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Der Fall Arnoldi

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts lebte in einem westlichen Vorort der Stadt Bern ein Ehepaar namens Arnoldi.

Der Fall Arnoldi ist niemals ganz aufgeklärt worden. Die damaligen Juristen sahen in ihm eines der unheimlichsten Verbrechen jener Zeitperiode. Als aber die Sache verfolgt wurde, ergab es sich, daß die Angeklagten unauffindbar und die Zeugen stumm geworden waren. Inwieweit Konrad Arnoldi selbst verbrecherisch fühlte und dachte, läßt sich nicht entscheiden, und würde auch seine Richter kaum interessiert haben. Die psychologische Neugierde jener Gerichtsstühle war ebenso genügsam wie die unserer modernen Juristen. Wie heutzutage die Wissenschaft, so hinderte dazumal das Vorurteil die Menschen, einander zu verstehen. Übrigens griff ja Arnoldi durch seine Flucht den Ereignissen vor.

Seinen zahlreichen flüchtigen Bekanntschaften gab er stets an, er sei Reisender für ein Wiener Haus in Lederwaren; er sprach mit intimer Kulissenkenntnis von Paris und London. Später behaupteten die meisten, immer etwas Unfaires an ihm wahrgenommen zu haben, was sie vom näheren Verkehr abgehalten habe. Und als die Sache entdeckt wurde, zeigte es sich, daß das Paar keinen einzigen intimeren Verkehr gepflogen hatte und niemand etwas Eingehenderes über ihre Verhältnisse zu erzählen wußte. Man war so sehr daran gewöhnt, sie täglich auf der Promenade zu sehen, ohne sie zu kennen, daß jedermann von der Voraussetzung ausging, es gebe wohl andere, die sie kennten, und sie daher, ohne sich Gedanken zu machen, an sich vorübergehen ließ.

Die Villa des Ehepaares lag auf einem Abhang hoch über dem Flusse und sie hätten von ihrer Terrasse die weißen Zinnen der Alpen sehen können, die wie ein scharfzähniges Gebiß auf dem Horizont ruhten und begehrlich nach dem Himmel fletschten. Man sah jedoch niemals einen Menschen hinter dem Gitter der kahlen Loggia. Das Haus verbarg seine Bewohner sorgfältig. Sie zeigten sich nur, wenn sie es für angezeigt hielten, und dann stets nur im Gewimmel der Promenierenden.

Von den acht Zimmern der Villa bewohnten sie nur drei. Hinter der Wohnstube lag ein vollkommen leeres Zimmer und von diesem führte eine starke doppelte Fülltür in jenen verschlossenen Raum, in dem das Ehepaar seinen geheimen Pensionär versteckt hielt.

Die Küche befand sich in einem niedrigen Anbau und im Untergeschoß schlief Marietta, die taubstumme Magd, die das Essen bereitete und die Einkäufe besorgte.

Marietta war eine Italienerin von mittlerem Alter und voller Gestalt. Ihr frisches, goldig getöntes Madonnengesicht mit dem stets ein wenig offenen Mund sah ebenso wie das glatte, pechschwarze Haar wie gefirnißt aus. Die Augen waren demütig und fromm, aber nichtsdestoweniger sehr aufmerksam. Es ist unaufgeklärt geblieben, ob Arnoldi sie ihres angeborenen Gebrechens wegen als Dienerin wählte, oder ob erst dieses ihm die Idee zu seinem Unterfangen gegeben hatte. Marietta war im ganzen Stadtviertel gut bekannt, und man hatte sich in den Verkaufsläden an ihre Zeichensprache gewöhnt. Sie besaß die argwöhnische Natur des Tauben, gepaart mit dem Eigensinn des Stummen, und war schwer zu prellen.

Man denke sich Herrn Arnoldi eines Tages von seiner Sonntagspromenade heimgekehrt – es war zu einem Zeitpunkt nahe vor dem Zusammenbruch und seiner Flucht.

Arnoldi hat gespeist und ist besser disponiert als des Morgens, wo die anderen ihn mit gerunzelter Stirn, die Hände unter den Rockschößen, um den Speisetisch traben sahen. Noch während des Essens hat die heftige und zornige Art, mit der er die jungen Kücken zerlegte, selbst Frau Arnoldi aus ihrer gewohnten Indolenz aufgescheucht. Erst allmählich hat sie begriffen, daß sein Ärger nicht ihr gelte, sondern Friedel. Nun sieht sie sogar einen Zug satten Wohlbehagens sich unter seinem Bart verbreiten, während er dasitzt und sich mit dem kleinen Elfenbeintaschenapparat die Zähne stochert, und gibt sich in ihrem geblümten Frisiermantel, der lose über dem aufgehakten Korsett hängt, beruhigt der gewohnten Siesta hin.

Ihr Mann sucht, ein paar Takte aus dem Chorgesang der Hochmesse gegen den Zahnstocher zischelnd, nach einem Schlüssel, den er endlich in der Tasche seiner Werktagsbeinkleider findet. Dann legt er eines der besten Stücke des Mittagsmahles, die er sich – seiner Überzeugung nach – vom Munde abgespart hat, auf einen Teller und fühlt sich dabei von Wohlwollen beseelt und gerührt über seine eigene Aufopferungsfähigkeit.

Rasch und lautlos durchschreitet er das leere Nebenzimmer, als er plötzlich entdeckt, daß die kleine Fülltür, die er nun mit dem Schlüssel zu öffnen versucht, unversperrt geblieben ist.

Einen Augenblick steht er mit hängendem Kiefer, ein eiskaltes Kribbeln um die Bartwurzeln, und außerstande, eine Hand zu heben. Hölle und Teufel! Was nun? Seine Gedanken huschen schielend nach Auswegen umher, sinnen auf Flucht, noch ehe er weiß, woher die Gefahr droht. Jawohl, denkt er. Sobald wie möglich gebe ich Fersengeld. Das geht auf die Dauer nicht weiter. Aber mit einem Male erinnert er sich, daß er selbst vergessen hatte, die Tür hinter sich abzuschließen, und er tröstet sich: Wenn die Tür auch offen ist, so fiele es Friedel doch nicht ein, das Zimmer zu verlassen, wenn er es auch aus anderen Gründen tun könnte! Nein, es fiele ihm einfach gar nicht ein!

