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Frau Morland

Konsul Marcker nahm an Bord des amerikanischen Paketbootes »Lincoln« an einer von einer großen Touristengesellschaft arrangierten Kreuzfahrt durch den Indischen Archipel teil. Er war im Dienst der dänischen Telegraphengesellschaft in sehr jungen Jahren nach dem Osten gekommen und hatte als Konsul in Schanghai und als technischer Teilnehmer einer sehr großen englisch-chinesischen Firma an der geradezu explosiven Bewegung, die den Osten in äußerst kurzer Zeit unter Kultur brachte, aktiven Anteil gehabt.

Er war zweiundvierzig Jahre alt. Das intensive Arbeitsleben hatte ihn gezeichnet und sein Haar vorzeitig zum Ergrauen gebracht. Seine Formen waren vorzüglich geschult, sein Wesen zurückhaltend, aber von einer eigenen, Autorität verschaffenden trockenen Energie. Diese Reise bedeutete für ihn die erste Ferienzeit seit zwanzig Jahren, während deren er nicht einen Augenblick an Stillstand gedacht hatte. Dazu war seine Aufmerksamkeit allzu gespannt den hohen Aufgaben zugewendet gewesen, die unausgesetzt mit ihren Forderungen an ihn herantraten. Er war unvermählt geblieben und hatte sich frühzeitig an das ostasiatische Klima gewöhnt; kurz, er war auf der Bahn und hielt den Kurs ohne Schlingern inne.

Aber ebenso folgerichtig und unter ebenso normalen Formen meldete sich endlich in seinem Geist ein Verlangen nach Stillstand, nicht als eine Krise, sondern als ein Resultat. Und er folgerte: ich habe das Werk vollbracht, das billigerweise von einem Mann verlangt werden kann, und noch ein wenig darüber. Meine Tätigkeit war in die Front hinaus verlegt worden und wirkt dort weiter. Diese zwanzig Jahre waren meine Arbeitsjahre. Ich hatte bisher keine Zeit und auch keinen naheliegenden Grund, mich mit mir selbst und mit allgemeinen Dingen zu beschäftigen; ebensowenig, mir Ruhe zu gönnen. Meine nächsten Jahre aber sollen der Ruhe und der Betrachtung gewidmet sein, da das Verlangen danach sich nachgerade, wenn auch ohne Krankheitssymptome, bei mir meldet.

Er nahm also vorläufig ein halbes Jahr Urlaub, schiffte sich in Hongkong an Bord der »Lincoln« ein und nahm in dem Passagierkreis des Dampfers, der aus Touristen und urlaubreisenden Beamten mit ihren Familien bestand, nicht nur infolge seiner großen Erfahrung in allen ostasiatischen Verhältnissen, sondern auch wegen seiner tadellosen Manieren sehr bald eine führende Stellung ein.

Während die »Lincoln« vor dem Hafen von Manila zum erstenmal Anker warf, unternahm ein großer Teil der Touristen einen Ausflug in das Küstengebirge. Konsul Marcker hatte sich nicht angeschlossen, da mehrere Passagiere, mit denen er in Verkehr getreten war, an Bord verblieben. Es hatten sich bald nach der Abfahrt Cliquen gebildet, deren eine sich besonders um eine junge Dame, Fräulein Marshall, sammelte. Sie befand sich in Begleitung ihres Bruders, der einen Posten bei der australischen Kolonialregierung antreten sollte.

Marcker erschien die junge Londonerin recht interessant, von anmutigem Äußern und angenehmem Wesen. Auch an ihrem jungen Bruder fand er nicht übel Gefallen. Die beiden Geschwister hatten Marcker in Schanghai aufgesucht und ihm einen Brief ihres Vaters, eines großen Stahlfabrikanten, überbracht, mit dem Marcker in vierjähriger Verbindung gestanden war. Und dies war für Marcker der Anlaß geworden, sich ihnen auf der weiteren Reise anzuschließen.

Es war der zweite Tag ihrer Landung vor Manila. Marcker saß nach dem Lunch auf einem Taburett neben Fräulein Marshall, die in ihrem Klappstuhl ruhte. Mit einemmal sah er ihre kühlen, grauen Augen mit einem unverkennbaren Ausdruck von Unruhe auf sich gerichtet.

»Konsul Marcker,« fragte sie, »haben Sie meinen Bruder heute gesehen?«

»Gewiß, Fräulein Marshall. Allan befindet sich augenblicklich auf dem Vorderschiff ... Wollen Sie sich selbst überzeugen?«

Fräulein Marshall erhob sich. Schon nach wenigen Schritten sahen sie, durch den weißen Segeltuchkorridor des Promenadedecks spähend, ein sonnenfunkelndes Zelt vor sich aufragen. Eine größere Gruppe von Passagieren stand, mehrere noch mit dem Kricketholz unterm Arm, um die Schiffsreling, wo irgend etwas ihre Aufmerksamkeit zu fesseln schien. Allan Marshall war unter ihnen und dicht an seiner Schulter eine weißgekleidete Dame, beide scharf gegen das rein türkisblaue Meer gezeichnet. Der weißflammende Tropentag begann eben den heftig gesättigten Farben des Abends zu weichen.

