben hängen und hatten Mühe loszukommen und der Einlauf war eine Zeitlang gesperrt von einem Berg bunter Teekisten, hochroter und grüner Vierecke, die in Haushöhe aufgestapelt waren.

Neue grüne und schwarze Bugsierdampfer hielten prustend und heulend draußen im Fluß und wollten herein. Die Prahmenführer hoben ihre langen Stangen und schoben und stießen, schreiend und brüllend in jener seltsamen Londoner Docksprache, die dunkel ist wie Londons Nebel und schmutzig wie das Wasser der Themse.

Die Alarmglocke der Drehbrücke läutete. Über die Dächer der Magazine kam auf hohen Eisenbogen ein Zug herangedröhnt, der weiter wollte, hinüber und weiter; und die Dockarbeiter ließen die Trosse und Schlepptaue des »Sirius« fallen, wandten ihren Kautabak im Munde und spuckten gedankenvoll hinunter auf die Teekisten.

Durch eine der Dockstraßen rückte die Heilsarmee heran mit einem ungeheuren Musikkorps und einem großen Publikum hintenach, Bekehrte und Gottlose, Gentlemen und Hafenträger in buntem Gemisch. Sie schrien und sangen und machten Musik, tuteten in Trompeten und Klarinette und donnerten mit der großen Trommel. Es war ein Höllenlärm und drüben aus den Viehhürden hinter den toten, grauen Fassaden der Magazine kam ein ganz ähnlicher Lärm von brüllenden Ochsen aller Rassen der Welt.

Draußen auf der Themse glitt das Stromgekräusel weiter und auf ihm schaukelten gelbe Masten und bunte Schlote, die kamen und einander kreuzten und verschwanden.

Der Kapitän des »Sirius« schluckte einen Fluch nach dem andern. Obschon durchdrungen von der innigen Überzeugung, daß der Transport seines Schiffes und seiner Fracht wichtiger sei, als der ganze übrige Jahresverkehr dieses Riesendocks, sah er immerhin billigerweise ein, daß unter sotanen Umständen ein noch so berechtigter Anspruch nicht respektiert werden könne. Und er winkte dem ersten Steuermann zu, der immer noch auf der Vorluke weitertanzte, zuckte die Achseln und faßte sich in Geduld, bis die Prahmen sich von einander gelöst hatten und plätschernd längs der Seiten des »Sirius« herabkamen, während die Dampfer aus allen Kräften anzogen, soweit es die Streckweite der tangbefransten Schlepper erlaubte.

Der »Sirius« glitt hinaus in den Flußlauf und die Schraube begann das gelbe, fette Flußwasser in großen, schlammigen Schaumkuchen aufzupeitschen.

Langsam passierten sie die gewaltigen Dampfer, die hoch und schwarz wie Magazine längs des Kais standen, und eine unendliche Reihe grauer Panzerschiffe, deren eckige Umrisse der rieselnde Regen verwischte. Sie glitten an Greenwich vorbei, dessen weißes Hospital den Seefahrern seine Flügel öffnete, und an Woolwichs hämmernden Werften. Möven kamen von Nordost daher geflattert. Die Ufer wurden flacher, von gelben Lehmböschungen eingerahmt, und das weiße Zement der Forts grinste aus den grünen Bastionen hervor. Das Wasser kräuselte sich kräftiger, vom Meer her kamen Dünungen herein. Die Themse wurde breiter, breiter. Schlanke Schoner und breite Barken brausten mit vollen Segeln heran. Mitten im Strom lagen Leuchtschiffe. Und die rotgestreiften Segel der Lotsenboote bummelten umher zwischen den schaukelnden Bojen und roten Baken und suchten Beschäftigung.

Die See ging stärker. Das Land war nun bloß ein schmaler, blaugrauer Streifen am Horizont.

Erst da zeigte der blinde Passagier sein lächelndes, flachsblondes Haupt auf dem Decke.