Leise öffnet er die Tür.

In einem großen hellen Gemach mit weißgeblendeten Fenstern sitzt ein zwölfjähriger Knabe auf der Kante seines Bettes und hebt dem Eintretenden lächelnd seine gebundenen Hände entgegen.

Er ist groß für seine Jahre, aber seine Glieder sind schmächtig und Gesicht und Hände kreideweiß, als hätte seine Haut das matte, milchweiße Licht eingesogen, das durch die große Scheibe hereinfließt. Selbst das eigentümlich kräftig gekräuselte Haar ist bleich und glanzlos und fällt wie ein Ausfluß nutzlos erschöpfter Kraft um das schmale, kränkliche Gesicht, das es über den haltlosen Schultern gleichsam aufzurichten und zu stützen scheint. Der Blick lebt in tiefer und bewußtloser Kraft; es ist, als ob die großen Augen mit ihrem dunkeln Metallglanz die Welt spiegelten, ohne selbst zu sehen. Das Lächeln der Lippen verrät keine bewußte Freude, kämpft aber ebensowenig gegen irgendeinen Schmerz. Er ist in einen dünnen Leinenanzug gekleidet, die nackten Beine hält er unter sich auf dem Bette gekrümmt. So, ohne sich zu rühren, wartet er. Und nachdem der Eingetretene wortlos seine Hände befreit hat, richtet er sich langsam auf und wartet wieder.

Arnoldi setzt das Essen auf eine Fensterstufe und beobachtet aufmerksam den Knaben, der still und ohne Gier seine Mahlzeit verzehrt. Erst diesen Morgen hat er ein Anzeichen bemerkt, das sich als Auflehnung deuten ließe. Er fand es daher notwendig, Strafe eintreten zu lassen. Friedels Hände hatten nicht gehorcht. Darum mußten sie den Zwang kennen lernen. Arnoldis Instinkt sagte ihm, daß seine moralische Überlegenheit über das Kind, das er nun seit Jahren in seinem Hause eingeschlossen hielt, auf Konsequenz und Festigkeit beruhe und auf der Methode, die Strafe gerade dort erfolgen zu lassen, von wo das Vergehen ausging. Als er an diesem Morgen eintrat, klammerten Friedels Hände sich an seinen Kleidern fest. Sie mußten daher in Zucht genommen werden.

Er hat sich mit den Jahren daran gewöhnt, diesen Knaben vollsten Ernstes als geistesschwach zu betrachten; und je schwieriger er seine Aufgabe, je drückender er seine Verantwortung werden fühlt, desto mehr findet er das Gleichgewicht seiner Seele in der Überzeugung, daß Friedel wirklich ein taubstummes, stumpfsinniges Kind sei, das seiner Fürsorge anvertraut ist und für das er mit gutem Vorbedacht die taubstumme Magd zur Wartung und Zerstreuung gewählt hat. Einem Stummen tut es ja nicht gut, durch das Sprechen anderer erregt zu werden. Nun, da er die Hände des kleinen Gefangenen gelöst und ihm Nahrung gebracht hat, fühlt er eine oberflächliche Rührung über die eigene große Gutmütigkeit: ja, er verspürt sogar das Verlangen, den Kleinen zu trösten, und beschließt, einen der nächsten Tage ein neues Spielzeug für ihn ausfindig zu machen.

Aber er hütet sich wohl, ein einziges Wort zu sprechen. Er hat zu Zeiten dies kleine Antlitz sich emporheben gesehen, angestrengt und hellwach, wie nach einem Ton lauschend, gespannt hungernd nach einem verständlichen Laut; und er hat ängstlich die Lippen zusammengekniffen, um ja nicht zu singen oder zu pfeifen, wie er es zu seiner Zerstreuung zu tun pflegt, wenn er in seinem Privatzimmer auf und ab geht. Hier heißt es ja, sich in acht nehmen! Dies hier ist Arbeit, ist Kontorzeit!

Er hat kürzlich bemerkt, wie Friedel seine Gesten, seine Handbewegungen, ja sogar seine Grimassen nachahmte, als er eine zu heiße Speise blies. Er hat sich zuerst beleidigt, verletzt, dann ängstlich gefühlt. Wie lange, denkt er, – wie lange kann dies noch währen!

Es ist wahrscheinlich, daß Arnoldi Friedel schon mit sich brachte, als er sich in Bern niederließ. Der Knabe ist damals kaum ein Jahr alt gewesen. Wieso er in Arnoldis Obhut kam, wurde niemals aufgeklärt. Aber sicher ist, daß Arnoldi, der sich als Reisender für eine Lederfabrik ausgab, gleichzeitig für ein großes Wiener Haus tätig war, das Frauenexport und anderen heimlichen Handel betrieb. Vermutlich ist er auf diesem Weg zu Friedel gekommen. Offenbar war der Knabe nicht bestimmt, aus der Welt geschafft, sondern nur verborgen gehalten zu werden. Sein Leben scheint sogar nicht ohne Wert gewesen zu sein, denn es ist anzunehmen, daß die jährlichen Geldpostsendungen, die regelmäßig an Arnoldi eintrafen, in Wirklichkeit dem stummen, in vollem Sinne schutzlosen Kinde galten. Von diesen Beträgen verbrauchte Arnoldi nur eben so viel, daß er selbst sorglos leben und vor allem nichts in Angriff nehmen mußte; denn alles, was Arbeit hieß, widerstrebte ihm tief. Er legte also während seines Berner Aufenthaltes eine bedeutende Summe zurück, die er vor seinem Verschwinden bei der Bank behob. Von da an blieben die Geldsendungen aus; er hat sie entweder an seine neue Adresse richten lassen oder sie wurden aus anderen Gründen eingestellt.

Hat Arnoldi auch bald die Vorteile erfaßt, die die Vormundschaft über einen unmündigen, willenlosen Erben mit sich bringen kann, so ist er doch offenbar nicht intelligent genug gewesen, seine eigenen Beweggründe ernstlich zu beargwöhnen. Was ist auch ein Kind im Grunde anderes als ein geistesschwaches Wesen? Und als unter seiner Behandlung kein Keim eines seelischen Wachstums sich regte, bestärkte ihn dies nur in seinem Ausgangspunkt: daß dieses Kind hoffnungslos stumpfsinnig und idiotisch sei.

