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Der elektrische Kuß

Diese Schauspieler! sagte der Theaterdirektor. – Diese Schauspieler! Daß sie auch draußen im Ernst des Lebens Komödie spielen – dazu schweige ich noch! Es ist ihre Natur. Sie sind Künstler – leider Gottes, möchte man für sie sagen! Aber wenn sie erst anfangen, droben auf meinen Brettern mitten in der Farce Menschen zu spielen – na, dann wollte ich mir lieber den erstbesten Direktorposten an einem richtigen Affentheater ausbitten!

Ich bereiste eines schönen Jahres mit einer Gesellschaft sehr guter Gesangskräfte den größten Teil von Skandinavien.

Idette Back war bei weitem die hoffnungsvollste meiner jungen Damen. Ich spreche von der Zeit, in der sie noch nicht entdeckt war, in der die Berühmtheit sie noch nicht innerlich vollständig ausgehöhlt hatte. Damals war sie noch eine wirkliche Künstlerin. Und ich sage Ihnen: innerhalb und außerhalb der Bühne, wo sie ging und stand, umgab sie jenes Fluidum von Kunst, das man nicht beschreiben kann. Eine magnetische Kraft ging von ihr aus – was weiß ich! Dabei war sie klein und schmächtig – jedoch im übrigen! – Ach, Sie haben Idette damals nicht gekannt – mit Augen, unschuldig wie Veilchen, und einem Mund, der eine einzige kleine, rosenrote Lüge war. Zu jener Zeit hielt sie gute Kameradschaft mit einem sehr talentvollen großen Jungen, Fridman mit Namen, der nicht lange darauf – zu seinem Glück – die Bühne verlassen hat.

Idette und er waren beständig beisammen. Er erzählte uns anderen, sie wollten heiraten, sobald die Tournee beendet sei, und gleichzeitig der Bühne auf immerdar Lebewohl sagen. Idette widersprach ihm nicht und ließ sich draußen im Foyer in jeder freien Minute äußerst gründlich von ihm abküssen. Zum Ärger der Kollegen beiderlei Geschlechts, die beständig entweder in ihn oder in sie verliebt waren.

Wir studierten damals eine neue Operette ein. Der ganze Unsinn dieses Meisterwerks rotierte um zwei Punkte: einen Kuß und eine Ohrfeige! Der Titel lautete: »Der elektrische Kuß«.

Es war klar, daß Idette in der Hauptrolle, als Suzanne, die alle Männer in elektrischen Zustand versetzt, überwältigend sein mußte. In der Rolle des Gemahls, eines vertaterten Barons, der beständig mit einer Ohrfeige in der Tasche umherläuft, war Fridman sehr verwendbar. Für den armen desperaten Liebhaber, der zuletzt sowohl Suzannes schmachtenden Kuß wie des Barons langverwahrte Ohrfeige einkassiert, hatte ich einen neuen Mann gewonnen, einen in seinem Lande sehr angesehenen schwedischen Tenor: Herrn Felix Rolander. Fridman konnte ihn nicht leiden. Er ging soweit, es sich zu verbitten, daß Idette mit ihm spiele. Idette sagte gar nichts, sandte mir aber ein Paar Augen zu, schmelzend, voll Lächeln und Hinterlist. Und ich sah dabei akkurat die Spitze ihres unartigen rosenroten Züngleins. Da wußte ich denn Bescheid und sagte zu Friedman ein paar liebenswürdige Worte. Wenn es ihm nicht an meinem Theater behage – dann bitte –! – Na, da fügte er sich denn und hielt den Mund. Der Esel wußte nämlich nicht, wie unentbehrlich er war.

Wir machten uns also ans Werk mit dem Blödsinn und brachten es glücklich dahin, ein wanderndes Tollhaus auf die Bühne zu stellen.

Mein neuer schwedischer Tenor sang wie ein Engel und hatte Manieren wie ein Tanzmeister – kurz, er war der vollendete Kavalier und dabei von der nötigen triefenden Sentimentalität.

Bei den Proben mußte er den flüchtigen Beobachter fürs erste enttäuschen; ich machte eine Bemerkung darüber, – »Seien Sie beruhigt,« sagte er. »Ich schone meine Kräfte. Ich markiere bloß. Bei der Premiere werden Sie schon sehen. Dann lege ich die Sordine beiseite!«

Ich war bei der Premiere nervös. Das bin ich immer vor aufgelegten Erfolgen. Es ist mein schlechtes Gewissen, glaube ich. Welche Stadt es war, tut nichts zur Sache. Eine Provinz-Metropole, spießerhaft und dennoch verderbt genug, um meine Operette genießen zu können. Das Haus war mehr als ausverkauft.