Die Mannschaft ging und stand eben umher und spuckte über die Reling hinaus. Der zweite Steuermann räsonierte über einige laufende Waren, die nicht genug festgesorrt waren, und über einen herabhängenden nassen Fetzen, der einen großen See auf den Deckplanken abgesetzt hatte.

Der Schiffsjunge wurde fortgeschickt, um aufzutrocknen, und lief, gefolgt von dem schwarzen, dreibeinigen Schiffspudel, angstbleich davon. Er war der erste, welcher des blinden Passagiers ansichtig wurde, der just den Kopf aus dem Lukenrahmen der Mannschaftskajüte hervorsteckte.

Der Junge fuhr zurück beim Anblick dieses fremden Gesichts, das sich sogleich zu einem freundlichen, wenn auch ein wenig unsicheren Lächeln verzog. Er machte kehrt und setzte in großen Sprüngen hin zum ersten Steuermann.

»Mr. Ohlson!« rief er. » Stowaway on board, sir!«

Der Erste Steuermann geriet in Wut, er wußte, daß dies hinreichte, um dem Alten für sämtliche sechsunddreißig Tage der Reise den Humor zu verderben. »Sirius« war mit getrockneten Fischen, Speck und Filzwaren nach Rio verfrachtet. Es gab viele Tage lang keinen Hafen, und das letzte Lotsenfahrzeug war außer Sicht. Vermutlich würde der Alte den Schmarotzergast ersuchen, baldmöglichst vom Bord zu spazieren und in seinen eigenen Wasserstiefeln weiterzusegeln.

Er traf den Chef in der Kapitänskajüte zwischen Lugbuch und einer Whiskyflasche, die stets für den Lotsen herbeigeholt wurde und aus der der Kapitän niemals trank, da er Abstinenzler war. Das Schwinden der Flüssigkeit mußte anderen, natürlichen Gründen zuzuschreiben sein.

Der Kapitän empfing den Rapport, ohne eine Miene zu verziehen. Es hatte sich just so getroffen, daß der »Sirius« auf den nächstvorhergehenden Reisen zweimal einen ungemusterten Mann an Bord gehabt, und der letzte von ihnen, dem man außer guter Behandlung sogar noch mit Geld ausgeholfen hatte, war nicht bloß mit dem Winterrock des Kapitäns verschwunden, als er von Bord ging, sondern überdies geradenwegs in die Arme der Polizei gerannt, die ihn mit einer Arrestorder wegen unzähliger Diebstähle erwartete; und er hatte hierdurch dem Kapitän des »Sirius« einen Haufen Konsulatscherereien, Überliegetage und Frachtverlust verursacht.

»Sie wissen, Ohlson,« sagte der Kapitän, »daß ich von keinem Stowaway-fellow hier an Bord wissen will. Ich will ihn nicht sehen, verstehen Sie? Ich erkläre einfach, daß an Bord keine anderen Leute sind – Sie verstehen, keine anderen Leute – als die, die ich angemustert habe. Sollten Sie oder jemand an Bord anderer Meinung sein, so trachten Sie, sich eines Besseren zu belehren. Machen Sie den Leuten verständlich, daß sie falsch gezählt haben, wenn sie einen Mann zu viel zählten. Dieser eine existiert nicht auf meinem Fahrzeug. Wir haben uns über diese Sache geeinigt, insoweit wir nicht betrunken sind und doppelt sehen.«

Ohlson war einverstanden. Teils hatte er wie sein Chef von den letzten Schmarotzern genug bekommen, teils amüsierte ihn der Einfall des Kapitäns; er versprach sich keinen geringen Spaß davon.

Er ging nach vorn und traf den Jungen. »Wo, sagst du, hast du ihn gesehen, Dick?« fragte er. Dick zeigte auf den fremden Burschen, der nun mit der Mütze in der Hand bei dem Jollenbalken auf Backbord stand.

