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Der Chirurg

Die Krankenpflegerin öffnete und ein etwa sechzehnjähriger Junge, blond, sehr wohlgekleidet, trat durch die Eingangstür der Klinik. Die Vorsteherin, die soeben aus dem Korridor kam, musterte ihn, ohne die eingelernt starre Würde ihrer Mienen zu verändern. – Ob der Herr Professor zu sprechen sei? – Nein, der Herr Professor sei nicht zu sprechen. Der Herr Professor operiere soeben. – Das ihr stets gegenwärtige stramme Reglement der Klinik erfüllte sie mit tiefem Selbstrespekt. Sie war groß und vierschrötig und die Züge ihres Männergesichtes schienen bewegungslos in ihrer Ruhe.

Bei näherer Betrachtung des Besuchers fand sie indessen gewisse Ähnlichkeiten heraus: den schlanken, eleganten Wuchs, das weißlichblonde, fast schleierartige Haar, die gerade, griechische Nase und eine gewisse, schier mutwillige Kraft im ganzen Auftreten, die bei jeder Bewegung aus ihrem Versteck schlüpfte wie ein Messer aus der Scheide.

Sie stellte stumm einen Stuhl vor ihn hin und wandte sich dann ab, ohne sich jedoch der Tür des Operationssaales zu nähern, durch die der Professor erscheinen sollte, sogleich oder in präzise einer Viertelstunde – je nach dem Ergebnis der eben stattfindenden Resektion, die entweder ein gutartiges Sarkom oder gewisse bösartige Geschwüre bloßlegen mußte, welche in ihrem unabwendbaren Verlaufe aller weiteren Eingriffe spotteten.

Der Knabe verbeugte sich höflich und nahm Platz, den Blick unverwandt auf die Tür geheftet, hinter welcher er den Vater an der Arbeit wußte.

Er befand sich in einem hohen, hellen Korridor, graugemalt, mit Reihen weißer, verschlossener Türen. Eine derselben stand offen, er fühlte durch die karbolgereinigte, süßlichsaure Luft einen gewürzten Blumenduft zu sich dringen und sah nun auch Blumen – Blumen in Menge über einen Tisch gehäuft und daneben ein junges Mädchen, sehr bleich, den Kopf von Flechten umwunden. Ihre Züge lösten sich jeden Augenblick in einem gequälten, schlaflosen Gähnen. Auf dem Tische stand eine Unzahl Flaschen und verschlossener Gläser, mit Flüssigkeiten und schwammartigen Präparaten gefüllt. Bald aber fesselte ein Glasschrank mit versilberten Instrumenten, Messern, Zangen und Pinzetten seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie flößten ihm in ihrer blanken Reinheit und Gefährlichkeit ein eigentümliches Wohlgefallen ein und er musterte sie mit neugierigem Vergnügen, während er sich ihre Verwendung vorzustellen versuchte.

Eine große, blonde Krankenpflegerin kam in diesem Augenblicke, in den Händen eine Schale mit etwas Dampfendem, eilig aus dem Operationssaal durch den Korridor her. Durch die Türspalte sah er ein blendend scharfes Licht, tief über einem Tische hängende schwefelgelbe elektrische Lampen und eine Sekunde lang des Vaters Antlitz, herabgeneigt mit dem Ausdruck eines Starrenden – wie ein Fahrer von seinem fliegenden Wagen herab die Bahn entlang starrt. Die Tür fiel lautlos ins Schloß, und das Licht graute eintönig von den Wänden zurück. Die Krankenpflegerin strich an ihm vorüber, er fühlte ein unklares Behagen, langsam und einigermaßen erstaunt genoß er das Erinnerungsbild ihrer schlanken, energisch geformten Gestalt, die so fest das blaue Leinenkleid spannte. Das Behagen war nicht zu vertreiben, und das machte ihn unruhig und unsicher. Sie hatte ihn mit klaren und kalten Augen angesehen, deren Blick etwas von der Blankheit der Silberinstrumente hatte.

Er wußte, wer sie sei, – wenn er denn der Mutter Glauben schenken konnte, der er in diesem Punkte – was die Verhältnisse des Vaters betraf – nachsichtig, aber gründlich zu mißtrauen sich gewöhnt hatte. In den sechs Jahren seit der Scheidung hatte sie sich allmählich im Auftischen ihrer Geschichtchen eine Übertriebenheit angeeignet, die den Erfolg ihrer früheren Versuche, den Vater in den Augen seines Sohnes hassenswert erscheinen zu lassen, wieder vernichtete. Ein zufälliger Anlaß genügte, um diese Reaktion zu einer absoluten zu machen und in dem heranreifenden Jungen eine stetig wachsende, scheue, wißbegierige und grenzenlose Bewunderung für den Vater zu erzeugen, die sich nach und nach, wie die ersten Erinnerungsbilder aus den Kinderjahren schwanden, um freigewählten Phantomen Platz zu machen, geradezu zur geheimen Anbetung steigerte.

Er hatte begriffen, daß diese blonde, imposante Dame in Krankenpflegerinnentracht hier ihre Bedeutung habe; ihre Haltung bewies, daß sie sich selbst Gewicht beilegte. Er stellte sich unter plötzlichem Wärmegefühl gewisse Möglichkeiten vor. Es entging ihm nicht, daß die Vorsteherin sie mit halb ehrerbietigen, halb scheelen Blicken ansah. Er lächelte. Sein Vater hatte ja nun das Recht der freien Wahl.