»Nicht wahr, Konsul Marcker,« begann Fräulein Marshall wieder, »diese Dame, mit der mein Bruder in so – so vertraulicher Nähe steht, heißt doch Frau Norton? Sie können mir gewiß etwas über sie sagen,« fuhr sie fort, als er bejahend nickte. »Sie wissen ja über alles hier so genau Bescheid zu geben.«

»Frau Norton ist mir erst seit einigen Tagen aufgefallen,« erwiderte der Konsul. »Seltsam genug! Denn ich habe sie doch täglich gesehen. Sie hat offenbar keinen starken Eindruck auf mich gemacht.«

»Wahrhaftig nicht?« Das Lächeln, das sie ihm schenkte, war um einen Grad wärmer als bisher. »Um so mehr haben andere – ich müßte eigentlich sagen, wir anderen – uns mit dieser Frau Norton beschäftigt. Ich gestehe, daß sie mich vom ersten Augenblick an, als sie sich Sonntags bei der Table d'hote zeigte, gefesselt hat. Es hieß, sie sei seit der Abreise krank gewesen. Sie ist ganz ungewöhnlich schön; finden Sie das nicht auch? Sie zucken die Achseln? Aber es gibt nun einmal entschieden Leute, die die Dame nicht nur schön, sondern auch äußerst interessant finden. Als unsere Herren es vorzogen, heute an Bord zu bleiben, statt mit den ganz alten Damen eine Bergwanderung zu unternehmen, da schmeichelten wir minder Alten uns mit einer eitlen Hoffnung ...! Und da sehen Sie nun unsere sämtlichen Herren um ein Zentrum versammelt, das dies bißchen Hoffnung zuschanden macht.«

»Und Sie selbst wollen oder müssen mit einem alten Herrn vorliebnehmen,« meinte der Konsul.

»Lieber Freund!« erwiderte Fräulein Marshall. »Ich habe nie zu verhehlen gesucht, daß ich fast dreißig bin und also als Weib hinter Ihren Vierzig nicht zurückstehe. Nun denn, ich will Ihnen mein Vertrauen bezeigen; ich bin ja die Ältere und Besonnenere von uns beiden Geschwistern. Und Sie sind mein gleichaltriger, aber viel vernünftigerer guter Freund. Hören Sie also: ich bin ernstlich besorgt um meinen Bruder!«

»Ihr Bruder ist eben hineingefallen!« sagte der Konsul. »Aber die Reise dauert ja nicht ewig!«

»Nichtsdestoweniger bin ich unruhig!« fuhr Fräulein Marshall fort, die Stirn furchend. »Frau Norton bezaubert die ganze Gesellschaft. Sie hat einen merkwürdigen Charme. Sehen Sie doch, wie alle sich um sie drängen, selbst die jungen Mädchen, die sie ja hassen sollten. Jetzt hat sie die Hand um den Hals der kleinen Dolly gelegt, und daneben steht mein Bruder, so dicht an ihre Schulter geneigt, wie es nur irgend zulässig ist. Auch die Kinder lieben sie. Ich selbst finde sie reizend. Sie hat eine Art, mich über den Tisch hinüber anzusehen und dabei so seltsam unabsichtlich zu lächeln – ihr Lächeln ist viel jünger und frischer als das meinige, obwohl sie gewiß einige Jahre älter ist. Jawohl, ich fürchte für meinen Bruder. Er ist hineingefallen, sagen Sie. Bis an den Hals – tiefer – bis über die Nase – bis zu den Augen. Und ich finde dies nachteilig für ihn und möchte ihn gern wieder hinaufziehen. Sehen Sie, die Sache ist die: wir wissen so gar nichts über sie. Absolut nichts, als daß sie Frau Elly Norton heißt und von Hongkong kommt und nach Melbourne will; daß sie schön und elegant ist, und daß ihr Mann tot ist – und schließlich, daß es sicherlich etwas gibt, irgend etwas anderes, das wir nicht wissen, von dem Sie uns aber Kenntnis verschaffen sollen!«

»Schön!« sagte der Konsul. »Wir wollen uns nun vor allem dem Problem nähern.«

Er bot Fräulein Marshall den Arm und sie gingen nach vorn.

