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Luftpilot Jacquelin

Es war in jenen Julitagen des Jahres 1909, da ein Engländer namens Latham seinen Flug über den Ärmelkanal angekündigt hatte, als ein großer Hafendampfer, ein schwarzes, zweimastiges Bugsierschiff, langsam an Calais' Molen vorüberdampfte, seinem mitten im Kanal gelegenen Aussichtsplatz zu. Es waren zehn Passagiere an Bord: fünf Korrespondenten großer Zeitungsbüros, zwei amerikanische Ingenieure, zwei von ihrer Station in Cherbourg beurlaubte französische Generalstabsoffiziere und Mr. Morton Esqu. aus Manchester.

Es wurde Nacht, Mitternacht ging vorbei, aber die Passagiere suchten ihre Kabinen nicht auf. Wenige Tage vorher hatte Latham einen verunglückten Flugversuch gemacht, und sie hatten seinen Äroplan, am Kran des Torpedobootes hängend, nach Calais zurückkehren gesehen. Nun hieß es, daß der Aufflug in kürzester Frist, längstens bei Tagesanbruch zu erwarten sei. Und trotz des Nebels, der nur in seltenen Augenblicken den blauen Sternenhimmel enthüllte, waren sie in der langen Salonkajüte versammelt geblieben.

Es gab noch Korrespondenzen zu erledigen, und sie saßen in der engen Kajüte dichtgedrängt bei ihrer Arbeit. Draußen vor dem Skylight lag die graudampfende Nebelnacht, und in der Spalte zwischen den beiden Rahmen zeichneten sich, von der Laterne beleuchtet, die langen, dünnen Beine Mr. Mortons, weit gespreizt, in schottischen Strümpfen. Man war ihn endlich losgeworden, nachdem er sich in Calais, auf irgendeinen mystischen Anspruch gestützt, an Bord eingeschlichen und einen höchst unnützen, eine gute Stunde währenden Vortrag über seine blödsinnige Erfindung gehalten hatte, die einen Flugapparat von der Schraubenfliegertype darstellte, der vorläufig ruhig in einem Fahrradschuppen in Manchester stand und natürlich nur auf das nötige Betriebskapital wartete, um in die Luft zu steigen wie ein Vogel.

Es war aber eben dieser junge Idiot Morton, der fünf Minuten nach 2 Uhr plötzlich Alarm schlug. Seine lange, knochige Gestalt in dem übergroß karrierten Sportanzug zeigte sich in der Tür, das hundeartige kleine Gesicht vor Aufregung gerötet.

»Kommen Sie!« sagte er, aber die Stimme versagte ihm, und es war vor allem die an ihm sichtbare, aufs höchste gesteigerte Erwartung und Erregtheit, die die Versammelten alarmierte.

»Kommen Sie!« wiederholte er, entschuldigend den Kopf schüttelnd. »Ich habe ein Luftschiff gehört. Dort oben! Gerade über meinem Kopfe. Eben jetzt, als ich hier oben meine letzte Pfeife rauchte. Es kam wie ein großes Brausen aus der Finsternis. Dorther, von Südost kam es. Ich hörte es kommen und wollte doch meinen Ohren nicht trauen. Aber plötzlich war es über mir: das Schwirren der Steuerflächen, das Pfeifen und Ticken der Schraube! Es ging über uns hin. Gegen Nordost!«

Alle hatten sich um ihn versammelt. Mit zusammengepreßten Lungen standen sie da und lauschten, starrten hinauf in die Dunkelheit, die über der Kransäule des Dampfers hing. Lautlose Minuten verstrichen. Sie merkten plötzlich, daß ihre Schultern und Ellbogen einander berührten. Und sie traten zurück, wechselten Blicke, versuchten ein Lächeln zu tauschen.

Der Korrespondent Jameson wandte sich Morton zu: »Sie sagen, daß Sie den Ton einer Luftschraube hörten? Und was sahen Sie?«

Morton bedachte sich und schüttelte den Kopf. »Ich sah nichts so recht deutlich,« stammelte er, »es war sehr dunkel. Aber ich bildete mir ein, zwei Laternen – ja eine rote und eine grüne Laterne – über mich hingehen und gegen Nordost verschwinden zu sehen. Sonst konnte ich nichts erkennen.«

»Es wäre besser, wenn wir hineingingen,« meinte Jameson; »wir werden sonst zweifellos gleich diesem jungen Manne unter den Einfluß dieser dunkeln Nacht- und Seestimmung geraten und binnen zwei Minuten dasselbe zu hören und zu sehen glauben. Und übrigens ist er ja nicht der erste, der von mystischen Laut- und Lichtphänomenen in der Luft gefabelt hat. Die Fliegenden Holländer der Luft werden bald eine stehende Rubrik unserer Neuigkeitsblätter bilden. Hier im Feld aber sind wir einzig und allein auf reelle Beobachtungen angewiesen und haben unsere Augen und Ohren vor allen unzeitgemäßen Phantomen der festen, flüssigen und luftförmigen Welten streng zu hüten.«

Man hatte wieder im Salon Platz genommen, und der französische Offizier, Kapitän Barri, nahm das Wort. »Ist es denn so merkwürdig, daß auch die Luft ihre Mythen heischt – nun, da Erde und Wasser nicht mehr dunkle Winkel genug besitzen, um das Unbekannte zu beherbergen? Ich wenigstens bin einmal in meinem Leben einem Manne begegnet, der die Bedingungen besaß, sich mit einer Mythe zu verbinden, dessen Schicksal nicht bloß ein Symbol unseres Willens war, die Luft zu erobern, sondern das Symbol alles menschlichen Willens in seinem ewig wiederkehrenden Bestreben allen wag- und lotrechten Weltenbahnen gegenüber.«

Und als alle nun mit hellwachen Sinnen lauschten und keiner willens schien, das Wort zu nehmen, erzählte er folgendes:

»An der Küste der Normandie, sechs, sieben Meilen von Cherbourg, mit schöner Aussicht auf die Inseln des Kanals und gegen Norden auf Cape de la Hague, liegt ein ganz neuer und noch nicht weltbekannter Badeort namens Curatel. Er wird zumeist von Deutschen besucht, die den Namen wie »Kurhotel« aussprechen und sich einbilden, durch ein barbarisches Umherplätschern in den reinen Wogen des Atlantischen Ozeans und eine Schaustellung bunter Badekostüme von Wertheim in Berlin ein mondaines Badeleben in freien französischen Formen in Szene zu setzen.

Mit Generalvermessungen eines naheliegenden Terrains beschäftigt, wohnte ich im Sommer 1897 mit zwei mir zugeteilten Korporalen in dem Hotel des Ortes. Da ich unverheiratet und gesellig veranlagt bin, wurde ich allgemein geschätzt.

Ich sah Jacquelin, von dem ich Ihnen jetzt erzählen will, an einem Augustvormittag zum erstenmal von weitem, und zwar unter folgenden Umständen:

Ich promenierte das Ufer hinab in Gesellschaft zweier junger Damen, Schwestern, Fräulein Edel und Fräulein Doris, die mich plaudernd und hüpfend auf einem kleinen Spaziergang begleiteten, mit großen, hochroten Kokarden auf den Hüten, anzusehen wie zwei hübsche weiße Kakadus, jede mit einem kleinen Netz bewaffnet, mit welchem sie Garnelen und Schaltiere, die sich an der Küste der Normandie aufhalten, zu fangen suchten.

Da gewahrte ich zu meinem allergrößten Erstaunen über einem Felsrücken, der sich etwa eine Viertelmeile landeinwärts wie der Rücken eines Walfisches auftürmt und steil gegen das Meer zu abfällt, eine weiße, dreieckige Fläche, die an das Segel eines Kutters erinnerte. Und dieses Segel bewegte sich mit enormer Geschwindigkeit in der Richtung von Ost nach West über den Bergkamm.