Der Maschinist und der Jungmann Georg waren eben auf dem Wege hin, um ihn anzusprechen. Die übrigen Leute nahmen augenscheinlich keine Notiz von ihm, sie waren jeder in seiner Art geschäftig, aber alle schielten sie nach dem Hinterdeck, von wo der Kapitän zu erwarten war. Sie freuten sich auf den Spektakel, der nun losbrechen würde.

Der Steuermann aber starrte mit einer unschuldig-verblüfften Miene durch den neuen Passagier querhindurch.

»Höre, Richard, du bist noch ein junger Hund und brauchst nicht auf Kosten der Erwachsenen Witze machen. Ich sehe dort, wohin du zeigst, absolut keinen Mann, sondern nur das Heckboot und dahinter das Wasser. Und du mußt zugeben, daß deine Augen genau dasselbe sehen und ebenso die Augen von Georg, Mathias und den andern Schlingeln. Nun denn, Leute! Wir wollen von diesen verfluchten Spitzbuben, die ohne Billett mitfahren wollen, weiter nichts mehr wissen, und wir sind einig darüber, Leute, daß wir diese Art Gratispassagiere hier an Schiff weder sehen noch hören. Verstanden?« Und er blinzelte denen zu, die nun im Kreis um ihn und den Fremden herumstanden.

Sie lachten und pufften einander in die Seite. Der halb blödsinnige Jungmann Klarker schlug sich grinsend auf die Knie und tanzte umher und die andern fanden den Spaß vortrefflich. Sie legten das Gesicht in tiefsinnige Falten, schlenderten über das Deck und taten, als sei der Fremde Luft.

Dieser blieb stehen, die Mütze in der Hand. Das vage, furchtsame Lächeln wurde angestrengt, er räusperte sich, kratzte mit dem Fuße aus und begann in der Richtung des unerschütterlichen Ersten Steuermanns Bücklinge abzuliefern.

Der blinde Passagier war ein junger Bursch von schlankem Wuchs und linkischen Gebärden. Die Augen leuchteten dann und wann von Leben und Güte, meist waren sie demütig, suchend, nach Sympathie spähend. Er war schlecht gekleidet, aber sein Anzug wies viele Farben auf; ein hochroter Gürtel hielt die Leinwandbeinkleider um das blaugestreifte Hemd zusammen. In dem Aufschlag der Jacke glühte eine Nelke. Und das Haar war unter der Mütze wassergekämmt und schleckte in einer Zunge hinab über die Stirn. Dieser Kleidung eines Dockstraßenhelden aber widersprach das Antlitz, das von Gutmütigkeit und furchtsamer Unschuld glänzte. Ein Anstrich von Flottheit lag nur wie ein leichter Firnis darüber.

So stand er, ganz allein, mitten in dem starken Sonnenschein, der über ihn niederströmte und über das rotgoldenglühende Schiffsdeck und über das Meer.

Das Meer war so leuchtend blau in der Sonne, so intensiv blau und über die Wellchen hinweg tanzten Sonnenblitze wie funkelndes Lächeln, wie tausend kleiner spielender Fische, in einem langen Streifen hinaus, der mit dem Schiffe weitersegelte. Und der blinde Passagier blieb unbeachtet mitten in dieser Sonne stehen. Er ließ seine Schultern von ihren Strahlen backen und suchte Abwehr in ihr gegen das eisige Schweigen, das seinem suchenden Blick begegnete. Er hustete verlegen, verbeugte sich wieder und begann seine Stellung zu erfassen.