Es zeigte sich, daß einer der malaiischen Heizer eine Angelschnur über die Schiffsseite gehängt hatte, die er nun einzuziehen im Begriffe stand. Neben seinem nackten Bein stand der kurze schwere Kris, mit der Spitze in das Deck getrieben, für den Augenblick bereit, da der Fang zum Vorschein kommen sollte. Unter der Gruppe, die voll Interesse seinen Bewegungen folgte, befanden sich der junge Marshall und Frau Norton. Der Konsul erblickte das Profil der Dame hinter den breiten Schultern ihres Begleiters. Und in einer plötzlichen Eingebung begann er diese zarten und vollkommen schönen Züge mit einer unwillkürlich auftauchenden Erinnerung zu vergleichen. Ja – es waren dieselben Augen – diese dunklen und ruhig haftenden Augen –, derselbe kurze üppige Bogen der Lippen ...; aber er wurde an ihren Farben irre, an diesem ganz hellen Haar und der zarten Wangenröte, der verhohlenen Glut unter ihrer Haut. Er hatte sie einmal ohne Farben gesehen – ja – eine Erinnerung stand vor ihm, deutlich, aber farblos und ohne Anhaltspunkt in bezug auf Größe und Haltung der Erscheinung. Sie war schlank, sehr schlank.

In diesem Augenblick sprengte ein Klatsch die schaukelnde Wasserfläche, das Schnellen eines Fisches, der an der heraufgezogenen Schnur erschien, im ersten Moment kohlschwarz, dann in allen Irisfarben schillernd. Ein aufgesperrter blutiger Schlund, rote Ströme, die aus den geöffneten Kiemen quollen, blinde Augen, zitternd wie Quecksilbertropfen.

Konsul Marcker kannte den Namen dieses Tiefseefisches, der sich wohl aus den nachtschwarzen und phosphorleuchtenden Strichen der großen Tiefe in die Zonen der Oberströmung verirrt hatte und nun plötzlich, gekleidet in die blendenden Farben des Purpurs und der Bronze, das Licht der Sonne in seinen blinden Augen empfing: Bathytroctes microlepsis, der Einsiedler der Tiefe, der tastende Schwimmer der Korallenabgründe. Schnappend streckte der wasserperlende Mund sich empor, und der flossenlose Schwanz suchte eine Stütze in der allzu leichten Luft der Oberwelt.

Der Malaie langte mit dem langen braunen Arm hinab; aber in dem Augenblick, da er den Fisch packen wollte, schloß dieser das sägezähnartige Gebiß um seine Hand. Der Mann kreischte auf, sprang zurück, und da hing nun der Fisch pendelnd an der befestigten Schnur, sein Farbenlicht wie Regenbogentropfen in den letzten Lebensreflexen nach allen Seiten verspritzend.

Ohne zu überlegen, griff Marcker nach dem Kris, der neben ihm stand. Mit einem heftigen Streich führte er die breite Schneide gegen die Brüstung der Reling, über die die Schnur gelegt war. Der zitternde Strang teilte sich, und mit einem dumpfen Plumps fiel der Fisch auf die Wasserfläche zurück und verschwand in der Tiefe.

Marcker drehte den Kopf nicht nach Frau Norton. Er hatte in dem Augenblick, da er den Hieb führte, einen kurzen Ausruf von ihr gehört. So, gerade so hatte er sich vorgestellt, daß sie diesen Hieb empfinden würde. Denn eben jetzt, während er den vorhin gewonnenen Eindruck mit jener Erinnerung verglich, hatte er sie wiedererkannt. Er war seiner Sache sicher. Und ganz leise nannte er, ohne sich nach ihr umzuwenden, den Namen, den sie, wie er wußte, in Wirklichkeit trug.

»Frau Morland.«

Und als sie nicht antwortete, sondern bloß einen schweren Atemzug hören ließ, fügte er langsam auf dänisch hinzu:

»Ich möchte mit Ihnen sprechen. Wollen Sie heute um zehn Uhr an dieser Stelle sein?«

Dann ging er mit Fräulein Marshall nach dem Achter zurück.

»Der arme Malaie!« sagte das Fräulein. »Er ist gebissen und obendrein um seinen Fang betrogen worden. Aber sagen Sie mir doch: welchen gordischen Knoten haben Sie da durchhauen?«

Er umging die Frage.

»Hat nicht in Ihnen selbst, Fräulein Marshall, etwas Protest dagegen erhoben, daß dieses Geschöpf aus dunkler Meerestiefe in unsere Welt emporgezogen würde? Wir stammen ja gewissermaßen selbst aus der Tiefe, aber wir haben uns daraus erhoben, uns in das hohe, reine Tageslicht gerettet. Dieser blutbesprengte Zeuge aus unserer ersten, blinden, raubgierigen Urzeit bedeutet für uns ein Greuel. Er brachte Schlamm mit sich aus Abgründen, die uns verborgen bleiben sollen. Verstehen Sie meinen Gedankengang? Wir versuchen in lebenslanger, harter Arbeit, Ordnung in unser Dasein zu bringen. Derartige Gesichte erschrecken uns. Wir leben im Licht, und was nicht dem Licht gehört, verweisen wir in die Finsternis. Etwas derartiges hat mir vermutlich vorgeschwebt. Ich wollte ausdrücken, daß wir mit dem Recht des Lichtes und mit dem Recht unserer Kultur einen Dämon, der seine zähnefletschende Fratze über der Schwelle unserer Welt zeigt, hinabzustoßen befugt sind.«