Nun wechselte die Vorsteherin einige Worte mit ihr, wobei ihre Blicke den Wartenden streiften. Eine Schlaffheit glitt über Fräulein Hartz' Gesicht, als sie die Vermutung der anderen vernahm. Das unveränderlich sanfte Lächeln blieb halb um ihren Mund hängen, während sie, wie um eine Unordnung der Frisur zu markieren, untersuchend an ihr Haar griff. Dann wandte sie sich ab und ein unwilliger Blick aus den Augen der Vorsteherin folgte der »Favoritin«, deren Rücken in seinen korsettfreien Bewegungen allzu auffallend alle Linien zeigte.

Da scholl ein gedämpftes Jammern aus einer der verschlossenen Türen. Die Vorsteherin wandte sich um. Und dies leise Jammern und Schluchzen schien ruhelos in den Korridor zu irren, bald da, bald dorthin sich wendend, leise schleppend wie ein Unsichtbarer, der klagend seinen rastlosen Geisterweg verfolgt; und es begegnete einem anderen Jammerlaut, der aus einem neuen Korridor kam, und sie gingen zusammen weiter, vereint, brüderlich umschlungen. Der süßlichsaure Qualm wurde mit einem Male durchdringend, rasche Schritte trappelten über die unendlichen Laufteppiche, eine Ventilscheibe über einer Tür fiel klirrend herab. Und plötzlich öffneten sich die Flügeltüren des Operationssaales einem weißgekleideten Assistenten, der eine auf Rädern laufende niedere Krankenbahre durch den Korridor hinausführte. Eine Pflegerin ging, energisch einen Fächer bewegend, zu deren Häupten. Hinten aber im Saale strömten graue und bläuliche Dämpfe aus hohen Glasgefäßen, geschäftige Gestalten liefen umher, und die sechsunddreißig elektrischen Lampen erloschen, je vier auf einmal.

Der Wartende wandte widerstrebend sein Gesicht der Bahre zu, aber verzaubert blieb sein Blick an dem bleichen, schlummernden Antlitz in den Kissen hängen. Er wußte augenblicklich, wer dieser Mann sei. Er erkannte aus einer Menge Porträts in Zeitschriften und Tagesblättern dies mächtige Gesicht, das eines der Vornehmsten und Größten, dies listige und kräftige Herrscherantlitz mit Hoheit im eiskalten Blick, das nun gebrochen, aufgelöst dalag, bis zum Kinn in Leinwandbinden gehüllt, bewußtlos, willenlos tief versenkt in die niederste Form des Lebens. Der Mächtigste des Landes unmächtig! – Der viereckige Bart lag dünn und zottig über der langgezogenen Knochenwange, das Haupt war haarlos, die Stirnhaut runzlig, über den Augen gefaltet, rauh wie Waschleder. Tief, tief war er gewesen, da drunten, wo das Niederste kreucht im Halbdunkel des Todes. Und war er nun auf dem Wege zum Tageslicht? War er gerettet? Würde die giftige krebsgelbe Farbe der Wangen einem gereinigten Blutstrom weichen, nun da das Messer sein Werk getan?

In diesem Augenblick trat der Professor in die Tür, blieb auf der Schwelle stehen, blickte, einen Befehl erteilend, über die Schulter zurück und nickte dann Olga Hartz zu: Alles gut! Er sah lächelnd der Bahre nach, die rasch und vorsichtig durch den Korridor gerollt wurde. Seine gespannten Züge glätteten sich in sorgloser Ruhe. Dennoch perlte noch der Schweiß unter der Stirnbinde nach der mehrstündigen Anstrengung in dem stark geheizten Raume. Er hob die ganz nackten Arme, die keinen Blutspritzer zeigten, in Schulterhöhe empor und lächelte mit halbgeschlossenen Augen. Und sogleich strömten die Pflegerinnen zusammen, lächelnd und geschäftig. Sie gossen Wasser in ein ungeheures Waschbecken, und während er sich vorläufig, ehe er die Runde der Krankenbesuche begann, Hände, Gesicht und Arme wusch, sprach er mit den Nächststehenden, nannte jede bei ihrem Schmeichel- oder Spitznamen, und sie lächelten zurück, errötend und demütig. Olga Hartz neigte sich über seine Schulter, während er dastand, die Hände tief in der Waschschüssel, steckte ihm eine Zigarette zwischen die Lippen und gab ihm Feuer.

Dann sich aufrichtend, gewahrte er den Sohn. »Halloh, Rikard!« sagte er, nickte ihm zu, er möge warten, schritt den Korridor hinab, und begann, umgeben von seinem Stab: drei Ärzten und sechs Pflegerinnen, seine Krankenrunde.