»Nanu!« sagte ich zum Kapellmeister. »Steigen Sie also hinab und servieren Sie das Gift!«

Das tat er. Ich selbst war von den Proben her längst immun gegen all die kitzelnden Walzer, die elektrischen Flötentriller und betörenden Geigenstriche, aus denen diese Operette destilliert war. Aber ich merkte das stillselige Zittern des Publikums, während das Orchester ihm immer mehr des süßen Giftes in die Sinne träufelte. Und mit Schaudern gedachte ich der hoffentlich hundert Aufführungen, während derer ich, zuletzt bloß noch ein Bündel gereizter und schmerzender Nerven, diesen teuflischen Kußwalzer und das schmetternde Tohuwabohu des dritten Akt-Finales würde erdulden müssen – um in den nächsten zwei Jahren das Ganze von fünftausend Leierkästen und zehntausend Grammophonen unaufhörlich quäken und dudeln zu hören.

Nun gut! Ich stand in den Kulissen und summte etwas ganz Taktwidriges vor mich hin, um die Melodien da draußen loszuwerden. Das Theater in bester Stimmung, das Publikum gefaßt auf das Allertollste!

»Passen Sie auf!« sagte ich zu Fridman. Er stand nicht weit von mir, hungrigen Auges Idette bewachend, die mit schmeichelnden Walzerschritten einherglitt, während der schwedische Tenor – träge und verschmitzt wie ein hinterhältiger Kater – seinen Katzenbuckel hob und miaute. – »Passen Sie auf,« sagte ich, »jetzt beginnt der Kußwalzer.« Ich merkte, wie die jungen Damen des Parketts halb bewußtlos auf ihren Sitzen lehnten. Das Gift wirkt, dachte ich. Nun ging es nicht mehr an, gegen den Takt zu summen, denn der Kußwalzer selbst ging quer gegen allen Takt, allem Anstand trotzend, unumschränkt herrschend wie Eros selbst. Und plötzlich bricht die Melodie ab – in einem Seufzer, in einer zitternden Flamme, in einem Kuß.

Ich erwachte von einem Schmerz an meinem Arm. Fridmans Finger preßten mich wie mit Eisenklauen. – »Au!« schrie ich. – »Haben Sie gesehen?« raunte er. – »Nein, aber gehört!« sagte ich. – »Was soll das heißen? Wie lange soll das dauern?«

Er stöhnte. Das Orchester verlängerte die Pause. Rolander küßte Idette noch immer, hörte gar nicht auf zu küssen. Und sie sank berauscht unter seinem Kuß dahin.

Endlich hob sich der Stock des Kapellmeisters zum Finale des Walzerrefrains. Das Paar stand nun ein wenig getrennt, aber starrte einander vollständig selbstvergessen an. Sie kamen mir vor wie honigtrunkene Bienen.

»Na,« sagte ich, »das hat eingeschlagen. Die Leute sind ja ganz elektrisiert.«

Fridman schielte nach mir hin, sein linkes Auge wurde ganz klein, seine Pupille funkelte wie eine Dolchspitze. Seine Hände zitterten.

Trotz der Dakaporufe tanzte das Paar hinaus. Ich sah Fridman an, der in den Kulissen stand, sprachlos, mit einem Blick wie Dynamit. Glücklicherweise hing sein Stichwort auf seinem Kopfe. – »Rasch«, rief ich. »Nein, kein Dakapo. Weiter!« – – – Und hinaus mußte er.

Idette und der schwedische Tenor kamen sichtlich schwindlig an mir vorbei und trennten sich, ohne einen Blick zu wechseln. Das endet schlecht, dachte ich. Als aber der Vorhang bei Aktschluß fiel und Fridman zu uns herauskam, sah ich zu meiner Verwunderung, daß er vollkommen ruhig war zu Idettes großer Enttäuschung, die schüchtern und noch mit einem seligen kleinen Lächeln um ihren unschuldigen Mund wieder erschien, höchst verführerisch zum zweiten Akt umgekleidet.