Er ließ ihm also die Pflege angedeihen, auf die ein kleiner Geistesschwacher Anspruch machen kann. Er brachte es nicht über sich, die schwere Stille dieser Kindesseele durch aufdringliche Erziehung und Belehrung zu stören. Er wollte keine hoffnungslosen Wünsche ins Leben rufen. Darum sorgte er für eine Führung auf dem Wege des Zwanges, aber ohne Heftigkeit und mit Ausschluß jeder Züchtigung. Er setzte bloß die Handlung, die er zu fördern wünschte, in mechanische Bewegung. Er führte das Kind an der Hand dahin, wo er es haben wollte. In sein Traumleben mischte er sich nicht, suchte keinen Weg zu einer niederen Form der Phantasie zu finden; von so stillen Dingen hatte er keine Ahnung. Der plötzliche Widerstand, den er in der letzten Zeit bei dem Knaben gefunden und der fast einer erwachenden Selbständigkeit glich, machte ihn tief unruhig und unglücklich. Es war ein seltsam bedrohliches Anzeichen, als das Kind eines Tages seine Kleider umklammerte, ihn nicht fortlassen wollte und, als er sich rasch zurückzog, mit ihm durch die Tür zu schlüpfen versuchte.

Friedel selbst hat später manches aus seinen Kinderjahren mitgeteilt; aber da er die Worte oder Namen für die Dinge seiner Umgebung ursprünglich nicht kannte, stehen sie als tonlose Bilder vor ihm, die er erst später zu bestimmen und zu benennen imstande war. Immerhin ermöglichen es seine Erinnerungen, so sehr sie durch späteres Wissen umgearbeitet werden mußten, ein wenig von jenem zarten, schwachen Dämmerleben zu erkennen, das für ihn das Weltall bedeutet hat.

Der Wechsel von Licht und Dunkel scheint seine frühesten Vorstellungen beherrscht zu haben. Ihm war er die ewig wiederkehrende Wirkung des Öffnens und Schließens seiner Augen. Nacht und Tag rannen wie eine schwarz-weiße Perlenkette durch sein Leben. Wenn die Finsternis kam, lernte er sich fügen und die Augen schließen. Dann gab es ja nichts mehr da draußen! Niemals versuchte er, mit geschlossenen Augen die Formen der Dinge wiederzufinden. Ein Nachtwesen wurde er nie, und frühzeitig lernte er erkennen, daß die Welt, die da hervorgewimmelt kam, sobald er sich auf sein Lager zurückgelegt hatte, eine ganz andere war als die, die ihn tagsüber umgab, daß dies Flüchtige, Flüsternde sich nicht festhalten und wiederfinden ließ, wenn er ein nächstesmal die Augen schloß, während all das andere fest und unveränderlich auf genau demselben Platze stand, so oft er morgens die Lider öffnete. Es fiel ihm keinen Augenblick ein, mit seinen Träumen zu rechnen, wie mit der wirklichen Welt.

Ein zweiter, aber schwächerer Rhythmus in seinem Leben war der langsame Wechsel zwischen Sattigkeit und Hunger. Eine bis zu einem Höhepunkt gesteigerte Unruhe in seinem Körper, die beständig mit gewissen Beleuchtungen im Zimmer und draußen erschallenden Geräuschen zusammenfiel, trieb ihn in seinem Bauer hin und her. Wenn Arnoldi dann mit der zugedeckten Schüssel und der Kanne Milch eintrat, fand er den Knaben stets dicht an die Tür gepreßt, lauschend, erwartungsvoll, nicht minder pünktlich wie Arnoldi selbst. Merkwürdig, wie das schlaue Bürschlein es auf den Stundenschlag zu berechnen vermochte, wann es etwas zu essen gab!

Er lernte frühzeitig das anziehend Weiche von dem abstoßend Harten unterscheiden, zugleich aber die Vorteile des Festen, Haltbietenden gegenüber dem Nachgiebigen, Entweichenden erkennen. Den Schmerz in starker und geschärfter Form hatte er wohl kaum je empfunden. Er war niemals krank gewesen. In seinem beschirmten Dasein waren Behagen und Unbehagen die äußersten Grenzpunkte zumindest seiner körperlichen Wahrnehmungen. Allzu große Kälte und Hitze begegneten ihm nicht in seiner wohltemperierten Welt. Sein Leben hatte nicht die breitere Einteilung von Sommer und Winter; es bestand nur aus ungezählten Tag- und Nachtstunden. Ein anderes Zeitmaß kannte er nicht. Hie und da lernte er, wenn er fiel oder gegen eine harte, scharfe Kante anprallte, den Unterschied des gewöhnlichen Zustandes von der Schmerzempfindung kennen. Die Gefahren in seinem Leben waren jedoch spärlich und gleichartig. Der Schmerz erschreckte ihn und lehrte ihn, sich vor Wiederholungen zu hüten.

In der Schätzung von Entfernungen gewann er bald Übung. Die erste Grenze war: so weit seine Hände reichten; die zweite: so weit er kriechend gelangen konnte. Er verfiel von selbst auf die Weiterbewegung von Stelle zu Stelle. Lange hatte er voll Interesse die Dinge betrachtet, die außerhalb der Reichweite seiner Hände lagen, und der Wunsch, sie zu erreichen, lehrte ihn kriechen. Was ihn trieb, war nicht das Verlangen, sich eßbare oder brauchbare Gegenstände zu verschaffen – denn den Kampf ums Dasein kannte er nicht; der Himmel gab ihm das Manna, das ihm vonnöten war – sondern der bei weitem stärkste Ansporn seines Lebens, sein Wissens- und Forschensdrang.

Bald kannte er die Welt im Niveau des Fußbodens; dann rief ihn das Licht, und als er wuchs und seine Beine erstarkten, erhob er sich.