Und der Sohn sah ihn hinschreiten wie einen König in diesem Gebäude, das ihm ganz und ungeteilt gehörte, als Herrscher all dieser gleichgekleideten auserwählten Frauen, die ihm demütig und fast anbetend folgten, und eine stolze Freude erfüllte ihn, seinen Vater von ihnen allen gegrüßt und gefeiert zu sehen. Er unterschied die schwachen, schüchternen, fast hündisch ergebenen Stimmen der Patienten, wenn der Professor hochragend, mit erhobenem blonden Haupte, ihr Zimmer betrat; er erkannte seine Herrschaft über Siechtum und Krankheit, und er teilte den schrankenlosen Glauben der Kranken, daß er über das Leiden gebiete und daß Leben und Tod von seinen Gnaden kämen.

Eben jetzt war ja einer von ihnen, dem alle anderen untergeben waren, auf einem Tische gelegen, von der Narkose gefesselt, dem Genie des Arztes in grenzenlosem Vertrauen hingegeben. In seinen Eingeweiden saß ein lastendes Geschwür, das jahrelang sein Gemüt verfinstert hatte; sicherlich hatte es Tausende von Leben bedrückt und vergiftet, die von der Laune des Mächtigen bestimmt wurden. Und jetzt hatte dieser sich dem Gebote des Messers gebeugt, demütig, auf Gnade und Ungnade.

Immer gewaltiger wuchs das väterliche Bild in dieser Stunde vor den Augen des Sohnes. Seine Schönheit, seine seltsam verschleierte, fast göttliche Güte! Und ganz unten im Schatten, jetzt erst zum Bewußtsein erwachend, wuchs zugleich ein bitterer, lange unterdrückter Groll gegen die Mutter, die ihn zu einer Zeit, da er noch nicht wählen konnte, an sich gerissen hatte. Er saß da und brütete über Plänen zu einer Veränderung. Ganz klar empfand er etwas von dem Wesen des Vaters in sich, die Fülle seines Willens und Stolzes als unentwickelte Anlagen seiner Seele, eine Verwandtschaft, eine Ähnlichkeit, die sich ganz organisch merkbar, fast wie ein Schmerz, in seinem Körper ausbreitete. Er fühlte es namentlich in den Händen, diese zäh haftende Empfindung, ein Ziel treffen zu können; einer Linie mit untrüglicher Sicherheit zu folgen, mit einem Messer, das durch Fleisch gleitet oder – wie er es eben letzter Tage nach sechsstündiger Feilarbeit in der Schmiede des Abends in der Zeichenschule der Werft zu üben sich mühte – mit einer Reißfeder, die handgerecht hinfährt, just bis hierher und nicht weiter. Ob diese Fähigkeit nicht doch irgendwo im Gehirn lag? Diese leicht und fröhlich sich regenden Hände, die frei dahinglitten und zugleich berechneten, sie gehorchten doch bloß einem tiefen und wunderbaren Trieb, einem seltsamen Seelendrang: einem ähnlichen wie dem des Künstlers. Man modellierte! Er betrachtete seine langen, starken und schmalen Hände, welche die Schmiedearbeit, der er vorläufig noch obliegen mußte, noch nicht gehärtet hatte. Und er stellte sich neben seinen Vater in einem anderen Berufe: ein brückenbauender Ingenieur neben dem ersten Operateur des Landes. Er formte sich seine Stellung auf einem hervorragenden gesellschaftlichen Posten, umgeben von Freunden und jungen Frauen und von einem weiten Kreis bewundernder und dankbarer Klienten, gefolgt von dem treuen Stab seiner Untergebenen; als Gast und Wirt in den ersten Gesellschaftskreisen, berühmt, licht und kühn. Seine Willensstärke entrollte sich in ihrer ganzen Breite. Er fühlte mit einem tiefen Atemzuge, daß er gesund, daß sein Körper einer solchen Laufbahn gewachsen sei. Und erwartungsvoll neigte er sich dem Vater entgegen, als er ihn nun kommen sah, schlank und aufrecht, den weißen Kittel von der eleganten Gestalt zurückgeschlagen, Ruhe und Güte und lächelndes Wohlgefallen in dem erhobenen Antlitz. Er stand auf und blieb scheu und bewegt stehen.

Der Professor nickte ihm freundlich zu, gab rasch einige Aufträge und trat dann zu ihm. Seit dem Bruche mit der Mutter sah er seinen Jungen nur hie und da, zumeist, wenn die Mutter ihn mit einem Briefe schickte, der in den gewohnten, hysterisch getragenen Tönen um Geld bat. Er stellte dann unter Achselzucken die erforderlichen Anweisungen aus und unterhielt ein flüchtiges Gespräch mit dem Sohne über Schule, Kameraden und anderes, das seiner Vermutung nach einen Knaben dieses Alters berühren und interessieren mochte.