»Sehen Sie doch, meine Damen,« sagte ich. »Blicken Sie nur dort hinauf. Ist das nicht höchst merkwürdig?«

Sie wechselten einen Blick, und Fräulein Edel sagte: »Sie sind neuangekommen, Kapitän Barri, und wissen es nicht besser. Aber schon in der letzten Saison war häufig von diesem lächerlichen und exzentrischen Menschen die Rede. Es ist ein Herr Jacquelin, der sich in eine alte Wassermühle einlogiert hat und mit irgendeinem neuen Automobil Experimente anstellt. Seitdem er sich voriges Jahr gegen mich und meine Schwester so ungezogen betragen hat, ignorieren wir ihn vollständig.«

Ich erfuhr nun so viel von diesen einfältigen jungen Fräulein, daß sie im vorigen Sommer, ganz beherrscht von der letzten modernen Raserei, der Tierphotographie, eines Morgens auf abenteuerlichen Irrwegen auf die Hochweide hinter den Dünen geraten waren, wo sie Eichhörnchen oder gar etwa eine Fuchsfamilie zu sehen hofften. Zu ihrer Verwunderung hatten sie bemerkt, daß Eisenbahnschienen über das Heidekraut gelegt waren, und als sie von weitem einen Mann auf einem kleinen Wagen mit einem ungeheuer großen Segel oder Zelt über sich daherfahren sahen, beschlossen sie natürlich sofort, mit Hilfe ihres amerikanischen Kodak eine Momentaufnahme von ihm zu machen.

»Richtig, der Wagen kam mit seinem Lenker angefahren, furchtbar rasch. Es tobte wie vierzehn auf einmal scheugewordene Pferde. Der Mann saß auf einem Sattel und hieb mit den Armen aus wie ein Jockey. Doris hatte meine Golfjacke über den Kopf geworfen, bereit, zu knipsen.

»In diesem Augenblick aber blieb der Wagen mit einem schrecklichen Knall stehen, und heraus sprang der fürchterlich große Automobilmensch in vollster Wut und fuhr auf uns los, die wir natürlich schreiend Reißaus nahmen. Er sah uns aber nicht einmal nach, sondern packte Doris' nichtsahnenden, unschuldigen Kodakapparat, warf ihn zu Boden und zermalmte ihn mit seinen Stiefelabsätzen. Sie begreifen, Kapitän Barri, daß Herr Jacquelin von dieser Stunde an für die Gesellschaft, von der man im Hotel überhaupt Notiz nimmt, nicht mehr existierte. Ja, unsere Herren verlangten sogar von dem Hotelverwalter, er sollte diesem Individuum ein für allemal den Zutritt zum Hotelbereich verwehren. Und so ist es eigentlich gar nicht zartfühlend von Ihnen, lieber Kapitän Barri, uns dieses höchst unangenehme Abenteuer wieder in Erinnerung gebracht zu haben.«

Schon am nächsten Tage sollte ich Gelegenheit haben, persönliche Bekanntschaft mit dem Flieger Jacquelin zu machen.

Ich hatte am Nachmittag dieses Tages mit meinen Führern ein Terrain südlich von Curatel zu vermessen, und wir befanden uns auf einem Hügelkamm nahe der Küste, ich mit dem Nivellierinstrument, meine beiden Leute mit Kette und Meßstangen das zähe Gewebe von Heidekraut und Ginster durchwatend.

Da sah ich plötzlich in dem Indexspiegel des Sextanten das Bild des Oberkörpers eines Mannes, eines großen und breitschultrigen Menschen, der, wie ein Riese auf seinem Grabhügel kauernd, die langen keulenartigen Arme in rhythmischen Stößen bewegte.

Ich begriff sogleich, daß er uns Signale gab, streckte die kleine grüne Fahne, die ich mit mir führte, als Zeichen des Verständnisses empor und erhielt hierauf seine Antwort, die er mit dem rechten Arm signalisierte, ein Marinesystem benützend, das ich kannte. Übrigens wiederholte er nur dasselbe Wort: Akzident.

Sobald ich überzeugt war, richtig abgelesen zu haben, begann ich, so schnell das Terrain es erlaubte, auf ihn zuzulaufen. »Womit kann ich Ihnen helfen?« rief ich, als ich in Hörweite gekommen war.

Er wandte langsam den Kopf. Zwischen den langen Pferdezähnen, die in dem starken Bartwuchs schimmerten, hielt er eine kurze, erloschene Pfeife. Er war ein außerordentlich großer und starker Mann. Auf dem mächtigen Berg der Schultern, die ein kurzärmeliges Rohseidensportwams umschloß, saß der Kopf wie ein kleines Häuschen, unten von einem rabenschwarzen Gestrüpp überwachsen. Der Mann hielt die haarigen Arme zu beiden Seiten ausgestreckt und balancierte, um auf die Beine zu kommen.

»Ich habe mir gewiß das rechte Fußgelenk gebrochen!« stöhnte er. »Der Fuß liegt unter mir. Bitte reichen Sie mir eine Hand.«

Ich verhalf ihm zu einer halben Drehung, zog den Fuß vorsichtig hervor und untersuchte ihn, während er selbst die Verletzung mit großem Interesse betrachtete ... »Es ist kein Bruch,« sagte ich, »nur ein Blutaustritt.«

Er betrachtete mich schräg von der Seite, mißtrauisch, mit einem düsteren Blick aus den Augenwinkeln. Aber zugleich bemerkte ich etwas in seinem Gesicht, was mich interessierte: einen Ausdruck schlechtverhehlter Zufriedenheit, ja mehr als das, ein gewisses heimliches Pathos. Die Wangen röteten sich unter einem gesunden Blutstrom, klare und scharfe Blitze schossen triumphierend aus seinen Augen. Dann aber verschleierte die Züge eine plötzliche Melancholie.

»Wenn ich bloß zwanzig Schritte machen könnte,« sagte er, »so kann ich eine Vorrichtung benützen, die mich heimbringt.«

»Dies wird sich wohl ermöglichen lassen,« meinte ich und stieß dreimal kräftig in meine Signalpfeife, worauf ich mich neben ihn setzte und mir eine Zigarette anzündete. Er schielte durch die Automobilbrille zu mir hinüber.

»Ambulanz!« sagte ich.

Er nickte zustimmend. »Sie haben das praktisch eingerichtet,« bemerkte er.

»Nun,« erwiderte ich, »ein Militär ist ja eine Art Mechaniker, der durch den Druck auf einen Knopf lebende Kräfte mobilisiert.«

Ich bemerkte nun recht wohl, daß sich nicht weit von uns eine Schmalspurbahn durch das Heidekraut zog, fand es aber weiterhin richtig, keine Fragen zu stellen. Dies schien ihn zu beruhigen, ja ihn sogar zuvorkommend zu stimmen.

»Es tut mir leid,« sagte er, »Sie in Ihren Operationen gestört zu haben, die, wie ich aus Ihrer Uniform entnehme, wichtiger strategischer Art sind. Ich sah sogleich, daß Sie nicht zu dem gewöhnlichen höchst unnützen Haufen müßigen Badepublikums zählen, das hier ungeniert an Meer, Luft und Erde schmarotzt. Nachdem ich Sie als eine Art Kollegen betrachten kann, darf ich also Ihre Hilfe annehmen, ohne an Selbstrespekt zu verlieren, und hoffe auf eine Gelegenheit, Ihnen in ähnlicher Situation zu Diensten sein zu können.«

»Ich schließe mich, Ihrem Sinne nach, diesem Wunsch an,« erwiderte ich höflich, »wenn auch mein Beruf in Friedenszeiten leider wenig Aussicht bietet, Leib und Leben aufs Spiel zu sehen. Aber wie ich sehe, hat mein Signal die momentan erforderlichen mechanischen Kräfte schon ausgelöst.«

Ich wies auf meine beiden flinken Führer, Perrault und Arsène, die mit einer kleinen Steige herbeigelaufen kamen.

»Kommt hieher,« sagte ich, »und stellt euch an je eine Seite Herrn Jacquelins, der sich am Fuß verletzt hat.« Ich kommandierte sodann »Faßt an!« und wir trugen ihn auf eine der speziellen Art der Verletzung entsprechende feldmäßige Art zwischen uns einher.