Nun blickte keiner mehr nach ihm hin; jeder machte sich mit Ernst an sein Tagewerk. Das Ruder wurde unter viel unnützem Geschwätz abgelöst. Neue Wachabteilungen kamen auf Deck und wurden flüsternd in die Situation eingeweiht. Es ward Mittag – Nachmittag. Der Koch steckte den Kopf aus der Kambüse heraus und sang in gellender Melodie sein Leiblied » Ben Bolt«, während er die Pfannen scheuerte. Das Schnarchen des Kapitäns drang aus der Kajüte und mahnte zur Ruhe. Alles ward stille. Nur der stampfende Takt der Maschine war hörbar und das leise Plätschern der Wogen um den Steven.

Und dann und wann die Kommandorufe des wachehabenden Offiziers für Maschine und Ruderer: »Streichen! West-Südwest! Gleichen Kurs!«

Der fremde Bursche schlenderte betrübt und verwundert auf dem Deck des Schiffes umher. Er versank in Betrachtung des halb verhüllten Dampfspills, studierte neugierig Warpblöcke und Taljen, diese ganze verwirrende Menge von Tauwerk, das an dem Vordermast herablief. Und lange stand er stumm über das Skylight der Maschine gebeugt.

Er war in der Steinwüste Londons daheim. Seemannsspelunken und Logishäuser waren sein Aufenthalt gewesen. Sein ganzes Leben hatte er unter Seeleuten verbracht; aber niemals hatte er den Fuß auf ein Schiffsdeck gesetzt.

Und nun stand er da in seiner Naivetät und wunderte sich, daß er hier keine Freunde finde, er, der gewohnt war, in seinen Stammkneipen von Tisch zu Tisch zu schlendern und all denen, die für seine Munterkeit Bedarf zu haben schienen, seine stehenden Glanznummern zum besten zu geben. Er hatte erzählt, Lieder gesungen und Akrobatenkünste gemacht, hie und da Karten gespielt und zweistimmige Flötensoli aufgeführt. Er war seiner Talente wegen geschätzt gewesen, hatte unter Kameraden seinen Spitznamen und bei den Mädchen seine Kosenamen gehabt. Und er freute sich, wenn seine Laune und sein Vortrag die ingrimmigen, wettergehärteten Gesichter bis zu jenem großen und breiten Grinsen erhellte, das ihm als Abspiegelung des Glückes galt.

Mißmutig setzte er sich auf einen umgestülpten Spüleimer. Aber sogleich kam der Maschinist dahergefahren und riß an dem Eimer, als säße niemand da. Und eine lange, schlanke Talje flog über seine Beine. Er fiel und keiner reichte ihm die Hand, als er auf dem leise rollenden Deck Halt zu gewinnen suchte.

Er fühlte sich ausgesperrt von dieser kleinen, geschlossenen Gesellschaft, diesem schwimmenden Miniaturreich, das sich ein Gesetz gegeben, in das er nicht einbegriffen war.

Und er sann traurig über eine Möglichkeit, Zutritt zu gewinnen.

Der Koch kam gravitätisch mit einer dampfenden Schüssel daher, schwenkte sie dicht an seiner Nase vorüber und verschwand in der Mannschaftskajüte. Und die Leute riefen einander. Sie kamen rasch aus Maschinenraum und Deck herbei und er hörte sie aus ihren Kojen herausstampfen.

Keiner lud ihn ein. Er begriff nicht, warum sie ihm so feindlich waren; was hatte er ihnen getan? Sein schwaches Denkvermögen mühte sich mit allen erdenkbaren Gründen.

Der Schiffshund kam auf seinen drei Beinen auf ihn zu und schnüffelte an seinen Stiefeln. Dann wandte auch er ihm den Rücken und humpelte zu seinem gefüllten Trog.

Oben auf der Brücke kam die breite Gestalt des Kapitäns zum Vorschein. Er sah schadenfroh hinab auf den Überzähligen, und als dieser die Mütze vom Kopf riß und demütige Kratzfüße machte, starrte er unbeirrt, wie geistesabwesend, hinaus in die Luft. Und der andere fror dabei. Er hatte das Gefühl, als sei er durchsichtig, und als striche die frische Seebrise quer durch seinen Körper.