Diesmal hatte Rikard jedoch keinen Brief mit, und nachdem der Professor sich hierüber billig gewundert – der Junge diente sonst seiner Mutter stets als Mittel, den einstigen Gatten zu rühren oder zu ärgern –, erinnerte er sich, daß der Junge ja kürzlich sein künftiges Spezialstudium begonnen und sich wohl aus diesem Anlaß vorstellen wolle. Er war also auf dem Wege, erwachsen zu werden, und befand sich am Beginn seiner zukünftigen Laufbahn. Dies beunruhigte ihn. Ein allgemeines Unlustempfinden, wie schnell die Jahre verstrichen und daß bereits neue Generationen unterwegs seien, machte ihn zerstreut und nachdenklich. Er ging so energisch in seinem Tagewerk und in dem starkbewegten gesellschaftlichen Leben auf, daß dieser Umstand im Alltag seine Aufmerksamkeit nicht erreichte. Nun drängte er sich ihm auf in Gestalt dieses fast erwachsenen Sohnes. Aber es war dies eine Sache, die sich nicht verhindern ließ und er resignierte mit ruhigem Bedacht, bereitwillig die Gesetze, die jeden anderen berührten, auch für sich selbst anerkennend. Zugleich aber suchte er sich für das Unbehagliche der Empfindung schadlos zu halten, indem er sich diese Tatsache in anderer Weise zunutze machte. Und mit einer eigenen Freude, die er nie zuvor so stark empfunden hatte, musterte er diesen gutentwickelten und vollkommen gesunden jungen Menschen, der sein Sohn war. Dieser Knabe glich ihm unzweifelhaft und in seinen Augen stand deutlich die Bewunderung für den Vater geschrieben. Ja, dies war tatsächlich eine Fortsetzung, etwas von Ewigkeit.

Er fühlte sich ganz warm und gestattete dieser Wärme, sich unter der Sicherheit seiner Selbstbeherrschung so recht auszubreiten. Er genoß die gemachte Entdeckung. Hier war ja wirklich ein neuer Wert, etwas Erobertes, ein neu miteinbezogenes Gefühlsterrain. So war also die Entwicklung doch nicht mit dem vierzigsten Jahre stehengeblieben; er fühlte sich plötzlich, wie so häufig als Zwanzigjähriger, am Abschluß eines Stadiums, jenseits einer Krise, um eine für die Zukunft brauchbare Erfahrung bereichert – wenn anders er nicht, wie er lächelnd ahnte, schon am Rückweg befindlich, die Gnade einer längeren Abstiegspause empfing. Nun, immerhin! Er fürchtete die Konsequenzen nicht. Nie hatte er das Grauen vor den Folgen gekannt. Der Junge glich ihm. Hier stand eine junge und lebensfähige Kraft, die ihm nachgeriet; und er lachte heimlich belustigt, während er, die Hände auf dem Rücken, mit seinem kühl gütigen Ärzteblick den Sohn betrachtete.

Nun, wie stand es also um Studium, Arbeit und Pläne? Wie ging die Arbeit vonstatten draußen in den Werftschmieden, wo die unzähligen kleinen Metallteile gefeilt und von den Gußnähten befreit werden mußten? Und in den Zeichenkontors, wo man eben unter Anweisung eines Lehrers die ersten Pausen ausführte? Und dann in einem Jahre also: hinaus in die Welt! Nach Mittweidas und Zürichs Hochschulen. Und dann? Nach Amerika! Ja freilich, selbstverständlich nach Amerika! Ein Ingenieur ist überall in der Welt daheim – wie ein Chirurg.

»Und deine Mutter?« Er fragte der Ordnung wegen und der Knabe gab wie gewöhnlich ausweichende Antwort: Es gehe ihr gut bis auf die Anfälle ihrer Leiden – und er nannte ihre sieben Krankheiten und ebenso vielen »Zustände«. Der Professor lächelte. Ob der Junge nicht später einmal gern zu ihm käme und bei ihm wohnte? In ein paar Jahren war er majorenn und konnte selbst wählen. Leicht denkbar, daß er den Vater wählte! – Er stand da, die Augen halb gesenkt, nach glücklich vollbrachtem Werk des Augenblicks genießend im Bewußtsein seines guten Rechts auf das ganze Behagen einer freien Stunde. Sein Blick fiel auf die Hände seines Sohnes, die, ohne daß er sogleich wußte warum, seine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Die eine, fiel ihm jetzt auf, hing schwer herab, das Handgelenk war verbunden. Hie und da zog sich der Arm wie unter einem Stich zusammen.

»Was hast du an deiner linken Hand?«

Rikard hob die Hand und schüttelte den Kopf. Obwohl er sein Lächeln festhielt, steigerte sich der Schmerz offenbar bei der Erinnerung. »Ich habe mich an einer Feile gerissen,« sagte er. »Vorgestern auf der Werft. Es ist nichts.«

Der Professor faßte vorsichtig den Ellbogen und zog die Hand zu sich empor. Dann rief er seinen Assistenten Dr. Wahl, der sich mit einigen Kandidaten näherte. »Da sehen Sie, Wahl,« höhnte er, »wie schön man einen Verband anlegen kann. Wer hat diese Fetzen gebunden? Deine Mutter? Nun, ich kann mir's denken.« Der Verband bestand aus einer alten Spitze, die mehrmals um die Hand gewunden war. Ein schwarzes Tuch war darübergezogen und mit einer Sicherheitsnadel zusammengesteckt. Das Ganze klebte aneinander, und der Professor durchschnitt es ohne weiteres mit seiner Schere.

Die Wunde hatte geblutet, war aber nun geschlossen. Es war ein offenbar tiefliegendes Geschwür. Die zusammengewachsenen Wundränder waren fast krustenfrei, aber von blauschwarzer Farbe. Und hinauf über das Handgelenk fast bis zum Ellbogen verzweigten sich ganz schwach bläuliche Netze in die Bahnen der Lymphgefäße. Der Professor pfiff leise vor sich hin. Gab einige Befehle. Fräulein Hartz brachte eine Wasserschüssel und einen langen Regalentisch mit Instrumenten. – »Ich schneide ein wenig, mein Junge,« sagte der Professor. »Du fürchtest dich doch nicht vor ein bißchen Schmerz?« Der Knabe lächelte, schüttelte den Kopf und streckte die Hand hin.