»Wollten Sie nun so liebenswürdig sein, mich zunächst so weit wie möglich dem Abhang zu nähern!«

Wir befanden uns nämlich ungefähr vierzig Meter von dem Rand des Felsrückens entfernt, der hier sechzig Meter tief zu einem flachen steinigen Strand abfällt.

Wir trugen ihn also längs der Schmalspurbahn weiter, die am Rand des Abgrunds jäh mit einem Bremsbaum endigte. Hier befahl ich halt zu machen, und Jacquelin hieß meine Leute, der Tiefe den Rücken zuzuwenden. Er vertraute offenbar ihnen weniger als mir. Ich aber, der ich seinem Blick folgte, während er sich stöhnend über die Schultern der Leute hinausbeugte, sah deutlich eine große, weiße, gerippte Masse, ähnlich einem von einem Orkan entführten Zelt, ungefähr auf halbem Abhang in dem Dornengestrüpp hängen.

Jacquelin holte tief Atem, augenscheinlich sehr erleichtert, und ersuchte mich, den Marsch fortsetzen zu lassen. Wir folgten dem Schmalspurgeleise einige hundert Meter landeinwärts.

»Hier ungefähr,« bemerkte Jacquelin nun, »verließ ich meinen elektrischen Blockwagen. Ich sehe, er steht wohlbehalten auf seinem Geleise. Ich bin Ihnen sehr dankbar, meine Herren; Sie können mich jetzt ruhig meinen eigenen mechanischen Hilfsmitteln überlassen.«

Auf dem Geleise hielt wirklich eine niedrige graue Dräsine auf sechs kräftigen Eisenbahnrädern, ähnlich einer Kanonenlafette und durch eine Kontaktstange mit einem Luftleitungsdraht verbunden, der sich, von Ständern getragen, samt dem Geleise in einem Verhau zwischen den Dünen verlor.

»Ich habe nicht mehr weit nach Hause,« sagte Jacquelin. »Dort sehen Sie schon den Rauch meiner Schmiede,« und er wies auf eine kleine gelbe Rauchwolke, die aus einem hinter einem Heidehügel versteckten Schornstein hervorquoll.

Wir hatten ihn auf den niederen Wagenkasten der Dräsine niedergelassen. Er schlug einen Hebel nieder. »Ich habe Strom,« sagte er. »Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Und wir sahen ihn mit außerordentlicher Schnelligkeit auf seinen kleinen starken Rädern den Bahnkörper hinaufrollen, das große bärtige und bebrillte Gesicht zu einem letzten Gruß uns zugewandt, mit seinem auf unsichtbaren Beinen hockenden ungeheuren Oberkörper anzusehen wie ein komischer Invalide, der sich auf kleinen Rollen fortbewegt.

Ich erwähnte natürlich im Hotel nichts von dieser Begegnung mit Herrn Jacquelin. Als ich in den nächsten vierzehn Tagen das dreieckige Segel am Uferabhang nicht erblickte, nahm ich an, er leide noch an den Folgen des – nun ja des Unfalls, der ihn auf Irgendeine Art damals betroffen hatte.

Am fünfzehnten Tag jedoch erwies Herr Jacquelin mir das Vergnügen eines Besuches, der in dem höchst distinguierten Hotel nicht geringes Aufsehen, ja beinahe Skandal erregte. Er erschien in einem kolossalen weißen Flanellanzug, der ihm um die mächtigen Glieder hing wie ein Mehlsack. Ich traf ihn im Vestibül vor einem Halbkreis stumm verwunderter Kellner und zog ihn rasch mit hinaus auf den Strand.

Er benahm sich außerordentlich freundschaftlich und begann mit einer Entschuldigung.

»Ich war kürzlich ziemlich nervös und besaß nicht die Fassung, Ihnen eine Erklärung meines Unfalls zu geben. Nun muß ich es Ihnen gestehen, daß ich mich mit aviatischen Versuchen beschäftige. Dieser Sport ist ja nichts weniger als populär, und ich spreche aus diesem wie aus anderen Gründen ungern darüber. Schon im Vorjahr war ich Gegenstand verschiedener Spionierungsversuche, die ich jedoch rechtzeitig zuschanden zu machen wußte. So versuchten zwei junge weibliche Personen während des Anlaufs meinen Apparat zu photographieren, und nur durch mein sehr resolutes Auftreten gelang es, die Platten beizeiten zu zerstören.«

Er erzählte mir, daß er eine Versuchsbahn oben bei der Wassermühle eingerichtet und diese selbst zu einer Kraftstation umgewandelt habe, welche nun den elektrischen Blockwagen über das Geleise trieb. An eben jenem Tag, da ich ihn traf, sei er zum erstenmal geflogen.

»Jawohl, mitten im Glück traf mich das Unglück. Ich erhob mich zehn Meter über den Erdboden, bloß um Gelegenheit zu haben, wieder zehn Meter zu stürzen.«

Jetzt aber war die Reparatur seines Fliegers beendet. In wenigen Tagen wollte er seine Versuche wieder aufnehmen. Und dann müsse ich sein Gast sein. Denn er habe eine Diskretion und einen Takt bei mir gefunden, die zumindest ungewöhnlich seien.

»Sie sollen meinen Flieger sehen,« sagte er, »denn ich halte Sie für vollkommen verläßlich und habe die höchste Achtung vor Ihnen.«

Er drückte mir die Hand, und seine kleinen Augen hielten die meinen fest, kindlich vertrauensvoll und doch strahlend von Intelligenz, Energie und Genialität.

Ich dankte ihm und versprach zu kommen, ohne doch den Gedanken abweisen zu können, wie absurd es sei, daß ein Mann von so entsetzlicher Häßlichkeit, von einem so aufsehenerregenden und zu Heiterkeit stimmenden Äußeren dies älteste und schwankendste Problem lösen, daß dieser ungeheure Fleischberg, unzweckmäßig und unbeweglich wie eine veraltete Tierform des Elefantengeschlechts, an etwas so Elegantes und Leichtes, wie es ein Flug in die Luft ist, auch nur denken könne.

Zu jener Zeit waren Farman und Delagrange noch unbekannt, Santos Dumont hatte sich noch nicht mit seiner graziösen » Demoiselle« in die Lüfte geschwungen; l'homme oiseau Wilbur Wright stellte wohl erst in tiefster Heimlichkeit seine wunderlichen Gleitversuche an, indem er sich auf die Brust legte und von der Höhe hinausfallen ließ, getragen von einem der ersten kraftlosen Gängelkörbe der Luft. Otto Lilienthal, der tollkühne Lenker von Fledermäusen, und der Gleitflieger P. S. Pilcher waren, außerstande, der Anziehungskraft der Erde zu widerstehen, an deren gewaltiger Brust zerschellt. Der Luftsport war noch bei weitem nicht populär. Es war in den nun merkwürdig veralteten Tagen der großen Automobilrennen: Paris–Wien! Paris–Madrid!

Ich wanderte den dritten Tag nach Jacquelins Besuch über die Heidehügel. Nach einer Stunde Marsch erblickte ich die Wassermühle, und daneben lag Jacquelins Schmiede.

Es war ein dunkler Nebeltag, und aus dem riesigen Tor, das sich wie eine Bergkluft an der Front der Schmiede öffnete, lohte es von purpurnen und schwefelblauen Flammen. Ein brandbrauner Rauch quoll aus den Schornsteinen. Und mitten in einem ungeheuren Skelett zusammengeschweißter Metallröhren standen mit Zangen und schweren Hämmern vier dunkle Gesellen, bis zum Gürtel nackt, mit Rußkrusten auf der haarigen Brust und regenwurmartigen roten Schweißrinnen in den geschwärzten Gesichtern.