Aus der Mannschaftskajüte herauf drang ein hohles Schnarchen, drei, vier verschiedene Töne, welche stiegen und sanken. Er fror nun ernstlich, und er suchte sich ein Lager zwischen den Taurollen unterm Heck.

Da lag er und starrte hinauf zu den Milliarden Sternen, die, Eiskristallen gleich, hinausschneiten in den unendlichen, schwarzen Raum. Alle diese Sterne waren ihm neu, fremd; sie durcheisten ihn. Er sehnte sich heim nach Londons ebenso unzähligen traulichen Gasflammen.

Es wurde Morgen. Die Mannschaft strömte hinaus, schlenderte träge und verdrießlich an ihre Arbeit. Es war kein Zusammenhalten zwischen diesen Leuten, die eben erst gedungen worden; der Ton war ein häßlicher, des Gezänkes kein Ende. Ein paar unter ihnen waren fromm und dienten den andern als Sündenböcke. Es fehlte in diesem Kreise ganz und gar an Gemütlichkeit, und der Koch, der mit einer verstimmten Harmonika ein wenig gute Laune aufzubringen versuchte, fand bald kein Gehör mehr. Er wußte nur eine Melodie: » Ben Bolt«.

Und schon den nächsten Tag war der unsichtbare Passagier keine Zerstreuung mehr: man hatte sich gewöhnt, durch ihn hindurchzublicken. Nun rechnete niemand mehr mit ihm, man sah ihn tatsächlich nicht mehr.

Er trieb umher mit hungrigem Magen, müde und niedergeschlagen. In einem unbewachten Augenblick tat er einen Griff in die Zwiebacktonne und verzehrte heimlich wie ein Tier seinen Raub. Aber der Hunger wuchs nur hierdurch, und sein geselliger Trieb – der stärkste von allen seinen Instinkten – lag einsam erdrückt unter den traurigen Gedanken.

Der Hund Gordon schnoberte wieder an seinen Stiefeln und fand Gefallen an ihrem Geruch, und als er seinen Pelz gekraut fühlte, bezeigte er durch Schweifwedeln seine Sympathie.

Da faßte der blinde Passagier neuen Mut; während einer kurzen Abwesenheit des Koches fischte er mit der Fleischgabel im Suppentopf. Er wurde gesehen, da aber seine Nichtexistenz ein Faktum war, das kein Auftreten gegen ihn erlaubte, begnügte man sich, in den Bart zu brummen und, was zu verstecken war, hinter Schloß und Riegel zu verwahren.

Es wurde wiederum Abend, und die Mannschaft sammelte sich auf dem Vorderdeck. Man versuchte ein Rundspiel in Gang zu bringen, aber niemand verstand sich darauf, es zu leiten. Der Maschinist wußte zwar ein paar unsaubere Lieder, aber er war heute heiser wie ein Rabe.

Der Koch holte seine Harmonika aus der Küche und begann » Ben Bolt« zu spielen, der zweite Meister lieferte den Baß, indem er auf einem Wassereimer klapperte, und der Jungmann Georg trommelte dazu auf der Lukenklappe. Aber dies alles war schon zu oft wiederholt worden. Die Leute gähnten und dachten an ihre Kojen und der zweite Küchenmeister versank in traurige Erinnerungen an ein Mädchen, Sally, das in einer Kneipe sein Herz berückt und ihn um ein Pfund Sterling ärmer gemacht hatte. Er konnte ihre vollen, wenn auch ziemlich bemehlten Arme nicht vergessen. Es dunkelte. Und die Harmonika hielt mit einem jähen Aufschrill ein.

Da kam der blinde Passagier bescheiden zu ihnen hin. Er nahm die Mütze ab, machte einen Kratzfuß, wie er es in den Kneipen zu tun pflegt, faßte eine der Pardunen des Vordermastes, und hub an, drauf loszusingen.