Ich wurde von allerlei Regisseurgeschichten aufgehalten und konnte der Vorstellung nicht folgen. Plötzlich fuhr ich entsetzt zusammen. Ein Knall wie von einem Schuß ertönte, oder von einer Wagentür, die heftig ins Schloß geworfen wird. »Was war das?« frage ich den Regisseur. »Was das war?« antwortete er. – »Das war eine Maulschelle. Und was für eine! Die sitzt!« – Ach richtig! der zweite Knotenpunkt des Stückes! denke ich und spähe auf die Bühne hinaus, die einen Garten mit einem ungemein gelungenen Springbrunnen darstellt, dessen Rieseln die Violinen übernommen haben.

Na ja, da saß, wie ich vorausgesehen, der küßdurstige Liebhaber und hatte von dem eifersüchtigen Gemahl seiner Erwählten soeben eine Ohrfeige bekommen. Und was für eine! wie der Regisseur gesagt hatte. Jawohl, die saß!

Fridman stand mitten auf der Bühne, die ungeheure rechte Tatze hing ihm noch lose im Handgelenk. Herr Felix Rolander dagegen war auf seinen Sitz zwischen den künstlichen Fächerpalmen zurückgesunken, mit wild starrenden Augen, den Kopf stark zur Seite geneigt. Auf seiner linken Wange zeichnete sich in der Schminke ein wundervolles fünffingriges Relief ab.

Es vergingen einige Minuten, bevor Herr Rolander fortfahren konnte. Diese Pause wurde der Clou des Abends.

»Das war ein Treffer!« sagte der Regisseur.

Fridman kam zuerst heraus. Ich fuhr auf ihn los, außer mir, wütend. – »Was soll das heißen? Nennen Sie das Komödie spielen?«

»Jawohl«, sagte er und maß mich stolz. »Wenn man seine Kunst ernst nimmt.«

»Aber ich verbiete Ihnen das!« schrie ich. »Komödie hat mit Ernst nichts zu tun! Komödie ist Gaukelwerk! Sie haben bloß das Biest da draußen – ich meine das Publikum – zu kitzeln, bis es grinst, und ich verbitte mir, daß Sie Ihre Privatschlachten auf meinen Brettern ausfechten.« – Er zuckte überlegen die Achseln.

– »Idette ist meine Verlobte, was Sie und alle anderen wissen«, sagte er. »Solange er küßt, hau' ich.«

Damit ging er auf sein Zimmer. Gleich darauf kam Rolander. Die linke Wange war noch stark marmoriert, der Kopf immer noch ziemlich schief. Aber er zuckte mit keiner Wimper und grinste bloß gereizt, als er unsere bemitleidenden Mienen sah. Vorsichtig die Hand an die Wange führend, schielte er nach Idette hinüber, die ihm von dem Sofa des Foyers her einen keuschen, schmachtenden Blick zusandte. – »Dieser Kuß«, sagte er träumerisch, »war eine Backpfeife wert. Ja!« fügte er hinzu und seine Lippen schnupperten zärtlich die Luft ein, »ja ich hoffe, daß das Stück mindestens hundertmal geht.«

Es ging zwanzigmal in dieser und in anderen Städten – vor ausverkauftem Haus natürlich. Die bessere Presse verhielt sich allerdings ablehnend und schrieb, daß das Spiel an Lebhaftigkeit zu wünschen übrig lasse. Und natürlich hatte sie recht. Natur auf dem Theater verdirbt die beste Komödie – geschweige denn eine verfluchte Delirium-Operette.

Aber das Publikum kümmerte sich um diese Kritik herzlich wenig und wollte den Kußwalzer von Idette getanzt sehen und das Finale vom Orchester donnern hören mit seinem Schlußeffekt: dem Paukenschlag auf der Wange des unglücklichen Liebhabers. Und Abend um Abend berauschte der schwedische Tenor sich und das Publikum dreier Städte an Idettes schmachtenden Lippen; genau auf den Glockenschlag zehn kam im dritten Akt die Sensation des Abend: der ohrenbetäubende Klatsch.

Und die Töne des Kußwalzers seufzten und säuselten im Theater wie Sommerwind im Walde. Und immer zärtlicher, immer sanfter und rätselhafter lächelnd, tanzte Idette zwischen den beiden Männern hin und her.

Endlich hatte ich's satt.

»Idette,« sagte ich streng, »machen Sie ein Ende damit!« Aber sie lächelte bloß unschuldig und schlug ihre dämonischen Augen zu mir auf. – »Was soll ich tun?« sagte sie. »In der Rolle steht ja, daß ich mich küssen lassen muß.«

Dann berief ich die beiden Herren zu mir. – »Meine Herren,« sagte ich, »ich habe mir die Sache überlegt. Ich beabsichtige einen Wechsel vorzunehmen. Ich glaube dem Geschmack beider Teile entgegenzukommen, wenn ich Sie Ihre Rollen vertauschen lasse.«

Ich sah Idette an. Sie lächelte verstohlen. Ich sah den schwedischen Tenor an. Er reckte sich frech und triumphierend. Ich sah Fridmann an. Er hob rasch den Kopf. – »Meinetwegen!« sagte er.