Dr. Wahl beugte sich vor. »Beginnende Pyämie,« sagte er. »Die ganze Wunde muß ausgekratzt und wohl noch drainiert werden. Ich möchte wetten, daß dieses schwarze Seidentuch mit seinem giftigen Farbstoff das Unheil angerichtet hat.«

Der Professor stand mit gerunzelter Stirn und suchte Instrumente, während er voll unterdrückter Wut an die Mutter dieses Knaben dachte mit ihren sieben Krankheiten und sieben Sinnesarten, an dies in seinem tiefsten Wesen hysterische Geschöpf, das geschminkt und aufgedonnert in Atlastoiletten und blumenüberladenen Pariser Hüten den ganzen Tag von Visite zu Visite jagte, allen Stadttratsch und Klatsch mit sich führend und hinausspritzend aus ihrem unheimlich beweglichen Mund mit den kautschukartigen roten Lippen, die sich gleichsam eingeweideartig regten in der Unaufhaltsamkeit des nichtssagendsten Geschwätzes. So hatte sie ihr eigenes Heim in alle Winde gestreut, ihre Schlafzimmertüren weit geöffnet vor den Augen ihrer schamlosen Freundinnen, sich selbst ausgeliefert und ihren Mann. Und nun erst, da sie verfolgt, eine Märtyrerin, eine Verlassene war, wie hatte sie nicht ihres Mannes Namen besudelt, mit Überlegung und aus ihrem tiefen, sicheren Instinkt heraus, Schmutz zu finden – wenn sie nicht eben demütig um Geldzuschüsse bettelte, die sie in wahnwitzer Verschwendung in ihrer mondänen Hetzjagd nach Geselligkeit, Vergnügungen und Badereisen vergeudete, oder, von ihren Nervenkrisen niedergeworfen, tagelang in Ohnmacht oder Krämpfen zu Bette lag, von Kampfer und Ätherdämpfen und Kristallflakons mit unsinnig teuren Parfüms umgeben. Jawohl! So sah er sie vor sich, aus der Zeit, da sie noch schön war – unter dem elektrischen Licht, das gelbe Haar in Spitzen gehüllt, in der Betäubung der Hysterie, aus der sie dann und wann mit schneidendem Aufschrei emporfuhr!

Bei ihr also hatte Rikard gelebt und war doch durch ein Wunder gesund und natürlich geblieben. Er sah sie in Gedanken diese Wunde mit dem Erstbesten, was ihr in die Hände fiel, verbinden, wahrscheinlich unter Weinkrämpfen und Nervenanfällen über den Anblick des Blutes. Es war jedenfalls Zeit gewesen, daß andere hier eingriffen.

Rikard gab keinen Laut von sich, während der Professor die Wunde aufschnitt und mit einem Löffel die umgebenden Gewebe auskratzte, soweit er den Eiteransammlungen folgen konnte.

»Du hast dich tapfer gehalten,« sagte er, nachdem der neue Verband angelegt war. »Wir müssen nun mit der Hand vorsichtig sein. Wir riskieren sonst leicht eine reguläre Blutvergiftung. Halte also den Arm ruhig und komm morgen wieder.«

Rikard kam indessen am nächsten Tage nicht, und der Vater, der sich seiner gestrigen ausdrücklichen Weisung, er möge wiederkommen, um den Verband erneuern zu lassen, sehr wohl erinnerte, telephonierte in seine Wohnung. Er wurde zu seinem Ärger mit der Mutter verbunden, nannte daher seinen Namen nicht, fragte nur nach Rikard und erhielt den Bescheid, dieser sei wie gewöhnlich an seine Arbeit auf der Werft gegangen. Er läutete ab.

Den folgenden Tag aber kam Rikard. Er trug den Arm in der Schlinge.

Der Professor geriet außer sich. Er sah den Jungen im Wartesaal sitzen, als er aus dem Operationssaal trat. Mit Unruhe und Angst und zugleich mit einer eigenen unklaren Sehnsucht hatte er seinen Sohn erwartet. Gewiß hatte die Mutter ihn gehindert zu kommen. Olga Hartz, die seine Miene kannte, wenn er schlechter Laune war, näherte sich ihm auf ihre selbstbewußt einschmeichelnde Art. Er aber brummte unwillig, als sie ihm seine Zigarette reichte. Sie zog sich beleidigt und unruhig zurück, die unvergleichlich schöngeformten milchweißen Arme über dem hohen Busen gekreuzt, und betrachtete mit einem stillhaftenden Blick der starken Augen diesen Knaben, der augenscheinlich hier eine Rolle zu spielen begann.

Rikard war bleich. Auf Befragen klagte er über Schmerzen über Schulter und Rücken, und es zeigte sich sogleich, daß er Fieber hatte.