Es war ein Lied mit Flötensoli, mit Vogelgezwitscher und mit ein paar seltsamen Kehlenglucksern am Schluß, die keiner in dem ganzen Dockviertel ihm nachzuahmen vermochte, ein äußerst zweideutiges Lied von Seeleuten, die im Hafen landen. Aber er sang es mit seinem reinen Tenor, mit Pathos, mit dem Ernst eines Konzertsängers. Und er benahm seinen Zuhörern förmlich den Atem.

Als er aber schwieg, sahen sie einander verstohlen an und keine Hand rührte sich zum Beifallklatschen. Und wie stets zuvor, sahen sie quer durch ihn hindurch, hinaus auf das weite, nackte Meer.

Er beugte demütig das Haupt. Er hatte nichts von dem siegreichen Mut des Tausendkünstlers, er war verlegen und bescheiden, und seine Mienen waren affektiert und unfrei. Aber er setzte sein umfangreiches Programm weiter fort, er gab sogar seine einzige große Opernnummer aus » Le connetable«, die er irgendeinem Sängerwrack in weiß Gott welcher Spelunke abgelernt hatte.

Und die Bemannung des »Sirius« hörte in tiefer Ergriffenheit zu. Die Musik umfing sie mit ihrem Bann und brachte ihre einfachen Gemüter einander näher, und als er abermals umschlug und eins seiner grobkörnig-witzigen Couplets vortrug, die er mit Gesten und Grimassen begleitete, da erhellten sich ihre ausdruckslosen Gesichtsflächen zu jenem großen, breiten Grinsen, das dem Vortragenden als das Kennzeichen menschlicher Lebensfreude galt. Er kam in Zug, in Ekstase, er zappelte wie ein Affe, gurgelte und nieste, ergriff zuletzt ein Tauende, hielt es wie ein gefälltes Bajonett vor sich hin und hüpfte hockend über das ganze Deck.

Und sein Publikum lachte, als sollte es umfallen. Dann aber sah es einander scheu an und schwieg.

Mit ihm sprach niemand. Er war wie blaue Luft um sie her, die sie einatmeten, ohne ein Wort zu verlieren.

Der Kapitän stand auf der Brücke, und seine Augen blitzten ein wenig in dem glatten Steingesicht. Als er aber das beharrliche Schweigen der Leute sah, nickte er zufrieden. Eine Ordre ist eine Ordre und der Chef, der eine gegebene Ordre anulliert, hat seine ganze Disziplin zum Teufel geschickt.

Und doch bildete dieser Abend den Anfang zu der Aufnahme des blinden Passagiers in die geschlossene Clique auf dem Decke des »Sirius«, wenn er hierdurch auch nicht weniger unsichtbar wurde. Er war eben ein bisher vermißtes Element. Jeder Kreis, jede Klasse – vor allem aber eine Schiffsmannschaft – muß ihren Gemütsmenschen, ihren Bajazzo, ihren Witzbold haben, um sich wohl zu befinden.

Der »Sirius« nahm den neuen Mann still und unbenannt auf. Nach außen blieb alles wie zuvor: niemand sprach mit ihm, niemand sah ihm in die Augen. Aber alle lauschten sie, wenn er sang, sperrten die Augen auf, wenn er seine Kunststücke machte. Sie brachen die Vorschrift nicht, die sie sich selbst gegeben: ihn nicht mitzuzählen. Ihre einfachen Begriffe vermochten diese Regel nicht so rasch zu ändern. Es verknöcherte sich in ihnen die Vorstellung, daß er keinen Anspruch habe und haben dürfe, zu den Existierenden gezählt zu werden. Und sie ließen ihn nach wie vor seine Nahrung hinter dem Rücken des Koches stehlen.