Ganz hinten in der großen finsteren Höhle, deren Schatten wie Fledermausflügel über die flammenden Essen huschten, saß auf einer grünen Wassertonne Jacquelin, ein langes, rotglühendes Rohr, wie ein kolossaler Schlüssel gebogen, über das lodernde Feuer haltend. Er trug einen schwarzen Lederkittel mit Schurzfell, und ein spitzer Lederhut bedeckte das große, flammenbeleuchtete Gesicht, aus dem der Bart hervorwucherte wie ein verkohlter Wald. Draußen lag die Heidelandschaft, einen Augenblick sonnengebadet, golden und arkadisch.

Und mit einem Male drängte sich mir ein Bild auf, eine Ähnlichkeit des Mannes da drinnen in der Schmiede in seinem steifen Lederpanzer mit einem der finsteren und massiven Heroen der Mythen, mit einem gewaltigen, ungeschlachten Zyklop mitten in seinem dröhnenden Kupferberge. Ich suchte ihn in der Reihe all der leidenschaftversengten und dabei ein klein wenig komischen Halbgötter der alten Sagen, unter den Titanen und Giganten, in Gesellschaft des gewaltigen Schmiedes und Hahnreis Vulkan, des bluttrinkenden törichten Polyphemos und des Fährmanns Christoforos, der beiden trübseligen Riesen, die kluge Knirpse geblendet und in armselige Sklaven verwandelt hatten – all jener schwermütigen, pathetischen Hünen, die glücklos leben und eines unseligen Todes sterben müssen.

Mitleid und Bewunderung ergriffen mich, als er mir seine große, von Brandwunden krustige und von Ruß und Nässe klebrige Hand reichte, die er rasch in einem Eimer rostiggrünen Wassers abgespült hatte.

»Kapitän Barri,« sagte er, »wie freue ich mich, Sie zu sehen! Ich weiß, daß Sie der Mann sind, der eine spartanische feldmäßige Gastfreundschaft nicht verachtet.«

Wir wateten durch hohe Schlacken von Eisenspänen und Gießsand in einen großen Nebenraum. Da lagen ungeheure Rollen in Blechhülsen, Pläne und Risse auf dem Tisch; Zeitschriften waren in staubigen Bündeln längs der Wände aufgestapelt. Und längs der Decke hingen Jacquelins sieben Flugmaschinen, Spielzeugmodelle, die die ganze Entwicklung bezeichneten, welche die aviatische Technik seit jener Zeit durchlaufen hat, und endlich jenes letzte vollkommene Modell, das seit Jacquelin nicht wiedererobert wurde.

Er stand unweit von mir, die Knöchel auf einen ungedeckten Tisch stützend, auf welchem ein zerbrochener Teller mit einem kaltgewordenen Spiegelei und einigen Radieschenstengeln stand, und begann, leicht den Oberkörper wiegend, eine Art erläuternden Vortrags zu halten.

»Ich habe mich entschlossen, Ihnen meine Maschine zu zeigen. Jawohl, Sie sollen sie sehen. Ich will Ihnen gestehen, daß ich lange davon geträumt habe, einem wohlwollend gesinnten und ehrenhaften Manne zeigen zu dürfen, was ich erreicht habe. Denn das Problem ist gelöst, Kapitän Barri. Von mir! Und an eben dem Tage, da wir aneinander zuerst begegneten. Ich hatte meinen Äroplan, getragen von meiner elektrischen Dräsine, die Schmalspurbahn entlang geführt. Und als Sie mich sitzend im Heidekraut antrafen, da hatte ich zum ersten Male in meinem Luftschiff in freiem Flug meine Dräsine verlassen! Jawohl, ich war geflogen! Hundert Meter in wagerechter Richtung und zehn Meter hoch über der Erde!«

Und immer weiter sprechend und erzählend, führte er mich zu einer mechanischen Drehscheibe, die vor der Wassermühle angebracht war. Von dieser Drehscheibe aus lief die Schmalspurbahn, und hier stand, mit seinen Aluminiumkufen auf einer Dräsine ruhend, Jacquelins Gleitflieger.

Es ist mir jede Möglichkeit genommen, das Prinzip von Jacquelins Flugapparat zu enthüllen. Der Grund ist folgender: Jacquelin nahm vor nun vierzehneinhalb Jahren das Weltpatent. Dieses läuft also in zirka einem halben Jahre ab. Nachdem Jacquelin fortgeflogen und – nun ja! – auch fortgeblieben war, zeigte es sich, daß er keine Erben hatte, und sein bedeutendes Vermögen fiel, da er kein Testament gemacht hatte, dem Fiskus, dem Staate zu. Das Hinterlassenschaftsgericht ließ seine Modelle als altes Metall verkaufen, und seine Zeichnungen wanderten pfundweise in eine Lumpenfabrik. Aber Sie verstehen, daß ich, obwohl das Patent demnach faktisch herrenlos ist, dennoch nicht das Recht habe, Ihnen, meine Herren, in Form einer Erzählung das Patentgeheimnis Jacquelins zu verraten, das ich genau kenne und vollauf zu beurteilen imstande bin.

Nur soviel will ich mitteilen: Es war ihm – was ich beim ersten Blick erkannte, als ich seinen Gleitflieger sah – vollständig gelungen, die größte aller Schwierigkeiten bei der Konstruktion eines Äroplans zu überwinden, nämlich die Gefahr der Seitenkenterung. Seine Maschine besaß vollkommene Stabilität! Sie konnte selbst im heftigsten Orkan nicht kentern. Es war keine akrobatische Schulung des Lenkers erforderlich, um sie auf der Luft im Gleichgewicht zu halten, so wie es selbst bei dem Flieger der Brüder Wright der Fall ist. Ja, meine Herren! Es war der vollendete Äroplan! Ein Kind konnte seine Eltern, die Eltern ihr Kind ihm anvertrauen. Er war gefahrlos wie eine Droschke. Kurz gesagt: er war all das, was kein anderer Flieger noch ist.

Jacquelins erster Flieger hatte keinen Motor. Später gebrauchte er eine Kompressionsmaschine zur Weiterbewegung; aber seine eigentliche Idee war allerdings, das Gleiten ohne Anwendung von Motorkraft zu vervollkommnen: das Segeln auf der Luft. – Wie ungeheure Zeltdächer hoben sich die Tragflächen über dem Gerippe, das, wie gesagt, lose auf der Dräsine ruhte. Die Metallstangen kreuzten einander, in der untergehenden Sonne glühend, die schwarzblaue Schattenbänder um die schlanken Rohre legte. Es war an jenem Nachmittag absolute Windstille.

Jacquelin stand neben mir und sah mich mit einem verlegenen Lächeln an, und ich bemerkte viel Sympathie in seinen Augen, plötzlich sagte er: »Ich fahre jetzt zum zweiten Male; heute abend mache ich meinen zweiten Versuch! Wollen Sie mithalten? Wenn Sie Lust haben, erweisen Sie mir die Ehre, mein erster Passagier zu sein!«

Ich war freudig überrascht. »Ja,« sagte ich, »mit Freuden. Ich übernehme selbst das Risiko für meine Person. Sie haben nicht die mindeste Verantwortung für mich zu tragen.«

Er protestierte. Die Verantwortung sei ganz allein sein, falls ich ernstlich zu Schaden käme. Und endlich einigten wir uns in der Erwägung, daß er mir ja Revanche schulde, da ich ihm bei einem Unfall behilflich gewesen, und ich ihm nun Gelegenheit geben müßte, seinerseits im gegebenen Falle mir zu helfen.

Übrigens ging ich gar nicht ernstlich davon aus, daß Jacquelin fliegen könne, wenn auch seine Theorie, wie gesagt, mir beim ersten Blick einleuchtend richtig erschienen war. Aber ich hatte beschlossen, was nun auch geschehen möge, mit dabei zu sein, und so setzte ich mich denn resolut rittlings auf den fahrradartigen Sattel hinter Jacquelin.

Wunderlich kulissenartig lagen die Seidentücher der Tragflächen in ihren dünnen Rahmen über unseren Scheiteln. Etwas Unwirkliches und Theatralisches schien mir in dieser Situation zu liegen, wie wir so dasaßen und erwarteten, aufzufliegen: die Füße auf zwei steife Pedale gestemmt, mit den Augen der Sonne auf den blanken Metallteilen zublinzelnd.