»Haben Sie nicht gesehen, wie Frau Norton die Hand meines Bruders ergriff, als Sie den Streich führten ... fast wie in Angst?« fragte Fräulein Marshall. »Wozu überhaupt eine Anschauung, die ich ja ganz und gar teile, so handgreiflich demonstrieren? Sagen Sie mir: wissen Sie etwas über Frau Norton?«

»Ich bin Frau Norton nie begegnet,« erwiderte der Konsul. »Ich kann Ihnen also nichts über sie mitteilen. Sagen Sie aber Ihrem Bruder nichts von unserem Gespräch. Eine Warnung vor ihr würde bloß einen giftigen Zweifel in sein Gemüt träufeln, im übrigen aber nur dazu dienen, sein Interesse für sie zu erhöhen. Nehmen Sie die Sache nicht so ernst! Sie werden sehen, daß er in wenigen Tagen von dem Zauber frei sein wird.«

»Wirklich?« fragte Fräulein Marshall zweifelnd. »Sie ist so schön!«

»Sie ist ein magnetisches Weib,« sagte der Konsul. »Das ist eine rein physische Erklärung, an der wir uns genügen lassen müssen.«

Er verbrachte die Zeit bis zehn Uhr damit, sich alle Mitteilungen zu vergegenwärtigen, die er im Herbst dieses Jahres von Amts wegen über Frau Morland hatte einholen müssen. Es hatte sich um einen jener gewalttätigen Vorfälle gehandelt, die sich bei im Osten lebenden Europäern unter dem Einfluß eines ungewohnten Klimas und des verminderten Respekts vor den Gesetzen eines halb barbarischen Landes häufig ereignen. Ein englischer Offizier, Sidney Morland, der Beziehungen zur Gesandtschaft hatte, wurde in seinem Hotel zu Schanghai erschossen aufgefunden. Noch ehe die Polizei sich einfand, hatte sein Sekretär, der erwiesenermaßen der Mörder war, sich in einem chinesischen Teehaus, das er nach vollbrachter Tat aufgesucht, durch ein paar Schüsse entleibt. Es lag offen zutage, daß eine Dame der Einsatz in dieser Affäre gewesen war, und die Behörde wünschte daher dringend, Frau Morland zu sprechen. Diese war jedoch noch am selben Morgen unter Zurücklassung alles halbwegs entbehrlichen Gepäcks abgereist, und aus Sidney Morlands übrigen Hinterlassenschaften ging hervor, daß sie gar nicht seine Frau gewesen, wogegen sich in der Brieftasche des anderen Zuschriften der Dame fanden, die sich Frau Morland nannte. Die Behörde ließ in allen englischen Besitzungen Nachforschungen anstellen, und da die Papiere der Gesuchten erwiesen, daß sie dänischer Geburt sei, wurde ihre aufgefundene Photographie nebst den sie betreffenden Akten dem dänischen Konsul mit dem Ersuchen übergeben, aus ihrem Heimatland alle wünschenswerten Auskünfte zu ermitteln. Im Laufe einiger Monate gelang es Marcker, sich diese Auskünfte zu verschaffen. Es ergab sich, daß Frau Morland seit ihrem achtzehnten Jahre, nachdem sie nach ihres Vaters Tod eine Stelle in einer englischen Familie angenommen hatte, in Gesellschaft verschiedener, meist ganz junger Männer umhergereist war. Sie entstammte einer außerordentlich angesehenen Familie, von deren noch lebenden Mitgliedern jedoch sehr ungünstige Informationen einliefen.

Dieses trockene Material, das von Konsul Marcker ohne sonderliches Interesse aufgespeichert worden war, ging nun in der vorliegenden Situation Verbindungen ein mit dem eigentümlich starken und sensuellen Eindruck, den er im Augenblick des Wiedererkennens von Frau Morland empfangen hatte. Die graue tote Photographie hatte Farben erhalten, und er war keinen Augenblick im Zweifel, welche Art Weib sie sei. Ebenso unmittelbar bestimmte sein gesunder und sicherer Sinn, der empfindlichen Regungen und weichlichen Bedenken keinen Raum ließ, seine Haltung ihr gegenüber.

Nach der Rückkehr der übrigen Gesellschaft von dem Küstenausflug wurde eine Tanzunterhaltung arrangiert. Das große Schiffsorchester hatte auf der Brücke Aufstellung genommen, während im Achterschiff auf einer kreisrund ausgeräumten Arena die Paare nach den Melodien der letzten Modewalzer sich drehten. Marcker hielt sich abseits und beobachtete die Tanzenden, die in einem bereits vertraulichen Ton ruhiger Kameradschaftlichkeit miteinander verkehrten. Wie ein über die nackten Rippen des Sonnensegels gespanntes hohes Zelt lag der schwarze Tropenhimmel mit seinen eisigen Sternen über ihnen; längs der Schiffsseiten träumten die elektrischen Lampen, von roten und gelben Schirmen gedämpft, gleich einem diese schwimmende Welt schützend umhegenden Feuerzauberring.