Er wurde die Freude auf ihrer langen und trübseligen Fahrt, und sie bezeichneten ihn mit dem Namen »Joy« – Freude – weil sie ihn nicht wie einen Mann, nicht wie einen von ihnen benennen wollten.

In ihrem primitiven Gemeinwesen war er die Kunst, war alles, was am wenigsten zu den Bedürfnissen des Lebens gehört und dennoch je nach Rang – von einem Leierkasten bis zu einer Stradivarius – für das Behagen jedes Menschen notwendig ist.

Man gewöhnte sich, ihn stets um sich zu haben, wartete auf seinen Aufgesang, ehe man die Arbeit begann. Und als der zweite Küchenmeister eines Morgens seine Schiffskiste, die auf Deck getragen wurde, frisch gemalt, schön geädert und sogar mit einem Stern und dem Namen »Sirius« in Mohnrot geziert fand, brachten die Leute einer nach dem andern ihre Schiffskisten abends auf Deck. Und sie nahmen es als selbstverständlich an, daß sie sie des Morgens geädert und mit einem Stern geschmückt fanden, der der Signalflagge des »Sirius« glich.

Aber immer noch war »Joy« blinder Passagier. Und er verrichtete seine Werke nur mit halber Freude und häufig in tiefen, melancholischen und einsamen Grübeleien. – –

*

Der Passatwind braust gleichmäßig und frisch; runde, zugespitzte Wogen kamen reihenweise über das Meer gestampft. Das Schiff rollte stärker als zuvor, alle lose umherliegenden Waren wurden festgesorrt, die Luken sorgfältig verschallt und um den Speisetisch Bretter befestigt. Das Salzwasser spritzte bis über den Steven.

»Joy« ward bleicher. Er aß nicht. Er blieb den ganzen Tag in seinem Segeltuchloch liegen, und sein Antlitz war grün. Aber keiner half ihm, keiner sprach davon, ihm zu helfen. Und doch vermißten alle seinen Aufgesang, wenn die Tagwache auf Deck kam.

»Sirius« glitt in seinem Kurs weiter.

Eines Tages war der Himmel mit treibenden Wolken übersät. Schwere, gelbe Streifen standen im Nordwest; im Süden war die Luft von der Farbe des Stahls.

Und die Kämme der Wogen wurden scharf, sie knickten trotzig über und Schaum spritzte siedend aus dem Bruch wie Blut aus einer Wunde. Das Wasser wurde schwärzlich und wilder in seiner Bewegung, heisere Windstöße fuhren darüber hin und schälten die Rinde der Wogen in regenbogenspielende Tropfen. Gegen Abend ging die Sonne in drohend flammenden Strahlenbündeln unter, der Himmel blieb lange wie eine glühende Kuppel, an der die Wolken hingen gleich schmutziger Vulkanasche. Des Nachts brach der Sturm los, ein Orkan, ein Zyklon fast.

Der blinde Passagier kroch im Schutz des warmen Maschinen-Skylights zusammen. Er wagte sich nicht hinab in die geschützte Mannschaftskajüte, noch weniger aufs Achterdeck, wo Kapitän und Steuermann ihr Reich hatten. Die Seekrankheit war vorüber gegangen, nun war nur die Angst geblieben. Die nebelhafte Sehnsucht nach tropischer Sonne und den wunderbaren Häfen des Südens, von denen er geträumt, während die Gäste in den Kneipen von ihren Fahrten erzählten, sie schwand nun völlig vor dieser großen Angst, der Furcht vor dem Nassen, dem Kalten und beißend Salzigen, das sich da in gewaltigen Rücken erhob und die weite Aussicht verbarg und brüllend daherfuhr, lange Fangarme ausstreckte und über das Vorderdeck des Schiffes strich, so daß die Planken unter der Wucht krachten. Er empfand so intensiv die unermeßliche Tiefe unter sich. Das Meer war nicht mehr wie eine massive Fläche, die jede Last zu tragen vermochte. Alles schien nun in dessen Tiefe zu versinken.