Der Professor war erschreckt und zugleich erbittert. Er gab Order: ein Zimmer sollte unverzüglich instand gesetzt werden. Keine Rede davon, den Jungen heimgehen zu lassen. Olga Hartz, die etwas von Um-die-Mutter-schicken murmelte, erhielt einen gereizten Blick: Hier sei keine Zeit für Dummheiten! Rikard hatte seinen Jackenärmel über den Verband gezogen; der Professor durchschnitt sogleich den Ärmel und löste den Verband. Die Geschwulst hatte sich schon über die Ränder des Jodoformgases gebreitet, und der ganze Unterarm war dunkelgefärbt, geschwollen und ungemein empfindlich. Es hatte sich überdies ein neuer Abszeß ganz nahe an der Infektionsstelle gebildet.

»Du mußt über Nacht hier bleiben,« sagte der Professor, »und dich morgen früh einer Operation unterziehen, wenn wir daran denken wollen, deinen Arm zu retten. Es ist ein Zimmer für dich bereitet worden. – Fräulein Hartz, wollen Sie dem Patienten nach den gewohnten Regeln seinen Platz anweisen.«

Fräulein Hartz war nun außerordentlich diensteifrig. Sie lächelte den jungen Herrn auf ihre eigentümliche, stark sinnliche Art an. Dann blickte sie verstohlen vom ihm zum Professor. Sie glichen einander, aber die Augen des Jüngeren hatten eine andere Umgebung – weiche, lange und samtdunkle Wimpern, wahrscheinlich ein Erbteil der Mutter. Sie strich mit den weichen Fingern an seinem Nacken herab. Es ging noch an, ihn als Kind zu behandeln.

Der Professor war an jenem Abend in eines der geselligen Häuser geladen, die ihn stets besonders feierten. Die Damen pflegten sich auf Kissen ihm zu Füßen zu postieren – viele dieser jungen Frauen hatten sich bereits in seiner Klinik dem Gesetz des Messers unterzogen. Sie gruppierten sich um ihn, ein intimes Lächeln bereithaltend, sobald sein Blick auf sie fiel. Sie plauderten oder erörterten mit halblauter Stimme tiefernste oder sehr gewagte Themen und appellierten an sein Urteil: »Nicht wahr, lieber Professor?« Er lachte indolent und antwortete, wenn er es für gut befand. Er sah die ganz jungen Mädchen, die Töchter oder jüngeren Schwestern dieser Frauen, von weitem stehen und vorsichtig über die Schulter nach ihm hinüberblicken, mit einem furchtsamen oder neugierigen Zucken der feinen Brauen. Oder er schlenderte in das Rauchzimmer – er fühlte auf seinem Rücken die vielen schweren Frauenblicke –, strich durch die atmosphärische Grenze, wo die hellen, femininen Parfüms dem dunklen Tabaksrauch begegnen, und geriet in Gruppen von Männern, die dicht geschart standen, ihren Kaffee, Kognak und Likör in Reichweite und die Gedanken eng gedrängt um ein wichtiges Thema – lauter allgemein bekannte Gesichter, häufig ausgestellte und porträtierte Physiognomien. Sie standen über irgendeine Sache gebeugt und wendeten und drehten diese Sache nach allen Seiten. Börse oder Politik, je nach ihrer Spezialität. Es waren Kongresse. Die Tafel und der Tabak hatten die Zungen gelöst und die Gedanken verschleiert und sympathetische Wechselwirkungen in Gang gebracht. Man hielt einander irritiert beim Knopfloch fest, von dem das Ordensband herabbaumelte, oder klopfte einander leicht auf die Schulter, mit einem geheimen Unterstrom von Wohlwollen, das lebhafter zu zeigen der gute Ton nicht gestattete.

Nur der Professor fühlte sich nicht behaglich. Er stand stumm mitten in einem hitzigen Tuberkulose-Kongreß von vier fanatischen Spezialisten: »Ist Tuberkulose durch Milch übertragbar? Haben Sie die Kochschen Versuche vergessen? Magensäure und Sterblichkeitsprozente bei kleinen Kindern! Primäre Lungentuberkulose.« Und hierauf die bekannten Zahlen: die Statistik der Dissektionsfunde bei Tausenden von Tuberkulosefällen. Er schlenderte mißvergnügt weiter. Wußte nicht recht, was ihn quälte. Er war indisponiert und vermutete organische Ursachen.

Seines Sohnes Herz! – Dieser Gedanke kam ihm so seltsam unvermittelt in den Sinn, wie eine Ahnung kommt. Es war ihm, als hätte er etwas in den Händen, das wieder heraus wollte, um zu verschwinden. Sein Sohn hatte ihm sein Herz gebracht. Er brauchte es bloß in Empfang zu nehmen, sofern seine rastlose Tätigkeit ihm diesen Verzug gestattete. – Herz? Woher kam ihm diese Vorstellung? Es waren wohl tiefere, primitive Gefühle, die sich da unten in dem Bewußtseinsdunkel regten, die erwachten und diese altväterischen Bezeichnungen zurückriefen, überlebte Erstausdrücke, an die sich jene Regungen aus der Tiefe – die ewigen und unveränderlichen – so konservativ klammern. Diese tiefen mystischen Geschlechtsbande – unsichtbare Schleimfäden von Herz zu Herz. Ätherschwingungen von Zelle zu Zelle! Hier saß es, deutlich fühlbar, absolut. Es schmerzte in diesem Augenblicke, und die Ursache war: des Sohnes Herz. Das war alles.