Schon lange war das hochsitzende, vergitterte Fenster sein Ziel gewesen. Von dorther kamen ja alle Dinge in die Welt. Von da droben wurden sie erschaffen. Je näher man dieser Stelle war, desto deutlicher wurden sie, während da unten, wo er sich bisher aufgehalten, auf dem Fußboden, in den Winkeln alles unscheinbarer, minder reich und minder mannigfaltig schien. Da unten wohnte das, was jedesmal angeschlichen kam, wenn ihm die Augen schwer wurden, und, Glied um Glied, Ding um Ding, die ganze Welt auffraß. Dann breiteten die Winkel ihre Macht bis über die Wände hinauf, schlichen empor und schlossen sich dichter und dichter um das leuchtende Viereck da oben, schnürten sich darum und drosselten es, bis es langsam verblaßte und mit all dem Übrigen endlich hinabstürzte in das gähnende Nichts. Darum war diese vergitterte Scheibe das liebste und all seine Bewegungen sammelnde Ziel seiner Welt geworden.

Eines Tages fand sein Herr ihn auf beiden Füßen stehend und an der Wand entlang stolpernd. Er betrachtete ihn stolz und vergnügt, schüttelte lächelnd den Kopf und schaffte ein Doppelhängeschloß an die Tür an.

Die Sonne bekam der Knabe nie zu sehen. Sie blieb in dem Milchglas der Fensterscheibe verborgen, in eine undurchdringliche Atmosphäre gehüllt. Aber so oft er morgens erwachte, war es sein erstes, das steinerne Gesichtchen dem bleichen, vergitterten Glas zuzuwenden. Nachdem er alle Entfernungen in seiner eigenen Körperhöhe durchmessen hatte, begann er höher zu suchen. Auf seinem Lager liegend, machte er sich daran, mit emporgestreckten Armen die Substanz seiner Wände zu untersuchen, da, wo das harte Holzgetäfel aufhörte und die weichere Tapete begann. Er orientierte sich ohne klares Bewußtsein, aber nach still vorschreitenden Regeln. Erst viel später verfiel er auf künstliche Mittel, um noch höhere Ziele zu erreichen. Als er im achten Jahre stand, traf Arnoldi ihn auf einem Schemel stehend, den er auf sein Bett gestellt hatte; da stand er und langte mit den Händen nach der fernen Scheibe da oben. Arnoldi erschrak, zerstörte resolut diesen Babelsturm und stellte sich zornig, um das Kind über den wahren Beweggrund seines Schreckens zu täuschen. Und er strafte es, indem er ihm für einen ganzen Tag ein Tuch um die Augen band, um durch die Finsternis seine Begriffe zu verwirren.

Als der Knabe solcherart die Unmöglichkeit eines weiteren Vordringens einsah, begann er, seine Welt in ihren Einzelheiten zu untersuchen und die Dinge in ihre Bestandteile zu zerlegen. Er strich mit den Fingern über die unebenen Flächen der Mauern und Möbel, folgte, auf den Knien liegend, dem Muster der Holzdielen, prüfte jede kleine Kante, vertiefte sich in jede Höhlung und versuchte zu ergründen, was die Bestimmung all dieser Bestandteile sei. Unzählige Male war er bisher zwischen seinen Wänden hin und her gewandert, mit einem blinden Gefühl für die Grenzen des Raumes, die ihm geboten, da und dort stehen zu bleiben und Kehrt zu machen. Nun verfiel er darauf, seiner Bahn willkürliche Formen zu geben. Er bildete sich Stationen auf dem Weg, suchte interessante Punkte und bekam Sinn für die Form seines Wanderns; er gefiel sich in rhythmischen Kurven und Schwenkungen, wiegte sich beim Wenden, beschrieb Schleifen und Parabeln. Und er begann zu begreifen, daß in seinem Gang Einheiten seien, daß sein Schritt Längen absteckte und daß stets derselbe Vorgang sich wiederholte, so lange er ging, genau dieselbe Bewegung seiner Füße, so und so – und jetzt nicht mehr – und nun wieder und wieder!

Frühzeitig erwachten Ehrfurcht und Dankbarkeit in ihm. So oft der leuchtende Fleck oben auf der Wand eine gewisse Stärke erreichte und die Dinge der Welt grell hervortraten, und zum zweitenmal wiederum, wenn sie bis zu einem ganz bestimmten Ton verschwunden waren, geschah es, daß die Welt sich auftat und ein Wesen offenbarte, das nur dann in die Erscheinung trat.

In seinen ersten Jahren besaß Friedel keine Erkenntnis dessen, daß diese Erscheinung stets die gleiche sei. Er faßte Arnoldi nur als ein Ereignis des Tages, als eine Tatsache auf, die hereinbrach und die Dinge auf stets dieselbe Art veränderte. Später entdeckte er wohl, daß zwischen dieser Erscheinung und ihm selbst eine Ähnlichkeit sei, aber da er sich selbst soviel kleiner und unbedeutender fühlte, hielt er sich nur für den vagen Widerschein jenes mächtigen anderen. Übrigens betrachtete er Arnoldi lange Zeit nicht als ein Einzelwesen. Seine Wiederkehr bedeutete ihm nicht eine Fortsetzung der früheren Besuche. Denn selbstverständlich existierte jener andere nicht, so lange er nicht zu sehen war. So wurde er ihm zu einer Reihe von großen Persönlichkeiten, von mächtigen Herrschern und Helden, die einer um den anderen in die Welt traten, ihre Taten vollführten und wieder verschwanden. Nur die Spuren ihres Werkes, das darin bestand, Gutes zu spenden und alles zu ordnen, blieben nach ihnen zurück.

Erst viel später, als er zu grübeln begann, ob nicht jenseits dieser Wände sich etwas verberge, fiel es ihm ein, jene Besuche zu verbinden. Er ahnte eine Ordnung, eine Leitung hinter ihnen. Und er machte die Entdeckung, daß auch in den Stunden zwischen diesen Besuchen etwas sein müsse, und daß dies Etwas, indem es aus der Welt ging, darum nicht aufhörte, zu sein. So gelangte er endlich zu der Gewißheit, daß es immer derselbe sei, der zu ihm kam, der sich in jedem neuen Besuche von neuem offenbarte, und er begann, Arnoldi als dasjenige aufzufassen, was immer ist und von dem alles in der Welt kommt. Seine Ehrfurcht wurde von da an grenzenlos. Bewundernd und anbetend blickte er zu dem Manne auf, dessen großes Gesicht da oben hing, so nahe dem hellen Fleck, und der die Macht besaß, das Licht und somit alle Dinge der Welt fortzunehmen, wenn er wollte. Das hatte er auch schon mehrere Male getan; denn Arnoldi kannte des Knaben Angst vor der Dunkelheit und strafte ihn hie und da, indem er mitten bei Tage durch Schließen der Läden das Sonnenlicht aussperrte.