Eine elektrische Glocke klingelte scharf in dem Dynamoraum, und in demselben Augenblick fuhr die Dräsine mit uns ab und rollte mit wachsender Schnelligkeit die Schmalspurbahn dahin über den Hügel. Die Heide wanderte sausend an uns vorbei wie ein grauschimmernder Vorhang.

»Nicht hinauslehnen! Gleichgewicht! «rief Jacquelin. »In einer Minute starten wir!« Die Maschinenteile der Dräsine klapperten unter uns. Brausend zog die Luft zwischen den Tragflächen ein und pfiff zwischen den Rohren eine kreischende Melodie. Wir nahmen eine Höhe und nun sahen wir das Meer. Wie mit einem Schlag hörte das Land auf, jäh abstürzend gegen die See, die blendend rot in der letzten Sonnenglut dalag und uns ihre unermeßliche Fläche näher und näher entgegenrollte. Und immer dichter fuhren wir der dunklen Schneide zu, wo die Erde aufhörte, wo die beiden Feuerstreifen des Geleises plötzlich endeten und der sechzig Fuß tiefe Absturz sich senkte, schroff hinab auf einen Grund scharf emporgeschraubter Klippen.

Und da bereute ich einen Augenblick! Ich klammerte mich an die Aluminiumstange zu meiner Seite, beinahe fest entschlossen, abzuspringen – jawohl! abzuspringen, ehe es zu spät war!

Aber in demselben Moment sah ich Jacquelins enormen Körper sich vornüberneigen. Seine Hand arbeitete an einem Triebrad. Ich biß die Zähne zusammen. Jetzt! Aber schon war es zu spät. Ich starrte eine Sekunde lang in Angst – dann löste sich alles in Verwunderung.

Ich sah nicht mehr den grauen Dräsinenkasten unten zwischen den Kufen des Äroplans. Ich sah unter mir durch das schlanke Netz von Röhren und Stangen Sand, Heidekraut und Strandhafer, und dies alles sank, sank. Und im nächsten Augenblick die scharfe Kante des Abhanges, die wie ein Vorhang blitzschnell unter unseren Füßen weggerissen wurde.

Die Welt unter uns ward plötzlich weiß, durchsichtig klar, und als ich endlich meine Pupillen zu festigen vermochte, sah ich zwischen meinen Stiefeln, die auf den festen Pedalen ruhten, tief, tief unten in lotrechter Perspektive den Strand und die roten samtartigen Klippen – Hunderte von Fuß unter uns. Und unserer Bewegung entgegen entrollte die Brandung des Atlantischen Meeres mit rasender Eile drei breite weiße Schaumschleppen. Und wir stiegen, wir stiegen!

Durchrauscht von einer wunderbaren Kraft, von einem Glücksgefühl, das alles Gewicht von mir nahm, wunderlich wirr und hingerissen fühlte ich, wie wir flogen!

Wir hatten die Dräsine und die rollenden Räder verlassen. Sie standen nun hinter uns, zum Stehen gebracht von dem Bremsbaum des Geleises.

Wir aber waren weitergezogen, frei und unbehindert, wir segelten auf den schrägen Ebenen der Luft, wir glitten auf dem weichsten und geschmeidigsten aller Lager, wir schwammen auf den ewig wechselnden Oberflächen der Atmosphäre!

Tief unter uns lag das Meer, dunkel und von Ringen gefurcht, seltsam schleimig in seinem Glanz. Es war, als stünden wir still über dieser großen dunkelblauen Fläche, die in schläfrigen Runzeln unter uns hinzog. Bewegten wir uns nicht mehr? Schwebten wir auf demselben Fleck? Aber da blickte ich empor zu den ausgespreizten Tragflächen, und nun empfand ich erst ernstlich, daß wir flogen.

Da droben standen die gespannten Segel in ihren zitternden Metallrahmen, in ungeheurer Flugweite über uns ausgebreitet. Ein leise schnurrender Ton drang aus den großen konkaven Flächen – als sammelten sie hohlspiegelartig all die tausend Laute der Luft und gäben sie grau und monoton wieder von sich. Und ich sah, wie wir durch die Atmosphäre balancierten. Zärtlich liebkosend neigten die Tragflächen sich über die milden Abendwinde, die uns entgegenkamen. Ich folgte dieser leise streichelnden und graziös wiegenden Bewegung, diesen winzigen Winkeln, die unsere Flügel langsam und fest an dem glühenden Horizont vorbei beschrieben – wie dem geschmeidigen Balancierstab eines Seiltänzers. Ja, nun ruhten wir auf unseren Schwingen, wogen unser Gewicht gegen die Dichtigkeit der Luft. Tanzend und freundlich kam der Seewind uns entgegen, in all den gespannten Schnüren singend wie in den Saiten einer Äolsharfe. Wir fühlten an unseren Wangen den Druck fahrender Luft.

Schon neigte unsere Bahn sich abwärts. Die Fugen des Meeres erweiterten sich, kamen uns entgegengestürzt. Aber aufs neue stiegen wir in einer langen und geschmeidigen Windung und zogen plötzlich in einer neuen, dem Lande parallelen Bahn. Rechts unten zeigte sich der lange Strand als eine breite Sandstraße. Und da unten standen Menschen und starrten zu uns empor. Sie drängten sich in Haufen, durch immer neue Zuschauer vermehrt, die in Badelaken aus den Kammern der Dünen herbeigelaufen kamen. Es waren lauter badende Frauen und Kinder. Einige standen bis zu den Knien in den Wellen und spähten zu uns empor.

Und plötzlich hatte die Sonne das Land da unten verlassen; es lag in blauendes Halbdunkel gehüllt. Seine Sonne war untergegangen! Wir aber segelten noch in einem Bad von Goldstrahlen! Ich sah meinen Führer Jacquelin, von dieser Sonne beleuchtet, in seinem Lederküraß wie in einer goldflammenden Rüstung. Sein Körper folgte rhythmisch den schwachen Stampfbewegungen unserer Bahn. Aus seiner Kehle kam ein tiefdröhnender Ton, ein melodieloser Gesang.

Und langsam kam das Meer uns näher. Erst jetzt öffnete sich mir die Frage nach der Möglichkeit einer Landung. Und diese Frage fand in demselben Augenblick ihre Lösung: ein Stück weiter draußen im Meer bewegte sich, laut tickend und unserer Bahn folgend, ein Motorboot, geführt von Pierre, Jacquelins verläßlichstem Mann. Dieses Motorboot schleppte ein Floß. Und nun sah ich das helle Viereck dieses Flosses lotrecht unter uns in dem unermeßlichen Blau schwimmen.

Wir landeten in vollstem Gleichgewicht und ohne die geringste Havarie. Ohne daß wir unseren Sitz verließen, bugsierte das Motorboot das Floß und unseren Flugapparat die Küste entlang südwärts zu unserem Startplatz.

Ein Blick auf meine Uhr ließ mich zu meiner großen Überraschung konstatieren, daß unsere, wie es mir vorkam, sehr weitläufige Fahrt bloß zwei Minuten und einunddreißig Sekunden gewährt hatte.

»Wahrhaftig!« rief ich Jacquelin zu. »Auf welche Bruchteile von Zeit müssen wir nicht von nun an unsere Vorstellungen und unsere Aufmerksamkeit einstellen! Wir werden gezwungen sein, unser Zifferblatt nochmals zu teilen. Wir werden uns nicht mehr begnügen können, Sekunden zu messen! Wir werden die Sekunden noch in Terzen und Quarten teilen müssen, so rasch wird unsere neue Welt sich bewegen, und so kurzfristige Zeiträume werden wir fortan von unseren Uhren ablesen müssen.«

Aber Jacquelin antwortete mir nicht. Sein Gesicht war seltsam stumpf und schlaff. Sein Blick war in die Ferne gewandert und in einer sonderbar düsteren Leidenschaft erstarrt. Mehr als jemals glich er in diesem seinem Siegesaugenblick mit seiner schwerfälligen und gewaltigen Erscheinung einem finsteren, unseligen Titanen.