»So sind alle zufrieden?« fragte ich. »Die Sache ist also in Ordnung. Drei Proben genügen. Wir beginnen gleich damit. Und,« fügte ich hinzu, »ich erinnere Sie, daß wir bei den Proben bloß markieren.« Ich muß gestehen, daß ich vor der Erstaufführung mit der neuen Rollenbesetzung ein wenig abgespannt war. Übrigens war der Rollentausch sehr günstig, Fridman sah weit besser aus als küßlustiger Liebhaber denn als eifersüchtiger Ehemann. Weit besser als der schwedische Tenor. Weit besser, als er selbst ahnte. Idette zeigte im Zusammenspiel mit ihm genau dieselben lockenden Paradiesfarben, genau dieselbe Zärtlichkeit und betörende Süße in Gesang und Tanz, die sie gezeigt hatte, da sie sich von den Ballettmeisterschritten ihres Schweden wiegen ließ. So gelangten wir also zum Kußwalzer.

Ich faßte den Arm des Regisseurs. – »Haben Sie gesehen?« flüsterte ich. – »Nein, aber gehört! sagte er. »Das nimmt ja kein Ende!«

Der Kuß währte eine halbe Minute länger als gewöhnlich. Idette lehnte schmachtender als je an der Samtweste ihres Geliebten. Elektrische Spannung im ganzen Raum – Todesstille im Publikum – dann ein Murmeln der Befreiung und des Beifalls.

»Donnerwetter noch einmal!« flüsterte der Regisseur.

»Wahrhaftig,« sagte ich, »man sollte nicht glauben, daß die beiden über drei Monate verlobt sind. Aber da sieht man, was wahre Kunst vermag!«

Nicht weit von mir stand der schwedische Tenor. Ich blickte nach ihm hin. Er war weiß wie die Wand.

Das Paar kam heraus. Ich beglückwünschte sie und konstatierte mit Befriedigung, daß die Moral diesmal auf seiten des Beifalls sei. Fridman trocknete sich das Gesicht, lächelte schwärmerisch.

– »Ich hoffe,« sagte er, »daß das Stück noch mindestens fünfhundertmal geht.« Er sah Idette lange an. Ihre Lippen bebten leise wie in einer Art Antwort, und sie blickte nach dem schwedischen Tenor hinüber, der düster und verlassen in einer Ecke stand.

– Schön! dachte ich. – Jetzt ist also alles in Ordnung.

Im dritten Akt stehe ich neben dem Regisseur und lausche dem Finale des Orchesters. Wir tauschen Blicke. »Hab' ich nun nicht recht?« Der Regisseur zuckt die Achseln. Er rät mir immer von allem ab, was ich vorhabe.

Da plötzlich taumeln wir gegeneinander – unter einem Schlag, einem Krach, als stürze das Haus über uns zusammen. Draußen auf der Bühne sehen wir Herrn Felix Rolander in der Maske des beleidigten Ehemanns, hochaufgereckt, drohend wie eine Gewitterwolke, die große, weiße, flache Hand noch erhoben.

– »Die sitzt!« sagte der Regisseur, während Fridman sich von den Fächerpalmen aufrichtete.

Der Regisseur sagt, ich sei vor Wut weiß geworden. Und dazu hatte ich wahrhaftig Grund – mehr Grund als ich noch ahnte.

Der Schwede kam heraus, ruhig und bleich. Ich stürzte ihm entgegen.

– »Was unterstehen Sie sich? Wollen Sie von vorn anfangen, jetzt da der andere zu Ende ist?«

»Er hat Idette geküßt,« erwiderte er.

»Na, und was geht das Sie an, wenn ich fragen darf?«

»Was das mich angeht?« – Felix Rolander hob sich auf die Zehen. Sein Haar sträubte sich wie Borsten. – »Was das mich angeht? Das will ich Ihnen sagen! Seit vorgestern bin ich mit Idette verlobt.« – Und er fuhr ruhiger fort: »Solange er küßt, hau' ich!«

Ich sah Idette an, wie aus den Wolken gefallen. Sie schlug schamhaft die Augen nieder und ließ die Spitze ihres winzigen, rosenroten Züngleins sehen.


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