Während Friedel aber zu der Erkenntnis gelangte, daß Arnoldi ein Einzelwesen, stets vorhanden und also unbegrenzt sei, begriff er zugleich, welch enge Grenzen seine eigene Welt besaß, und ohne etwas von seiner Ehrerbietung einzubüßen, begann er sich gegen diese Begrenzung aufzulehnen.

Indessen gab es in seiner Welt noch eine andere, sanfte und dennoch gar weitreichende Macht, die seine Wünsche nach größerem Wissen in eigentümlicher Art dämpfte und abstumpfte. Dies war die taubstumme italienische Magd.

Frau Arnoldi scheint ihn niemals besucht zu haben. Wenigstens erinnert er sich ihrer nicht. Vielleicht auch haben ihre Nerven den Anblick des geisteskranken Kindes nicht ertragen, und ihre Bequemlichkeit hat sie abgehalten, etwas aufzusuchen, was Fürsorge oder Tätigkeit beansprucht hätte. Sie überließ dies sowie auch seine Versorgung, nach deren Quellen sie niemals forschte, ihrem Manne.

Friedel erkannte bald, daß jene andere Erscheinung, die ihn besuchte, ganz verschieden von dem Wesen war, das alles brachte und ordnete. Sie verdiente nicht dieselbe blinde Ehrfurcht. Ihr Gesicht leuchtete nicht so hoch über ihm; ihre Umrisse waren weicher und umwogten sie warm und lind. Sie war ein Wesen etwas niedererer Art. Und sie erregte keine Grübeleien. Sie war einfach da. Er sann nicht über ihrem Rätsel, wenn er sie nicht sah. Sie war wie das Weiche und Einhüllende in der Welt, an das er nur dachte, wenn er müde war oder wenn ihn fror. Dann verlangte ihn nach ihr, nicht wie nach einer Person, sondern nur danach, sich bei ihr besser, beschützter und wärmer zu fühlen. Sie ist sicherlich gut gegen ihn gewesen; ihre stumme Seele mußte dies stumme Kind sich nahe fühlen. Sie hat ihn in ihren Armen, an ihrer Brust gehalten. Friedel hat eine tiefe, innige Anhänglichkeit für sie empfunden, die aber eher eine rasch vergeßliche Schwärmerei als Dankbarkeit zu nennen war. Dennoch ist es ihm nicht entgangen, daß dieses offenbar untergeordnete Wesen einen gewissen versteckten Einfluß besaß, eine Fähigkeit, zu vermitteln und zu versöhnen und zu Zeiten den umzustimmen, der alles bestimmte. Und trotz seines warmen, aufrichtigen Gefühls war seine vertrauliche Zärtlichkeit für sie nicht ganz ohne Politik.

Sie scheint es auch gewesen zu sein, die ihm aus eigenem Antrieb das erste Spielzeug brachte, eine kleine Wachspuppe, die Friedel zuerst, ohne sie zu berühren, mit tiefer, ehrfurchtsvoller Bewunderung betrachtete. Arnoldi erkannte das Zweckdienliche des Gedankens, das eingesperrte Kind zu zerstreuen, und billigte ihn. Der Knabe sollte sich nicht zu einsam fühlen. Es war ihm unzuträglich, und seine Existenz war ja wertvoll; es war eine Prämie darauf gesetzt, daß er am Leben blieb. Er war gewissermaßen im geheimen stolz auf den Jungen, betrachtete dessen Dasein als sein eigenes Werk und fand es angezeigt, ein wenig Abwechslung in dies arme, verstörte Kindergemüt zu bringen.

Sein erstes Spielzeug aber hat Friedel selbst erfunden, sich aus der ihm gegebenen Substanz erschaffen. Er besaß seit langem einen alten schottischen Plaid. In seinem erwachenden Sinn für Teilung zerzupfte er ihn Faden um Faden. Dann ordnete er die Wolle auf dem Fußboden nach den Farben: die drei Töne Rot in Gruppen für sich, dann die blauen, die gelben und die violetten. Die schwarzen warf er fort, er hatte keine Verwendung für sie, sie gefielen ihm nicht. Er fand sie in seiner Welt nicht wieder, sondern sah sie nur zu jener Zeit, wo die Welt nicht da war. Später suchte er die Fäden umzuordnen, Farbe gegen Farbe zu legen und sie mit einander zu verflechten, indem er sie mit den Fingern festhielt und ineinander schob.

Arnoldi ärgerte sich wohl zuerst über den zerzupften Plaid, billigte jedoch dann, mehr aus Bequemlichkeit, denn aus Fürsorge, diese Versuche. Er fing an, selbst zur Zerstreuung des Kindes beizutragen. Ohne Fröbel oder Pestalozzi zu kennen, ging er auf die Kindergartenidee ein. Er brachte Friedel bunte Papierstreifen zum Flechten und Holzklötzchen, mit denen sich Figuren legen ließen.

Friedel nahm erfreut und verwundert diese Dinge in Empfang. Sie bestätigten ihm etwas, was er lange gewußt hatte, und sie gaben ihm Ausdrucksmöglichkeiten. Lange grübelte er über den bunten Papierstreifen und fand Ähnlichkeiten zwischen Violett und Rot heraus und zwischen Violett und Blau und zwischen Rot und Gelb. Er sah, wie Blau das Rote tiefer und Rot das Blaue heller und kälter machte. Er legte die Farben gegeneinander und aufeinander, und fand zuletzt den Schlüssel zu ihrer Zusammengehörigkeit in der Ordnung des Regenbogens.