Sie werden verstehen, daß ich, besonders in den ersten Tagen, völlig unter dem Bann dieses großen Erlebnisses stand. Aber merkwürdig rasch glitt das Begebnis in meiner Erinnerung zurück, wie etwas Unwirkliches und Flüchtiges. Es kam wohl daher, weil ich nicht das Recht hatte, mich anderen mitzuteilen. Ich stand ganz isoliert da mit dem Bewußtsein einer vollbrachten universellen Tat. Und das Ganze war ja so kurz gewesen – ein minutenlanger, spurloser Sprung hinaus in eine unerschlossene, wunderbare Welt.

Und mit einem Male sah ich Jacquelin in einer neuen und größeren Bedeutung. Während er sich selbst rein körperlich erhob, als sei er in Wirklichkeit befreit von den Gesetzen der Schwerkraft, hatte ich ihn auch als Typus sich erheben sehen in die Regionen des Sublimen, als Typus des nur zu einseitigen technischen Strebens unserer Zeit, als menschliche Form einer dunklen, schwerbelasteten Schöpferkraft, als einer jener düstergefärbten Heroen, die nie des Glückes teilhaftig werden, den Göttern nahetreten zu dürfen. Er erschien mir nicht mehr komisch oder mitleiderweckend wie früher, nicht mehr als mißgestalteter Centaur der Luft, halb Mann, halb Flügelroß. Sein Genius überzeugte mich, seine desparate Kraft flößte mir Furcht ein.

Wie ich sagte, hinterließ sein Wagestück keine Spuren, weder in der Luft noch auf Erden. Diejenigen, die ihn gesehen hatten, hatten mißverstanden, was sie gesehen. Eine Schar Damen und Kinder erzählte, in das Hotel zurückkehrend, von einem großen Zelt, das von dem Felsabhang ins Wasser hinabgestürzt sei. Aber die Herren legten dem Zeugnis ihrer Damen kein besonderes Gewicht bei.

Schon denselben Abend traf ein Eilbrief an mich ein, der mich in einer wichtigen dienstlichen Sache nach Paris berief. Und es verstrich ein voller Monat, ehe ich – es war gegen Ende September – meine Vermessungsarbeiten wieder aufnahm.

Natürlich galt einer meiner ersten Besuche Jacquelin.

Ich kam gegen Abend zu seinen Werkstätten hinaus. Es dämmerte schon. Der Himmel war besprengt mit schwarzem fahrendem Ballengewölk, das sich vor einer heftigen steifen Nordwestbrise entrollte.

Die Schmiede lag offen, aber finster. Aber draußen vor der alten Wassermühle hob sich aus der Dunkelheit eine riesige, komplizierte Formation. Ich unterschied beim Nähertreten, als sich ihre Silhouette deutlicher auf dem etwas helleren Himmel zeichnete, ein mächtiges Metallskelett, ein Gerüst von Stangen, das sechs doppelte ausgestreckte Flügelspannen trug, ein Stativ aus Segeln und Tragflächen – noch unfertig, anzusehen wie das Spantengerippe eines Schiffes: Jacquelins neuer Flieger!

Ich erkannte, während ich mich rings um diesen Koloß bewegte, Einzelheiten von seinem ersten Gleitflieger. Aber dieser war mächtiger, viermal so tragfähig, ein ungeheurer schwarzer Drachenflieger, der hinten auf langen Stangen einen fischförmigen Steuerschwanz vorstreckte, während über den Tragflächen auf zwei krummen Fühlhörnern die Doppelfläche des Höhensteuers saß.

Er mußte einen Motor haben, das erkannte ich an der Schleife der Schraubenblätter unter dem langen dreieckigen Sattel. Gegen die hellere Luft erschien dieser dunkle gestielte und zipflige Schatten in der Form einer halbentblätterten Riesenblume, eines Venuswagens, aus dessen durchbrochener Krone die krummen Staubträger aufragten.

Ich merkte plötzlich, daß jemand hinter mir stand. Und als ich mich umwandte, sah ich Jacquelins dunkles, bärtiges Gesicht ganz nahe dem meinigen.

Ich reichte ihm die Hand; er nahm sie ohne Freundlichkeit. Eine merkliche Veränderung war mit ihm vorgegangen. In seinen Zügen lag eine verbissene Heftigkeit und die offene Helle des Blickes war einem Ausdruck von Drohung und Gereiztheit gewichen. Seine Bewegungen waren abrupt und fahrig geworden; nicht eine Sekunde blieb er ruhig. Es war, als stemme er sich beständig gegen eine Richtung, die sein Körper nehmen wollte, aber nicht durfte. Ich begriff, daß er sich unter dem Zwang irgendeines starken Triebes befand, und daß seine empfindliche Psyche unaufhörlich Balance wechseln mußte, um das Gleichgewicht erhalten zu können.

»Sehen Sie,« sagte er ein wenig später mit etwas zuvorkommenderer Miene, »mein treuer Äroplan ist fertig. Und an einem der nächsten Tage will ich fliegen.«

Ich machte einige Bemerkungen über die Veränderung dieser Type, aber sein Blick verriet kein volles Zutrauen.

»Mein alter Gleitflieger ist zwei Tage nach unserem letzten Experiment verunglückt. Aber daran ist nichts verloren, da er ja doch dieser neuen und besseren Type hätte weichen müssen.«

»Was wir damals ausführten,« fuhr er fort, »war nichts, war wertlos, nichts Besseres als das Spiel eines Kindes, das mit einem Brettchen im Fischteich umherplätschert. Vor mir liegt jetzt eine größere und bedeutungsvollere Aufgabe.«

Er stand neben mir, sich in den Knien wiegend, das große Haupt gesenkt, und seine Augen spähten forschend nach meinen Mienen.

»Jetzt weiß ich erst, was mir damals fehlte; warum jene ersten Versuche mich nicht ganz zu befriedigen vermochten. Als wir an jenem Tag gelandet waren, ergriff mich eine mir damals unerklärliche Traurigkeit und Bitternis. Ich wußte nicht warum. Ich stand da und betrachtete hilflos und fragend meine leeren Hände, und das Ganze erschien mir mehr wunderlich als wunderbar. Ich hatte die Aufgabe gelöst, die ich mir gestellt hatte. Nun war es vorbei. Was nun?«

Ich dachte mir sogleich den Grund von Jacquelins Mißmut. Er hatte seine Gedanken in zu hohem Grade auf diese spezielle Aufgabe eingestellt. Er sah nicht eine ihrer menschlichen Seiten. Nicht eine Sekunde lang träumte er Zukunftspläne von allgemein menschlicher Art. Nur von Punkt zu Punkt sah er. Und darum stand er, sobald die Aufgabe gelöst war, jener Öde und Furcht gegenüber, die dasselbe sind wie das Grauen des Unseligen vor der Ewigkeit.

Aber nun hatte er ja, wie er meinte, einen Ausweg gefunden.