Die Bemannung kam an den ausgespannten Strecktauen dahergetaumelt. Sie waren alle in Ölröcken und Seestiefeln. Der Kapitän selbst stand auf der Brücke in zottiger Mütze mit Ohrenklappen.

Und wie immer gingen sie an dem blinden Passagier vorbei, sahen ihn nicht an, nahmen keine Notiz von ihm.

Das Wasser lief in breiten Rinnen an dem abfallenden Deck hinab. Jede Minute stand luvwärts eine Wasserwand lotrecht auf und fiel überknackend wie eine Mauer mit dem Getöse von herabstürzenden Ziegelsteinen zusammen. Und weiter drehte sich die Woge um den Steven, der Nase und Spriet tief in das Wasser steckte.

Wasser fegte von oben herab. Die Bö schien sich just da, wo das Schiff schwamm, im Brennpunkt zu sammeln. Der Regen schmeckte salzig wie die Wellen und peitschte große Tangfasern mit herab. Das Getöse wuchs, ging in Rasseln, in Krachen über. Backbord Reling tauchte aus einer Woge auf, und eine drei Ellen breite Bresche gähnte nahe an der Rüste; die nackten Eisenstützen ragten hoffnungslos hinaus in den Regen.

Der Kapitän stand auf der Brücke und fluchte in seinen Bart. Abermals kam das Schiff der See querüber. Ein Mann kletterte über das Deck und hieb einige Wrackstümpfe fort.

An der Seite des Kapitäns stand der Steuermann und schrie durch das Sprachrohr zu der Maschine hinüber und die beiden sahen gleichzeitig, wie der blinde Passagier einsam da vorne stand und sich an das Geländer der Lukentreppe klammerte. Sie sahen ihn beide, aber sie sprachen nicht von ihm. Und die Leute, die im Mittelschiff arbeiteten, wußten gut genug, daß er da vorne stehe und sicherlich in kurzem nicht mehr da stehen würde.

Neue Wogen brachen über das Vorderschiff, eine von ihnen steil und scharf wie ein Felsen, in ihrem Gefolge eine kleinere, rund und mit vielen kreisenden Kämmen. Und als sie sich gegen Südost verzog, sahen alle die, die an Bord waren, etwas wie einen gelben Ball an deren Seiten herabgleiten, und ein blutrotes Tuch darunter – noch eine Minute sahen sie es – bis die Schaumkaskaden aus einer noch größeren Welle herabzischten, die die Schleppe der anderen erfaßt hatte und alles zu Boden warf.

Die Mannschaft des »Sirius« schielte einander an. Aber keiner von ihnen sprach jetzt oder später von dem, was er gesehen hatte. – Es war eben wie zuvor – kein blinder Passagier an Bord.

Sie liefen hin und her und verrichteten ihre Arbeit und der Sturm nahm zu. Dieser Sturm war kein Spaß. Sein Brüllen war ohrenbetäubend, ein Chaos von Tönen.

Und als der Wind sich sänftigte, glitt der »Sirius« über gewaltige, runde Dünungen hinein in kalten Seenebel, der wie lange Zotten hinabhing; ein Nebel, der alles durcheiste und dicht wie rostrote Gardinen herabgeschaukelt kam, alles verhüllend. Die Masten verschwanden, und das Vorderschiff verschwand vor den Augen derer, die auf dem Achterdeck standen.

Alles ward so seltsam still. Der Nebel dämpfte jeden Laut und das Stampfen der Schraube scholl wie fernes Röcheln eines sterbenden Tieres.

So dicht wurde der Nebel, daß niemand mehr des Nachbars Antlitz sah. Sie tasteten durch die weiße Finsternis hindurch einer nach des anderen Händen.

Und stumm wie ein grauer, trauriger Schatten, in eiskalter Nässe, verfolgte der »Sirius« seinen Kurs.


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