Zugleich begann er, die Figuren zu verstehen. Er legte, auf dem nackten Fußboden kniend, seine Holzklötzchen vor sich hin, ohne vorerst noch eine Absicht mit ihnen zu haben. Sie lagen in seinen Händen, wie so viele andere Dinge, für die er keine Verwendung wußte; und er suchte darum in ihrer Form irgend etwas zu erkennen, was er erdacht oder geträumt hatte. Lange konnte er sich über ihren Sinn nicht klar werden. Es verwirrte ihn, daß sie so massiv waren, sowohl der Breite als der Höhe nach. Aber eines Tages entdeckte er, daß jedes Klötzchen ja eigentlich vier lange und zwei kurze Seiten habe, wie so viele andere Gegenstände auch. Wenn er es drehte, so sah er viele Flächen, eine für jeden Finger einer Hand und noch eine dazu. Und plötzlich begriff er: das war kein Gebrauchsgegenstand wie alles andere in der Welt. Es war das Bild einer Figur, die er ausfindig gemacht hatte.

Dies geschah zu einer Zeit, als er nicht mehr nach dem Lichte emporzuklettern versuchte. Noch dachte er nicht daran, zu bauen. Aber diese sechs Flächen, die sechs Oberflächen der Bausteine, wurden für ihn Sinnbilder der Welt und Vorbilder dessen, was er einmal erreichen wollte. Und bald fand er überall in seinem Zimmer dieselben viereckigen Figuren wieder: in den vier Zimmerwänden, in Decke und Fußboden, in den Parkettmustern und besonders in dem weißen Viereck der Fensterscheibe, das von den strengen Quadraten des Gitters gewürfelt wurde.

Arnoldi hatte ihm eine Schachtel mit bunten Kreidestiften mitgebracht, und Friedel begann vor seiner Tafel über den Figuren zu brüten. Er gab die Flächen seiner Klötzchen wieder, indem er sie Seite um Seite entfaltete; er drehte die Klötzchen, während er sie zeichnete, und zeichnete die Seitenflächen auf das vordere Viereck wie die aufgeschlagenen Flügel einer Tür.

Dann entdeckte er, daß ein Weg von Ecke zu Ecke des Viereckes führe, wie in seiner eigenen Stube, wenn er von einem Winkel zum gegenüberliegenden ging. Er zeichnete die Diagonale und hatte damit das Dreieck gefunden. Und das gleichseitige Dreieck wurde ihm das Liebste von allem. Er versuchte nun auch neue Formen zu finden; er fand Gefallen an dem kräftigen Winkel, den ein aufgestellter Baustein mit der Linie des Fußbodens bildete, und er fand das rechtwinkelige Dreieck, das er danach zeichnete, seltsam und rätselhaft. Er ahnte einen Zusammenhang, eine wechselseitige Spannung zwischen den Seiten dieser Figur. Und wie zur Erklärung dessen verfiel er darauf, Vierecke mit gleich großen Seiten auf den Seiten des Dreieckes zu errichten. Diese figürlichen Ideen waren seinem unreifen Bewußtsein ursprünglich, wie sie unzweifelhaft die Grundgesetze aller intellektuellen Form sind und vermutlich auch auf anderen Weltkörpern als Intelligenzsignale verwendet werden. Aber er weilte nur bei festruhenden Figuren: den Kreis fand er in seiner unbewegten räderlosen Welt nicht. Das Vorbild des Kreises, die Sonne, bekam er ja nicht zu sehen; statt ihrer nur eine viereckige vergitterte Scheibe.

So kam es, daß er später, als er seine Figuren vielfärbig zu zeichnen und zu Mustern zusammenzusetzen begann, wie die barbarischen Völker bei ihren Tapamustern nur geradlinige Figuren verwendete. Selbständig entwickelte er eine Ornamentik von tiefer, ursprünglicher Kraft, sinnreichen Linien und kühn gewählten Farben, eine wilde und monotone Tätowierung der Dinge.

Arnoldi bemerkte die Kreidestriche, die Friedel auf dem Fußboden gezogen hatte, und hielt sie zuerst für eine Art Paradiesspiel, das der Knabe allein betrieb. Er fand sich dadurch veranlaßt, des Kindes Welt nun auch mit lebendigeren Dingen zu bevölkern. Und er kaufte eines Tages einen ganzen zoologischen Garten, den er ohne jede Anweisung in Friedels geometrischem Labyrinth aufstellte.

Friedel faßte diese aus Holz und Wolle verfertigten Tiere wohl nicht als Lebewesen auf; aber er suchte ihnen einen Platz in seinem Weltbild zu geben. Er teilte sie nach Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ein, ordnete sie zuerst nach der Farbe, die weißen und die schwarzen und die gestreiften für sich. Und innerhalb der Farbe sonderte er die Schweren von den Leichten und hierauf die Harten von den Wolligen. Eine bessere Ordnung fand er nicht, aber sie befriedigte ihn vollauf, ebenso wie uns unsere Systeme, die Wal und Schnabeltier in dieselbe Ordnung einreihen wie Nager und Raubtier.

Er begann diese neuen Formen auf seine Tafel zu zeichnen – lauter gerade Linien und Winkel, dreiseitige Köpfe und vierseitige Körper. Und er kam auf den Einfall, den Raum zwischen den Strichen mit Farbe auszufüllen. Ein seltsames Fieber, eine Besessenheit des Wiedergebens hatte ihn ergriffen. Sein Werk bezauberte ihn: stundenlang starrte er seine fertigen Fresken an, und wenn Arnoldi eintrat, sprang er ihm entgegen, vor Jubel lallend, und zeigte ihm seine Bilder. Arnoldi hatte ihm ein Buch mit weißen Blättern und einige feine, bunte Stifte geschenkt; nur der grüne fehlte. Denn dieser enthielt, wie Arnoldi wußte, Arsenik. So kam es, daß Friedel die grüne Welt nicht kennen lernte. Es gab wohl in seinem Gefängnis diese Farbe, aber er wußte sie nicht zu unterscheiden und ebensowenig durch Mischung von Gelb und Blau herzustellen. Auch die Kunst der Schattierung lernte er nicht. Er sah die Farben in Flächen wie ein moderner Impressionist. Heller und dunkler war für ihn eins. Er ging von der Grundfarbe aus als von dem Feststehenden. Sein Wissen von den Dingen war seiner Beobachtung vorausgeeilt. Er malte aus der Tiefe seines Geistes. Darum erlernte er die Perspektive nicht. Er zeichnete alles in einem Plan, ober- und untereinander – in der Entfernung, die die Gegenstände von einander hatten. Verkürzungen lernte er nicht kennen, denn er ging rings um die Dinge herum, um sie von allen Seiten zu studieren.