Seine Hände beschrieben Figuren in der Luft. »Jetzt weiß ich, wo meine Aufgabe liegt,« sagte er. »Sie besteht nicht darin, in stillem Wetter, bei schlaffer, widerstandsloser Luft einige hundert Meter weit zu gleiten. Den Wind will ich herausfordern. Den Sturm will ich bezwingen. Ich habe mir eine neue und viel längere Bahn erwählt, quer durch die Luft, die uns da von Norden lärmend entgegenkommt. Ja, gerade ihr entgegen will ich, den Kurs Nordost und Nord!« Er wies hinaus über die Klippen. »Sehen Sie dort hinter den Hügeln Cape de la Hagues Leuchtturm blinken? Dort will ich vorbei – und weiter! Morgen starte ich. Ich schwinge mich von meinem Uferabhang auf und stelle den Kurs auf Norden; ich fahre rings um das Cape de la Hague. Morgen abend lande ich in Cherbourgs Hafen! Sie wissen ja, daß ich einer der Direktoren der großen Cherbourger Schiffswerfte bin. Aber glauben Sie nicht, daß meine Kollegen meine Arbeit hier draußen etwa mit Respekt und Sympathie betrachten. Einerlei! Morgen abend komme ich, auf dem Winde segelnd, die Luft unter mich ziehend, nach Cherbourgs Hafen geflogen und lande auf der Helling der Werfte, gerade vor meinen eigenen Kontors.«

Ich schwieg. Ich sah ein, daß er seit dem letzten Mal nicht viel weiter gekommen war. Bloß einen neuen Längenweg, aber nicht in der Breite der Weltentwicklung. »Ihr Versuch kann nur mit dem allergrößten Risiko ausgeführt werden!« sagte ich endlich. »Es ist ein fast wahnwitziges Wagestück. Sehen Sie doch: Sie haben nun in der Theorie eines der größten und herrlichsten Probleme gelöst. Aber Sie haben nicht das moralische Monopol auf Ihre Erfindung. Die Menschheit hat Anspruch darauf, daß diese Sache durch ruhige Arbeit gelöst und nicht durch einen halsbrecherischen Coup, einen Versuch, in sportlicher Beziehung einen Rekord zu setzen, einem vielleicht unwiderruflichen Untergang preisgegeben wird.«

Aber er schüttelte nur den Kopf. Meine Vorstellungen von einem großen und allgemein menschlichen Interesse weckten keinen Widerhall in ihm.

»Mir erübrigt nichts,« sagte er, »als diesen Weg zu gehen, und ich kann nicht wieder glücklich werden, ehe ich ihn nicht versucht habe. Verstehen Sie denn nicht, daß ich erst, wenn ich mein Leben ernstlich für das Schwierigste eingesetzt, ein Recht auf dieses Leben errungen habe? Hindurch will ich. Lange genug hat Cape de la Hagues glutrote Laterne mich irritiert. Lange genug hat der Sturm zwischen den Hügeln zu mir heraufgeheult. Einmal hat er mich sogar umgeworfen. Meine Tragflächen sind in vollkommener Stabilität, mein Flieger kann nicht kentern, aber ein fast lotrechter Windstoß schleuderte mich von oben herab, so daß mein alter Gleitflieger verunglückte. Jetzt aber habe ich mich selbst mit Kraft versehen. Ich habe einen Motor und eine Luftschraube. Ich bin gerüstet, mit dem Sturm zu kämpfen. Und den Weg, den ich mir vorgesetzt habe, muß und will ich gehen, und wenn es mein Leben kostete!«

Seine Pupillen erweiterten sich, seine rechte Hand hieb geballt durch die Luft. Er stand an die schaukelnden Metallstangen des neuen Fliegers gelehnt, dessen Name » Feuerglobus« in weißen Buchstaben auf die rabenschwarzen Segel der Tragflächen gestempelt stand.

Ich sah ihn zum letztenmal, als ich auf meinem Heimweg über die Höhen zurückblickte. Er stand bei seinem dunklen Apparat – ein titanischer Körper, beschwert von seiner unbrauchbaren Riesenkraft. Schon war er fern von meiner Welt. In tiefer, weitentrückter Einsamkeit stand er da, mit seinem ewig wiederkehrenden Problem ringend. Sein Geist war wohl schon gestört, sein Wille monoman, begrenzt auf eine Linie von Ziel zu Ziel, auf einen einzigen Weltrekord, den es zu setzen gab. Aber so mußte es wohl sein! Sie, die den Weg weisen, müssen ja solche wahnwitzige Spezialisten sein, monomane Plänkler, die uns anderen auf den möglichst kurzen Wegen voranfahren, mit pfeilspitzem und fliegendem Willen, blind für alles andere in der Welt, naiv wie Zehnjährige in allen anderen Wissenschaften außer ihrem eigenen winzig kleinen Fach. Und wir dürfen ihnen nicht Einhalt tun. Denn sind sie nicht Symbole alles Menschentums, gesehen gegen die Unermeßlichkeit des Universums?

Es zeigte sich, daß Jacquelin schon am folgenden Tag seinen Versuch ins Werk gesetzt hatte. Pierre, sein Arbeiter, erzählte mir, die Maschine habe unterwegs auf der Schmalspurbahn, noch auf den Rädern ruhend, unter dem doppelten Druck des Sturmes und des Erdwiderstandes Havarie gelitten. Der intelligente Mensch schüttelte den Kopf. »Lassen Sie ihn nur erst in die Luft kommen,« sagte er, »und er wird fliegen wie ein Vogel.«

Es vergingen weitere elf Tage. Der Badeort war total verödet, und die Bevölkerung des Fischerdorfes rückte wieder in ihre Behausungen ein. Auch mein Werk näherte sich seinem Abschluß und fesselte mich an mein Zimmer, wo ich Tag um Tag mit Reißfeder und Dreieck meiner Arbeit oblag.

Es war der 1. Oktober, als mir Pierre unserer Verabredung gemäß telephonisch meldete, daß Jacquelin heute abend aufzusteigen gedenke. Pierre selbst beabsichtigte auf eigene Faust und gegen die Order das Motorboot klarzumachen, um dem Flieger auf seiner Bahn zu folgen. Er bat mich, ihm Beistand zu leisten.

Ich griff nach Wachstuchmantel und Uniformmütze. Ich lief durch den Park den Strand hinab. Es war spät am Tage. Am Horizont formte sich ein ziegelroter, unreiner Streif an der Stelle, wo die Sonne hinter den Regennebeln versank. Das Barometer war im Laufe des Tages stark gefallen. Ein prickelnder Sprühregen kam mir in heftigen Böen entgegen. Es blies stark aus Nordwest, aber ich fand Schutz hinter den Dünen und gelangte endlich zu der Stelle, wo ein bleicher Mann in Ölzeug und Seestiefeln auf der Reeling des Motorbootes saß, das auf den Sand hinaufgezogen war, eben noch unberührt von der niederen, aber kräftigen Brandung.

»Wir können das Boot leicht ins Wasser schieben, wenn Herr Jacquelin startet,« sagte er, »aber ich glaube nicht, daß er startet. Und wenn er startet, ergeht es ihm wohl so wie letztesmal, daß es ihm nicht gelingt, Luft unter seinen Apparat zu bringen. Ist er aber in der Luft, so wird er fliegen wie ein Vogel, und dann müssen wir uns klar halten. Denn ich verstehe nicht, wie er lebend herabkommen kann. Ja, ich glaube überhaupt nicht, daß er in diesem halben Orkan herabkommt. Aber wir wollen ja sehen.« Und er zündete seine Pfeife an und schielte mit gekreuzten Armen unter den buschigen Brauen empor nach dem Abhang, der sich turmhoch über uns aufreckte, seinen Heidekrautbart zu unseren aufwärtsgewandten Augen neigend.

Der Wind legte sich in nassen festen Umklammerungen an unsere linke Körperseite, und wir empfanden deutlich, wie auch wir eine Lee- und Luvartseite hatten. Dann und wann erhob der Flugsand sich zu einem hohen grauen Mantel, der sausend über uns herfiel und Hände und Mund und Taschen mit glasknisterndem Kies füllte. Der Wind begann zu heulen, die verjagten Wolken verteilten sich, die Brandung hob sich phosphorweiß und zerstob in dicke Schaumbüschel, die auf der Luft segelten. Und ich dachte: Sowie mit diesen Sandkörnern und Schaumflocken wird der Sturm auch mit ihm hausen und heulen, wenn er aufsteigt!

Eben sank die Sonne, und ein eisiger Windstoß brachte die Dunkelheit vom Meer mit sich. Aber zugleich klärte sich die Luft, wurde wachsgelb und durchsichtig.

In diesem Augenblick ging ein schwerer und zäher Ton wie ein Seufzen über unsere Köpfe hin.