Und dann und wann erblickte er in den Spiralen des Tanzes sie, die zu bewachen er beschlossen hatte; er sah ihre schwere, blonde Haarkrone drinnen in dem blauen Dunkel schwimmen wie eine schaukelnd dahingetragene japanische Lampe.

Der Schiffsarzt, ein junger Mann, der zum erstenmal im Osten weilte, kam auf ihn zu.

»Ich habe einen Mann der Besatzung ans Land ins Hospital bringen müssen,« sagte er. »Ein kurioser Fall. Der Mann ist Malaie und abergläubisch, wie alle diese Farbigen. Er ist von einem Fisch gebissen worden, den er heraufgezogen hatte, als er vom Schiffe aus angelte. Irgendein Idiot unter seinen Kameraden erschrak so sehr, daß er die Schnur mit dem Kris durchschnitt. Das hat nun unserem Malaien die unerschütterliche Überzeugung beigebracht, daß der Fisch giftig war. Er ist vollständig zusammengebrochen. Und das Merkwürdige ist, daß, obwohl die Wunde ganz rein und nicht im geringsten entzündet ist, der arme Teufel von Minute zu Minute verfällt. Er liegt ganz still, schmutzig gelb wie eine alte Zitrone, hat von Zeit zu Zeit Schüttelfrost und Brustkämpfe, aber kein Fieber. Seine Organe sind sozusagen in Stillstand geraten; ich verstehe es nicht, aber ich glaube wahrhaftig, daß er noch vor Abend kollabiert. Ich empfahl Äthereinspritzungen, aber diese halbfarbigen Spitalsärzte grinsten bloß und schüttelten die Köpfe.«

»Jawohl!« erwiderte Marcker. »Ich habe von derlei Dingen schon gehört. Ich fürchte, es ist um den Mann geschehen. Wenn diese Menschen von niedriger und äußerst sensibler Konstitution sich's in den Kopf setzen, daß sie sterben müssen, gut, dann sterben sie auch, ohne irgendeinen anderen nachweisbaren Grund, als daß sie als redliche Männer ihrer Überzeugung folgen – bis in den Tod. Suggestion bestimmt die meisten Dinge – und besonders hier draußen in diesen östlichen Strichen, wo das Sturmzentrum alles Nervenlebens zu finden ist. Dieser Malaie hält sich für vergiftet, und seine Nerven werden alle Vergiftungssymptome vorführen. Er wird Lähmungserscheinungen haben und sterben. Das ist ja an und für sich nicht unerklärlicher, als das Leben selbst es ist.«

Der Arzt lächelte unsicher und schlenderte weiter, und Marcker wendete neuerdings seine Aufmerksamkeit den Tanzenden zu.

Mit unwillig gefurchten Brauen sah er »sie« tanzen. Sie kam ihm entgegen, von Allan Marshall geführt, das Antlitz wie durch eine Reihe von Visionen getragen, von jeder Lampe neu erhellt, abwechselnd goldig und rosenfarben, und dann wieder eingefaßt von tiefem Dunkel. Er sah ihre Augen, bald halb geschlossen wie im Traum, bald weit offen, funkelnd von launischen Impulsen. Die Bewegungen der beiden wurden heftig; leidenschaftlich drückte er ihre Brust an die seine. Man betrachtete sie. Man war aufmerksam auf sie geworden. Sie tanzten allein – sie waren aus dem Rahmen getreten. Sie schien ihn mit sich zu führen, zögernd, zärtlich, um ihn plötzlich, rasch wie eine Flamme, zu umwinden; ja, wahrhaftig, er schien vom Knöchel bis zum Mund zu brennen, eine Säule aus Purpurrauch mit sich zu führen.

»Was will sie?« dachte Marcker. »Worüber brütet sie im Innersten, da, wo sie am klarsten, am kältesten ist? Sie scheint nicht wenig von diesem jungen Menschen zu wollen. Und er – ist er nicht schon von ihr verzehrt – gezeichnet? Er fiebert; er dreht sich wie in wilden Träumen, während er sie in den Armen hält. Wahrhaftig, es ist schon zehn Uhr. Wird sie mich warten lassen?«

Und plötzlich war der Tänzer frei von der Umhüllung ihres purpurflammenden Florkleides. Sie stand lachend vor ihm, noch walzend mit Hüften und Knöcheln, die nackten Arme ausgebreitet, während er, taumelnd wie eine Tanne vor dem Sturz, die Hände nach ihr ausstreckte. Sie aber wirbelte weiter, weiter, beide Arme emporgehoben, um das Haar zu ordnen, anderen Männern zunickend, die nach ihrer Hand haschten. Sie wehrte ab und lachte, lachte mit weitgeöffneten, erschreckten Augen. O, einmal noch sorglos tanzen, einmal noch im wiegenden Rhythmus dahinschweben dürfen! Marshall streckte die Hände nach ihr aus; sie legte ihren Arm schwer darüber, drückte sie zärtlich hinab, schüttelte verneinend die schweren blonden Locken. Nein, nein! Sie entschwand ihm. Sie fand eine andere Hand, die eines kleinen, weißgekleideten Mädchens, und drückte sie vertraulich und lachte. Zögerte noch – stand einen Augenblick still – mit gestrecktem Rist – fluchtbereit. Die Augen der Männer bewachten sie, wartend, entschlossen. Später – ja, später vielleicht! Sie wendete sich von einem zum anderen, wie Rettung suchend. Nun war sie an den letzten vorbei.