Er ging sogleich zu der Dame des Hauses und bat sie, ihn zu entschuldigen. Ein Patient heische dringend seine Anwesenheit.

In der Klinik angelangt, begegnete er, ungestüm und nervös durch den Korridor eilend, Olga Hartz. Sie setzte das Teebrett ab, das sie trug, sah sich vorsichtig um und hing sich zutraulich an seinen Arm. »Wie schön, daß du wieder da bist!« sagte sie, erfreut, daß er – offenbar ihretwegen – gekommen sei.

Er machte sich irritiert von ihr frei und ging an ihr vorüber in Rikards Zimmer. Hier gab es indessen nichts Beunruhigendes. Die Temperaturkurve auf der Tafel über dem Bette hatte zwar ein wenig Tendenz zum Steigen, aber nach Aussage des untersuchenden Arztes war die Blutvergiftung begrenzt. Der Professor betrachtete eine Weile seinen ruhig schlafenden Sohn, während er die bevorstehende Operation überdachte, und gab Order bezüglich der Instrumente, der Heizung und dergleichen. Sein Blick glitt besänftigt über Olga Hartz, die demütig, in der gewohnten paraten Wartestellung der Krankenpflegerinnen beim Fußende des Bettes stand. »Selbstverständlich wünsche ich Ihre Assistenz, Fräulein Hartz. Hier will ich nur Leute haben, auf die ich mich verlassen kann. Ich begreife nicht, daß Ärzte so oft die Kranken ihrer nächsten Familie anderen Händen überlassen. Sie trauen wohl ihren eigenen Kräften nicht, sobald es sich um einen Wert für sie selbst handelt. Also auf Wiedersehen um halb 9 Uhr, Fräulein Hartz.« Sie zuckte die Achseln. Der Junge schlief ja, wozu also dieser ungewohnte formelle Ton? Dann ging sie an ihre Arbeit, mit ihrer gewohnten Umsicht, vollkommen nervenlos; sie war eine Krankenpflegerin ersten Ranges, weil die Leiden der Patienten sie ganz unberührt, kalt und teilnahmslos ließen.

Den nächsten Morgen war eine plötzlich dringend gewordene, sehr schwere Operation vorzunehmen, der Patient wurde eine Stunde nach der Ankündigung hereingebracht, es handelte sich um ein Leben. Der Professor fand eben nur knappe Zeit, einen Augenblick zu seinem Sohne zu sehen. Er fand ihn wach, etwas matt und leidend, aber guten Mutes, und nickte aufmunternd. »Schlafe nur noch. In ein paar Stunden kommt die Reihe an dich. Wir wollen den Arm schon wieder zurechtkriegen. Du fürchtest dich doch nicht?«

Rikard schüttelte energisch den Kopf. Fürchten? Er blickte zum Vater auf, der sich über sein Bett neigte, und seine Augen leuchteten. Er vertraute gläubig begeistert auf des Vaters unfehlbare Kunst. Nein, er war nicht nervös, gewiß nicht, das Ganze war ja bedeutungslos, da es vorübergehender Natur und ein günstiges Resultat sicher war. Er nickte. Er wollte versuchen, wieder zu schlafen.

Auch der Professor hatte seine Ruhe wiedergewonnen, er gab dem Knaben die Hand, er blickte nochmals mit Wohlgefallen auf das bleiche, schon erwachsen verständige Gesicht in den Kissen. Nein, der Junge glich wirklich der Mutter nur sehr wenig – höchstens diese dunkeln indianischen Augen, aber auch sie hatten einen raschen, energischen Blick, der Begabung verriet. Nun gut, vor allem mußte der Arm in Ordnung kommen. Dann konnte man weiter sehen.

Die äußerst schwierige Operation: Entfernung eines festsitzenden Gallensteins, wobei der Patient nach der ganz neuen, zunächst versuchsweise angewandten Methode mittels unter den Schultern laufender Riemen aufgehängt und in lotrechte Stellung gebracht wurde, um die Unterleibsorgane zu strecken, verlief mit günstigem Erfolg. Der Professor setzte die Angehörigen, die den ganzen Vormittag unter Angst und Beben auf das kleine Glockensignal gewartet hatten, persönlich telephonisch von dem günstigen Ergebnis in Kenntnis.

Als er in den Operationssaal zurückkam, war bereits alles für die nächste Operation vorbereitet, und Rikard lag auf der niederen Bahre neben der Tür. Der Assistent Dr. Wahl stand mit einem Stethoskop über ihn gebeugt. » All right,« sagt er. »Der Patient ist ein wenig schwach, sonst aber bei guter Disposition. Wir können gleich anfangen.«