Arnoldi amüsierte sich über diese Versuche, nahm die Bilder mit sich und zeigte sie seiner Frau. Dann zerriß er sie aus Ordnungssinn. Er duldete kein unnützes Papier in seiner Behausung.

Aber es kam eine Zeit, da der Knabe nicht mehr durch so stille und harmlose Beschäftigungen zu befriedigen war. Sie begann damit, daß er seine Bausteine der Höhe nach aufstellte, und als er das Gleichgewicht gefunden hatte, versuchte er, auf den ersten einen zweiten zu stellen. Wieder meldete sich das Verlangen nach dem hellen Viereck da oben und unwillkürlich richteten seine Figuren sich dorthin. Er baute Vierecke und Dreiecke übereinander. Und als sein erster Bau entstand die Pyramide, die er auf einem inwendigen Kern Stufe um Stufe aus seinen Bausteinen aufführte. Er sah seine vier Dreiecke in schrägen Flächen einander begegnen, und alle wiesen mit ihrer vereinigten Spitze gegen das Licht. Und siehe! Keine der vier schiefen Ebenen wurde verdunkelt. Das Licht von da oben berührte sie alle gleichmäßig und stellte keine, auch nicht die abgewendeten, in Schatten!

Zu jener Zeit begann er auch, Arnoldi und die taubstumme Magd abzubilden. Zuerst Arnoldi. Schon früher hatte er sich bemüht, ihm nachzuahmen in einer Art Gestentanz, einem seltsamen primitiven Rituale, in dem Arnoldis Gewohnheiten und Gebärden immer wiederkehrten. Aber dies genügte ihm nicht. So machte er sich ein Abbild von ihm, das er immer vor Augen haben konnte. Zugleich erwachte sein Sinn für die bewegte und die lebendige Linie. Es ging nicht an, das geschmeidig Kommende und wieder Verschwindende mit denselben eckigen Linien und breiten Ruheflächen zu zeichnen, wie die Holzklötzchen, die fest und schwer auf ihrem gegebenen Platz standen. Unwillkürlich beschrieb sein Handgelenk eine Schwenkung. Er begann in Kurven zu zeichnen: gebogene und geschwungene Linien.

Arnoldi hatte an diesen unsicheren gabeligen Strichen, die einen Menschen vorstellen sollten, seinen Spaß; nichtsdestoweniger kam ihm der Gedanke, ob der Knabe hier nicht schon zu viel gelernt habe. Nicht viel später erkannte er zu seiner Verblüffung in einigen Kreidestrichen, die Friedel auf den Fußboden geworfen hatte, seine eigene Karikatur. Er fühlte sich beleidigt, ja sogar entrüstet, und ertränkte das Bild mit einem großen Eimer Wasser. Das brauchte er sich doch von solch einem Naseweis nicht gefallen zu lassen.

Von diesem Augenblick aber schien die Auflehnung des Knaben erst recht Kraft und Willen erhalten zu haben.

Er sah sich zurückgeworfen in seinem Versuch, das Bild dessen, der ihn in seiner Welt aufsuchte, festzuhalten. Nun war er genötigt, ihm, wenn er ging, in Gedanken zu folgen. Dadurch erst kam ihm die Überzeugung, daß es außer dieser Welt eine andere geben müsse, in der es sicherlich viel besser zu leben wäre. Und als er Arnoldi mit dem Bilde verglich, das er sich von ihm gemacht, und ihn zornig werden und das Bild zerstören sah, als fürchte er den Vergleich, da begann die alte Ehrfurcht zu schwinden.

Noch eine andere Veränderung war eingetreten: die taubstumme Magd zeigte sich nicht mehr. Sie hatte in letzter Zeit gekränkelt und ernstliche Anzeichen von beginnender Schwindsucht gezeigt, und da ihre Verwandten in Italien darauf bestanden, so mußte Arnoldi sie reisen lassen, obwohl er sich keinen Rat wußte, wie er ohne sie die Pflege des unglücklichen Kindes würde bestreiten können. Er zeigte sich von nun an reizbar, knauserisch und ganz unberechenbar. Die Aufgabe, die nun ganz allein ihm zufiel, überstieg sichtlich seine Kraft.

Friedels Haltung bewies, daß er die Veränderung empfand. Er wurde verschlossen, zurückhaltend, zeigte mehr Furcht als Ehrfurcht. Was ihn bisher mit seinem Gefängnis versöhnt hatte – die sanfte zärtliche Fürsorge, das Milde und Mildernde, das seiner eigenen Natur so traulich verwandt war und bei dem Machthaber Billigung zu finden schien – war aus der Welt verschwunden. Und mit einem Male wurden die Dinge hart, scharf, kantig und grausam. Keine beruhigenden Hände lullten ihn mehr mit sanften Liebkosungen in Träume. Allein mußte er von jetzt an der Finsternis begegnen. Und er wußte nun, daß mit Eintritt des Dunkels nicht die Welt für eine Zeitlang zu sein aufhörte, sondern daß eine böse feindliche Macht dann die Oberhand gewann und alles unkenntlich machte, die leuchtende Scheibe da oben verlöschte. Er lag wach mit weit offenen Augen, eiskalt vor Einsamkeit und Angst, wenn die Finsternis kam. Und diese Angst setzte sich tagsüber in Widerstand und Trotz und vollbewußte Forderungen um. Er fühlte sich gefesselt, geplündert. Nur ein Rest sklavischer Demut hielt ihn noch zurück. Er beugte sich noch unter das drückende Joch der Gewohnheiten. Er gehorchte den harten nüchternen Regeln, die Arnoldis Methode jetzt kennzeichneten. Aber jede kleine Unsicherheit, jede geringste Inkonsequenz in diesen Regeln machte ihn aufmerksam und stärkte seinen Widerstand. Er begann zu begreifen, daß ein Gitter ihn umgab und daß dieses Gitter schlecht zusammengeschweißt war. Er begann Mängel an Arnoldi zu entdecken und ihn darob zu verachten. Er selbst gewann an Kraft, auch körperlich. Er wuchs, seine Glieder schossen auf, und er wurde sich der Freiheit seiner Bewegungen bewußt.