Marcker warf seine Zigarre über die Schiffsseite ins Wasser hinaus. Kommst du endlich! dachte er. Es ist an der Zeit.

In diesem Augenblick kam sie. Sie kam zu ihm hingelaufen, noch lächelnd, mit der Hand ihren Kavalieren zuwinkend; sobald sie aber an seiner Seite stand, wurde sie ganz still.

Er ging nach vorn und blieb nahe der Stelle stehen, wo er sie das erstemal erkannt hatte. Er lehnte sich über die Schiffsseite, den Ellbogen auf die Reling gestützt, und fühlte ihre Schulter die seine streifen, während sie sich an seiner Seite hinabbeugte.

»Wie schön die Nacht ist!« hauchte sie hervor. Er schwieg, und nun kam es rasch und leise von ihr: »Was wollen Sie von mir?«

»Dazu werden wir später kommen,« sagte er. »Vor allem will ich Ihnen etwas sagen, Frau Morland.«

»Ja, ich bin Frau Morland!« flüsterte sie. »Wo haben Sie mich getroffen?« Und wieder lächelte sie. Ihre Augen suchten die seinen, heiß und leuchtend; die funkelnden Pailetten ihres Kleides klingelten leise, als sie sachte den Arm aus dem Florschal löste und auf seine Hand sinken ließ. Auch er lächelte. Er fand es nicht nötig, sich freizumachen, und betrachtete bloß voll Interesse ihre Hand; aber da zog sie sie zurück, verbarg sie erschrocken und hüllte sich zitternd dichter in den Schal, als fröre sie mit einem Male.

»Nun denn!« sagte er. »Da Sie aufrichtig sind, will auch ich aufrichtig gegen Sie sein. Vor allem: ich habe persönlich nichts gegen Sie – aber auch nichts für Sie. Sie müssen verzeihen, wenn ich auf ganz brutal sachliche Art Sie und Ihr Leben einer Erörterung unterziehe. Ich sehe aber keinen anderen Ausweg.«

»Ich weiß, daß die Polizei mich sucht,« sagte sie, ohne ihr Lächeln aufzugeben und mit dem Versuch, ihre Stimme hart zu machen.

»Ich bin fortgereist von – von dem, was geschah. Aber ich habe keinen Anteil an dem, was geschah. Ich versichere Ihnen, ich war ohne Schuld – konnte nichts vorhersehen, nichts verhindern.«

Marcker zuckte die Achseln. »Sie waren der Gegenstand dessen, was vor sich ging, und hierdurch die Ursache; da ja der Gewinn stets die Ursache des Hasardspieles der Männer ist. Ich muß Ihnen aber sagen, daß ich gegen alles Hasard eingenommen bin. Beim Hasard gewinnt stets die Bank, und die Spieler verlieren. Und in den heutigen geordneten Zuständen wünschen wir ohne Verluste zu arbeiten. Wir trachten, alles Risiko, alles zufällige Unglück aus der Welt zu schaffen. Wir können nur das gebrauchen, was sich vorher berechnen läßt. In Schanghai verloren zwei Männer, die auf dieselbe Karte setzten. Nun, die Sache an sich geht mich nichts an, und Sie brauchen mir nicht zu erklären ...«

»Doch!« rief sie, und er meinte, ihr Herz in ihren Worten klopfen zu hören. »Doch! Sie sollen mich hören! Sie sollen hören, was ich zu sagen habe; sonst können Sie nichts begreifen – sonst müssen Sie mich voreilig verurteilen!«

»Ich verurteile Sie nicht; ich beurteile Sie, Frau Morland. Und über die Sache selbst weiß ich genug. Sie ist nicht sehr kompliziert. Jene beiden Männer waren bezaubert von Ihnen. Hier in den Tropen braucht es nicht mehr zu einer Katastrophe.«

»Was hätte ich tun sollen?« lispelte sie. »Sie begehrten mich beide, jeder für sich allein. Ich wollte ja nichts als geben! Ich kann nicht nein sagen, wenn jemand mich bittet. Ich weiß es selbst nicht – es war ein Fieber, und ich war krank – ja, mein Herz war krank. Ich konnte meine Gedanken nicht festhalten; mein Wille entschlüpfte mir. Darum war mein Leben so fürchterlich, eine Kette von Unglück und Qual, ein ewiges Wandern von Ort zu Ort. Aber wie sollten Sie mich verstehen können!«

»Eines verstehe ich, und darüber sind wir wohl einig: die Begegnung mit Ihnen ist Männern nachteilig. Unsere Zeit beruht auf einem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens. Sie aber wären ja nicht einmal, wenn Sie es selbst wollten, imstande, Ihre Versprechungen einzulösen.«