Rikard fühlte sich emporgehoben und empfand mit Behagen den weichen Griff um Schulter und Füße. Er sah den porzellanweißen, fast zylindrischen Raum um sich, die gesenkten Schirmlampen gerade über seiner Brust, die silberblinkenden Instrumente, die vielen lichtperlenden Gläser – und ganz nahe bei sich den Vater, bis ans Kinn weißgekleidet, mit einer Leinwandhaube über dem Haar, in Kautschukstiefeln und mit einem dünnen Handschuh aus hellroter Gelatine an der linken Hand. Dann sah er das milchbleiche Lächeln der Krankenwärterin über seinem Gesicht, sah ein letztes Mal die Augen des Vaters; sie gaben ein Zeichen, rasch: jetzt! Und eine schwarze Kappe senkte sich. Der Tag erlosch. Würgend und schwer kam eine namenlose Nacht, ein süßer Geschmack klebte an Gaumen und Zunge, aber der Arm schmerzte nicht mehr. Die Welt ging unter wie bei starkem Seegang, und alles sank in schwindelndem Fall in die Finsternis, gradweise, stürzte dann tief – tiefer – –

Olga Hartz versah die Chloroformmaske, während die jüngere Krankenpflegerin, Fräulein Molin, den Puls hielt. Dr. Wahl ging dem Professor auf seine etwas schläfrige und verdrossene Art an die Hand. Aber er kannte dessen Gewohnheiten aufs Haar und verstand es, sich ihm anzupassen. Er besaß einen Namen als Prosektor und Präparator, nur seine Diagnosen waren schwach. Der Professor bevorzugte ihn eben wegen dieser Unselbständigkeit: Unteroffizierstypus.

Die Wunde wurde nun offengelegt. Der stramme Verband hatte die Ausbreitung der Anschwellung verhindert. Aber es zeigte sich, daß die beiden Geschwüre durch einen Fistelgang verbunden waren. Und als eine jener unerklärlichen Erscheinungen, die bei Infektionen vorkommen – wie bei einem Brande plötzlich, weit entfernt von der Brandstätte, im entgegengesetzten Flügel des Gebäudes Feuer ausbrechen kann –, zeigte sich auf dem rechten gesunden Arm gleich über dem Handgelenk eine neubeginnende Ansammlung.

Der Professor arbeitete rasch und mit unerschütterlicher Sicherheit, es bedurfte keiner Überlegung, es war, als folge er einem ganz künstlerischen Geschmack, der sich unmittelbar in Handlung umsetzte. Dr. Wahl reichte ihm Pinzetten, Servietten und Gummiballons mit Karbol. Die Operation verlief günstig und nach moderner Methode ganz unblutig. Es waren ungefähr zwanzig Minuten vergangen, als der Professor über die Schulter hinweg die erste trockene Bemerkung hinwarf, daß der Arm als gerettet zu betrachten sei.

Er sah plötzlich Olga Hartz an, die dasaß, einen langen, träumenden Blick auf seine Hände gerichtet, die so virtuos frei und leicht die kleinen feinen Instrumente führten. »Nun Olga,« sagte er. »Es geht, es geht!«

Allein in diesem Augenblicke geschah das, was sich später nicht erklären ließ. War nun Dr. Wahls vorhergehende Untersuchung oberflächlich und ungenügend gewesen oder hatte Olga Hartz, so geübt sie war, die richtige Handhabung der Chloroformmaske außer acht gelassen: der Puls sank plötzlich und schwand.

»Der Puls bleibt aus!« flüsterte Fräulein Molin sanft mit ihrem ewigen Lächeln. Und Dr. Wahl, der sich vorbeugte, bestätigte: »Jawohl, der Patient kollabiert. Der Junge stirbt, Professor!«

Rikard war zusammengesunken. Klein und mager lag sein entblößter Körper auf dem schmalen Eisentisch. Das Antlitz war ganz erloschen. Der Mund wies ein totes und ewiges Lächeln. Er atmete nicht mehr.

Dr. Wahl zuckte die Achseln. » Mors!« sagte er, aber bei einem Blick auf den Professor erinnerte er sich plötzlich, wer der Patient sei. Er taumelte zurück, erschreckt und demütig, und rief den Pflegerinnen zu, sie sollten Äther bringen, die Elektrisiermaschine bereitmachen und eine Bürste holen. »Eine gewöhnliche Kleiderbürste. Rasch, rasch!«

Sie arbeiteten fast eine Stunde an ihm – ohne Resultat. Der Professor stand bleich, mit zusammengebissenen Zähnen dabei und sah zu, mit schwacher aber fester Stimme Befehle erteilend. »Er muß leben, er muß leben!« wiederholte er ein ums andere Mal, bis plötzlich Dr. Wahl kopfschüttelnd zurücktrat und zum Fenster ging.

Da unternahm er das letzte, verzweifelte, das seltsame und fürchterliche Experiment. Allein, über den toten Sohn gebeugt, öffnete er mit festen und sicheren Schnitten dessen Brust, und beide Hände hinabtauchend in die blutdampfende Brusthöhle, umfaßte er das stille Herz, das letzte, das stirbt, und preßte es ein ums andere Mal, um es zum Schlagen zu bringen. Langsam hörte er den toten Puls erwachen und kommen, jede zehnte Sekunde einen Schlag tun. Die anderen sahen ihn mit tiefem Entsetzen an; seine Augen leuchteten von Energie und Genialität, aber sein Antlitz war umflort von hoffnungslosem Gram und tiefer Enttäuschung. Noch durch Stunden hielt er seines Sohnes Herz warm und lebend zwischen seinen Händen. Der Atem kam nicht, aber das Herz lebte bis Abend.


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