»Klar!« schrie ich und sprang auf. »Macht das Boot klar!«

Ein gewaltiger, eckiger, vollkommen schwarzer Schatten war von der Kante des Abhangs über uns hinweggestürzt, an uns vorbei, auf der Luft fahrend mit ungeheurer Schnelligkeit, jetzt nur mehr sichtbar als eilender dunkler Streifen, der sich gegen das Meer zog. Er erschien uns erst in seiner richtigen Form, als wir ihn von rückwärts durch die Länge seiner Bahn unterscheiden konnten: die sechs Etagen der Tragflächen wie dunkle Riesenschilder, durch schlanke Stangen verbunden, ein System von Kürassen und Lanzen. Wir hörten die pfeifenden Wirbel der Luftschraube, die klingenden Explosionen des Motors. An Größe schwindend, aber immer klarer im Umriß erhob sich der »Feuerglobus« und wandte sich seewärts. Ich sah die enormen Kondorschwingen die Luft umfassen, balancierend hinwandeln über den Wind. Und da oben stand er, Jacquelin, die mächtigen Fäuste um das Steuerrad geklammert, mit brennendem Blick unter den buschigen Brauen vor sich hinspähend, den Stürmen entgegen – ein kohlschwarzer Schiffer am Steuer seines fliegenden Gespensterschiffes. Das Motorboot scharrte durch den Sand. Wir sprangen an Bord. Wir kämpften uns durch die Brandung in einer Bahn lärmenden Gischts, bis die zurückkehrenden Wellen uns hoben und wir flott wurden. Wir fuhren los, den Kurs seewärts nehmend, den ersten aller Flieger verfolgend. Mit Begeisterung und Grauen sahen wir ihn da draußen wandern, nun dem Horizont so nahe wie ein mächtiger und geheimnisvoller Magier, der unter seinem ungeheuren Mantel dahinfliegt. Wir schrien, wir schwenkten die Hüte. War er verloren auf dem Weg, den er genommen? Sieh da, er kam zurück!

Ja, es trieb ihn zurück. Dies Fahrzeug, das nicht kentern konnte, kam in vollem Gleichgewicht rücklings uns entgegen, vom Sturm bedrängt, von fahrenden Luftmassen zurückgeschleudert. Er sank nicht, nein, er hielt sich, ja stieg sogar, hob sich in die Lüfte, als wollte er versuchen, über diese sperrenden Berge verdichteter Atmosphäre hinüberzukriechen. Näher kam er uns – ein Rückzug! – nein, jetzt rückte er neuerdings vor, senkte die Bahn, suchte einen Schlupfweg, einen Paß zwischen den Höhen der Sturmwogen. Wieder war er fast uns zu Häupten, undeutlich wahrnehmbar durch das dichter werdende Dunkel. In den Windpausen kam das Mahlen der Luftschraube in abgebrochenen Wirbeln zu uns. Wir sahen die enormen kohlschwarzen Vierecke über unseren Gesichtern, das Aluminium des Traggerüsts zeichnete sein blinkendes Licht. Er hatte die Laternen angezündet, eine grüne und eine rote. Stand er still, hing er im Gleichgewicht zwischen seiner Kraft und dem Widerstand der Luft? Wollte er hinabsteigen? Wir winkten und schrien. Wir waren klar!

Aber wiederum stürzte der Flieger hinaus in das Sturmgewoge, zum Meer brassend wie ein dunkles Phantom mit rotem und grünem Feuerauge, die schwarzen Segel von weißen Rippen ausgespreizt, wie die gestreiften Piratsegel einer chinesischen Dschonke. Vor den Winden schlingernd, sich wieder aufrichtend in voller Balance, schwingend wie das Gewicht an einem ungeheuren Pendel vor der mächtigen Himmelsscheibe – so sahen wir den »Feuerglobus« dahinsegeln, gegen Nordwest, nochmals zurückgeworfen, und dann plötzlich verlöschen in der Unendlichkeit, hinabstürzen in die bodenlosen Abgründe der Finsternis. Ein Wanderer in einer leb- und raumlosen Welt, ewig unselig, ging sein Lenker ein durch das Tor der tausend Nächte, trauernd, trotzend und verzweifelt, eine hochragende Geistergestalt am Steuer des ersten Todesseglers der Lüfte!

Mit Eiseskälte und Grauen, mit dem Tosen des unsichtbaren Meeres lag die Finsternis dicht und weit um uns her. Minutenweise zeigte der Leuchtturm des Vorgebirges seinen Feuerschein über dem Horizont. Eine einzige kohlschwarze Wolke verfinsterte den Zenith dieser sternenfunkelnden und doch undurchdringlich dunkeln Oktobernacht.

Wir wandten den Kurs landeinwärts, verwundert, betrübt, entsetzt. Handelte es sich ja um das für uns allermenschlichste Ding: um unser Leben. –

Ich habe schon gesagt, daß Jacquelin nicht zurückkam. Aus Cherbourg meldeten keine Depeschen von einem Weltereignis, das aus der Luft geflogen gekommen und sich offen vor aller Augen auf den Hellings der Werften niedergelassen hatte. Von Cape de la Hague wurden keine in Wolken schwimmenden mystischen Laternen signalisiert.

Aber heimgekehrte Fischer erzählten ihren Nachbarn von Phantomen, die sie draußen auf dem Meer hoch über ihren Kuttern kreuzen gesehen: einem Zug großer Schatten, zwei klaren und ruhigen Lichtern und einem Ton wie von einer fernen Uhr. Und ihnen wurde Jacquelins Flug zu einer Mythe, zu einem Zeichen des Universums, zu welchem sie sich eine Geschichte dichteten, zu einer Sage, die sich ewig wiederholte, wenn sie am Steuerruder saßen und hinaufstarrten nach dem unbeweglichen Himmel, durch das Meeresbrausen dem Takt der mächtigen Uhr des Weltalls lauschend – und plötzlich zu sehen und zu hören meinten. –

Der Luftpilot Jacquelin ist nun vielleicht ein Skelett gebleichter Knochen, verwickelt in dem zweiten Skelett des totenweißen Aluminiums, das an irgendeinem Riff des Meeresgrundes gestrandet ist.

Aber ist der Gedanke nicht unvergänglich, daß es einem dieser belasteten und glücklosen Riesen auch bloß ein einzigesmal gelang, sich von der wuchtenden Erde zu erheben? Und ewig wird ihr Wille hiezu sich wiederholen. Ewig wird ihr Wille, dunkel und trotzig, kreuzen und kämpfen, um immer neue der sperrenden Vorgebirge der Welt zu umsegeln.

Und vielleicht werden diejenigen, die einstmals hier oben fahren werden – etwa schon die Kanalkreuzer in diesen nächstfolgenden Nächten – die Warnung seines trotzigen Motors hören und seine ruhigen Laternen winken sehen.« –

Kapitän Barri hatte seine Erzählung beendet. Alle saßen eine Weile stumm. Der Morgen war angebrochen, schon lag der Horizont weiß von dem werdenden Licht.

Und da war es, daß das Schreien zum zweitenmal erscholl, aber diesmal nicht von dem jungen Toren Morton mit seinen allzu offenen Augen des Sonntagskindes. Eine der vertraueneinflößenden Uniformmützen der Schiffsmannschaft meldete, daß Latham gestartet und bereits in Sicht sei.

Sie standen auf Deck und spähten durch das Fernrohr nach dem kleinen dunklen Fleck, der sich von der französischen Küste gelöst hatte und sich nun, von vorne wie eine kleine Oblate anzusehen, auf der ganz klaren Luft zeigte.

Jetzt aber sahen sie ihn drehen und sein Profil zeichnen – ein rascher spindelförmiger Flieger, auf sein Ziel weisend wie ein Pfeil, in voller Balance der graziösen dünnen Flügel – sahen ihn schlank und gestreckt die Luft durchschießen wie ein junger eifriger Vogel.

Jameson wandte sich jäh und erregt um: »Das ist nicht Lathams Flieger!« Kapitän Barri nahm das Fernrohr. »Nein,« sagte er langsam. »Das ist kein englischer Flieger!« Und plötzlich lüftete er seine Mütze.

»Blériot!« sagte er.


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