»Nein,« lächelte sie schmerzlich. »Ich habe nicht einmal Versprechungen zu geben. Ich bin ärmer als der Ärmste. Ich habe mich selbst nicht in der Gewalt.«

»Sie sind ohne feste Form,« fuhr Marcker fort. »Und für Männer ist nichts gefährlicher als dies Flüchtige. Es weckt in Ihnen das süße Heimweh nach dem Chaos, dem sie in ihrem anstrengenden sozialen Leben sich zu nähern ohnedies immer bereit sind. Frau Morland, Sie wissen es ja selbst, und ich sage es darum nur als Bestärkung des redlichen Prinzips in Ihrem eigenen Innern: Glück haben Sie niemandem gebracht. Darüber sind Sie sich selbst wohl ganz klar, und wenn ich es Ihnen sage, ist dies zwar brutal, aber notwendig, um zum gegenseitigen Verständnis zu gelangen.«

Er hatte erwartet, daß sie ihm nun die Stirn bieten würde, aber er vernahm nur einen leise klagenden Laut von ihren Lippen. Es war nichts von dem Lauernden und Verteidigungsbereiten in ihrer Haltung, das sich hätte voraussehen lassen. Sie erschien augenblicklich nur als eine Unglückliche. Er ging darum ruhig einen Schritt weiter.

»Frau Morland!« sagte er. »Sie fühlen selbst, daß Sie nach dem, was geschehen ist und was über Ihrem Haupt hängt und nach Ihrem ganzen Typus, hier an Bord nicht an Ihrem Platz sind. Ich fürchte, Sie werden hier Unheil stiften.«

»Was wollen Sie von mir?« flüsterte sie, sich ihm voll zuwendend. »Was wollen Sie, daß ich tun soll?«

»Sie haben in diesen letzten Tagen – bewußt oder unbewußt – einen ganz jungen Mann an sich gefesselt. Hören Sie mich: ihn müssen Sie in Frieden lassen. Sie werden begreifen, warum: er ist ein Jüngling, ein unmündiger Knabe. Er ist ohne Rüstung. Er soll hinaus an die Arbeit, die unsere Kultur von den jungen Männern fordert. Sie wissen, wie es um ihn steht und zu welch desperaten Schritten Sie ihn veranlassen könnten. Ich verdamme Sie nicht. Ich verstehe, wie unsicher Ihre Stellung ist, und daß Sie dort, wo Sie nun Zuflucht suchen, einen Mann bei sich haben müssen, der Sie verteidigt und der an Sie glaubt. Aber das sage ich Ihnen: er wird es nicht sein. Denn Sie haben wohl schon Ihre Verabredungen mit ihm getroffen, nicht wahr?« fuhr er fort.

Sie nickte.

»Sie müssen ihn freigeben.«

Sie blickte auf, suchte seinen Augen zu begegnen.

»Und wenn nicht? Wollen Sie mich dann anzeigen?«

»Das wird nicht nötig sein!«

Nein, dachte er, das wird nicht nötig sein. Sie wird tun, was ich verlange. Und mit heimlicher Verwunderung spürte er, wie vollständig sie seinem Willen unterlag.

»Was soll ich tun?« fragte sie leise. »Wohin soll ich gehen? Das Schiff verlassen? Hier auf diesen Inseln?«

»Wohin reisen Sie? Haben Sie Geld?«

Sie nickte wieder. »Ich wollte nach Australien, von da weiter nach San Francisco. Ich habe noch soviel Geld, wie ich brauche.«

»Nun denn!« sagte Marcker. »Ich verlange bloß das eine, daß Sie, solange Sie an Bord sind ...« Er zögerte.

»Was soll ich tun?« jammerte sie. »Ich habe ihn ja nicht aufgesucht. Immer, immer kommen sie zu mir. Immer kreisen sie um mich. Darum gab es in meinem Leben niemals etwas anderes als Männer.«

»Lieben Sie ihn?« fragte Marcker.

»Ich bin ihm gut. Er ist mein einziger Freund hier.«

»Gut. So geben Sie ihn frei. Seiner selbst wegen.«

Ein Schauer durchfuhr ihren zarten Körper.

»Er wird mich aufsuchen. Ich werde nicht freikommen. Er wird mich fragen, mir folgen – verlangen ...«

»So sagen Sie nein!« Zugleich aber fiel ihm ein, daß es das Gefährlichste für Männer ist, wenn das Weib nein sagt. »Hören Sie mich nun ruhig an, Frau Morland!« sagte er. »Alles beruht darauf, was ein Mensch selbst will. Und ich habe Ihnen jetzt einen Grund gegeben, zu wollen. Ich habe Ihnen heute gesagt, daß Sie magnetisch auf Männer wirken. Es ist eine Glut in Ihnen, die uns alle, die das Feuer suchen, an uns zieht. Nun, machen Sie sich kalt! Löschen Sie die Flamme in Ihrem Blut! Entwaffnen Sie sich! Das will ich, daß Sie wollen, Frau Morland!«