Er hatte längst von etwas Schönerem geträumt, als Arnoldis Wachsgesicht mit dem langen Schnurrbart es war, dessen Anblick ihm jetzt Widerwillen einflößte.

Öfter und öfter zeigte er sich ungehorsam, stets nach einem bestimmten Plan und aus Betrachtungen heraus, die Arnoldis Absichten widersprachen. Sein bewußtes Ziel war: den Ausgang zu gewinnen. Er versuchte, an Arnoldi vorbeizuschlüpfen, wenn dieser unvorsichtigerweise die Tür hinter sich nicht verschloß.

Arnoldi wurde bang vor ihm. Da saß er auf seiner Bettkante wie ein gereiztes kleines Tier, mit starren Augen, oft zähnefletschend, als wollte er beißen. Ein andermal wieder war ein Ausdruck in seinen Augen, als hätten sie gar tief aus einem verbotenen Wissen getrunken. Eines Tages entdeckte Arnoldi, daß Friedel mit Hilfe eines Stuhles und eines Schemels das Fenster erreicht hatte. Dort hatte er mit seinem Griffel ein kleines, rundes Guckloch gekratzt, das ihm die sommergrüne, sonnenbeschienene Welt enthüllte. Arnoldi hatte ihn mit Nachdruck gezüchtigt. Aber die Strafe erzeugte bloß Haß und Verachtung in des Kindes Augen. Boshaft lauernd saß es, an sein Lager gefesselt, und weigerte sich drei Tage lang, Nahrung zu sich zu nehmen.

Was aber Arnoldi allen Ernstes zur Einsicht brachte, daß er das Spiel verloren geben müsse, das war, daß Friedel anfing, Worte zu sprechen. Es waren nicht Worte im gewöhnlichen Sinne. Wenigstens vermochte Arnoldi sie nicht zu deuten. Aber der Knabe, der sich bis dahin vollkommen stumm gezeigt hatte, begann Laute auszustoßen, nicht bloß Schreie des Zorns oder des Triumphs, sondern wirklich artikulierte Laute. Er fühlte das Verlangen, sich mitzuteilen, zu klagen und anzuklagen. Und einmal stieß er ein so durchdringendes Geschrei aus, daß es von den Nachbarn gehört wurde, die Arnoldi fragten, ob er denn Kinderbesuch habe.

Da gab denn Arnoldi resolut und mit klarer Überlegung die Sache als hoffnungslos auf. Die wachsenden Kräfte, der Trotz und Haß des Kindes, aber auch die eigene Verweichlichung und das bequeme Leben so vieler Jahre hatten ihn mutlos gemacht, den Kampf aufzunehmen, und seine Nerven weigerten sich, brutale Gewalt zu gebrauchen. Er erkannte, daß er alle nur erreichbaren Vorteile aus der Affäre gezogen hatte. Und so fand er es als das richtigste, ohne Aufsehen in aller Stille zu verschwinden.

Er hatte schon längst alles zur Abreise bereit gemacht. Er hatte seine Möbel verkauft und verlauten lassen, daß ihm ein hoher Posten in Rußland angeboten worden sei.

Die letzte der regelmäßig eintreffenden Geldsendungen nahm er noch in Empfang und reiste dann mit seiner Frau und seinen Koffern ab. Man wußte, daß er sich über Basel nach Frankfurt begab. Dort aber verlor seine Spur sich vollständig. Ehe er abreiste, nahm er das Vorhängschloß von Friedels Tür und überließ das übrige dem Zufall.

So gewann Friedel endlich den Ausgang. Und da sein späteres Leben eine Sache für sich ist, so erübrigt hier noch, die, die ihn zuerst fanden, von jenem Sommermorgen im Jahre 1883 erzählen zu lassen.

Der Maler Stephan Myers, der später Friedels Erzieher und Lehrer wurde, saß auf einer Böschung oberhalb der Aare vor seiner Staffelei und malte den Fluß, die steilen Ufer und die Wolken. Einige Kinder spielten auf dem abschüssigen Uferrasen ihren Ringelreihen mit großen Löwenzahnkränzen, und er nahm sie in sein Bild auf. Da sah er aus einer Villa, die abseits mitten in einem kahlen Garten auf dem Abhang lag, einen etwa zwölfjährigen Knaben, jedoch mit langem Mädchenhaar, das dichtumkraust seinen Kopf umgab, in weißem, knappem Leinenanzug und mit nackten Beinen des Weges kommen. Er lief eher, als er ging, kam taumelnd näher, mit den Händen tastend. Seine Augen waren unter dem grellen Sonnenlicht zusammengekniffen, sobald er in den Schatten kam, aber weitgeöffnet. Er hob die Hände, wie um zu greifen, wie um Luft und Licht zu umklammern. Über die Wiese ging er langsamer, suchte sich seinen Weg zwischen den Milliarden gelber und weißer Blumen. Aus seiner Brust kam ein langer, heller Ton, wie ein Gesang oder ein Ruf.

Die spielenden Kinder blieben stehen und sahen ihm nach, erstaunt und verlegen. Er lief auf sie zu, sah ihnen einem um den anderen ins Gesicht und lächelte. Aber seine Augen – so erzählt Myers – drückten eine tiefe überlegene Klugheit, eine teuer erkaufte Lebenserfahrung aus, und seine stummen Lippen trugen einen Zug fast übermenschlichen Wissens. Langsam, wie grübelnd, löste er sich von dem Spiel der Kinder und wanderte dem fremden Manne zu, der sich von seinem Sitz erhoben hatte. Und Myers, der noch nichts von alledem begriff, nickte und lachte in seinen großen, gelben Bart und reichte dem zögernden Kinde die Hand hin. Da sank Friedel, überwältigt von dem Licht und dem ungeheuren Raum, vor seinen Füßen zusammen. Myers hieß eines der Kinder frisches Wasser aus der Aare bringen und badete Friedels Antlitz. Die anderen Kinder standen in dichtem Kreis um sie her und sahen verwundert zu. Zwei von den Kleinsten waren bange geworden, und sie liefen, laut weinend, Hand in Hand heim. Selbst Myers empfand ein seltsames Grauen vor diesem wachsbleichen Kinde, das sich nun langsam auf den Knien aus dem hohen Grase erhob. Und die Frage an den Knaben, wer er denn sei, erstarb auf seinen Lippen.


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