Ein Zucken durchfuhr ihren Körper. Er sah ihr Antlitz zu sich emporgewendet – als stiege sie auf durch das dunkle Meer. Welche Erinnerung ...! Ein Schauer durchbebte ihn ... Dieser ertötete Ausdruck des Gesichts, die blinkend weißen Zähne in dem verzerrten Munde, die geheimnisvollen Farben ihrer Haare und des Kleides ... Jawohl! Sie kam aus der Tiefe, in den dunklen Labyrinthen der Korallenriffe war sie gewandert ... Aus einer fernen, fernen Urzeit stammten ihre Instinkte. Sie hatte keinen Platz in dieser Zeit, kein Recht, in einer geordneten, ruhigen Welt zu leben. Sie war nichts als Gefühle: entblößte, blutende Instinkte. Und ihm war, als hielte er ihr Herz in seinen Händen und hörte es darin hämmern – schwere, schwere Schläge. Nein, sie gehörte nicht hier herauf. War durch wechselnde Traumzonen hierher gezogen, schmachtend nach dem Licht, in dem die Menschen leben, das Antlitz emporgewendet: dieses Antlitz von unsäglicher Schönheit und unsäglichem Grauen, wie gebadet im Meeresleuchten der Tropennacht, mit dem zitternden Lächeln um die Korallenlippen und den schmachtenden Flammen in den tiefen Augen.

Er war außer Gleichgewicht geraten. Eine saugende Sehnsucht wühlte in seiner Brust. Wie ein Kind, demütig und siegreich zugleich, stand sie vor ihm, und wer sie so sah, fühlte gleichzeitig den wilden Schmerz des Verlangens und die Süße des Mitleids. Ja, dies waren ihre Mittel! So traf, so besiegte sie die Männer. Sie verwandelte sich in Leiden!

Und plötzlich schwollen Zorn und Protest zu einem Sturm in ihm an. Ewige und gerechte Kräfte wirkten in ihm. Er hielt diesen Blicken stand, er fürchtete die Augen der Medusa nicht. Er schied sie aus. Auf dem Wege, den er schritt, war keine Zeit und kein Platz für die weichlichen Forderungen der Sinne. Er ließ sich nicht aufhalten von einem Ruf der ältesten Erdenlust. Er ordnete die Dinge. Für sie sah er keine Rettung. Nein! Hinab auf den Grund mußte sie! Zurück in ihre Tiefe! Ich beraube sie ihrer Kraft, dachte er. Ich lasse sie fallen. Ich führe den Streich gegen den Strang, der sie hier oben hält in unserer Welt. Zurück mit ihr! Hinab bis auf den Grund!

Er sah sie stillhalten unter der vollständigen Kontrolle seines Willens, sah die Züge ihres Antlitzes gespannt, wie gefesselt von seinem Gebot. Nun hauche ich auf ihre Augen, dachte er, und versenke sie in Schlaf.

*

Die »Lincoln« kreuzte in der folgenden Woche durch den Bismarck-Archipel. Am Horizont zeigten sich häufig die Umrisse fremder Inseln. Das Wetter war veränderlich, bald funkelnd weiße Tropentage, bald feuchtheißer Wind, bald fahle, klamme Nebel, die das Fieber ferner Sumpfgegenden mit sich trugen. Auf dem weißen Deck des schwimmenden Hotels ging der Tag seinen regelmäßigen Rundgang.

Marcker trat auf Fräulein Marshall zu, die in ihrer chinesischen Rohrbank ruhte, einen Zeichenblock auf den Knien. Er blieb stehen und betrachtete über ihre Schulter hinweg das blaue Aquarell von See und Luft: die weißen Halbmondflügel der Sturmvögel und als ihr Spiegelbild gleichsam den Schwarm der weißen Flugfische, die im Springen Silbertropfen aus der Meeresfläche mit sich zogen. Er lächelte. Wie hart, wie merkwürdig konkret malte sie doch diese Tropenmeere! Sie sah nicht ihre Tiefen, kannte nicht ihre Süße, das flüchtige Wandern und Weben ihrer Wogen. Draußen am Horizont sammelten sich wieder die gelben Fiebernebel.

Sie hob die metallgrauen Augen von dem Block und sah ihn mit einem vernünftigen Lächeln an, das sichtlich darauf berechnet war, Eindruck zu machen.

»Sind Sie es endlich?« fragte sie. »Ich habe Sie heute ja noch gar nicht gesehen. Wissen Sie, daß Sie sehr schweigsam und zerstreut geworden sind? Ich habe schon längst mit Ihnen über etwas sprechen wollen ... etwas, das uns beide angeht.«

Und als seine Blicke fragten, fuhr sie fort:

»Ich glaube, wir haben die Gefahr überschätzt, die der Gemütsruhe meines Bruders drohte. Wenn ich jetzt daran denke, begreife ich gar nicht, wie wir von dieser Seite her eine Gefahr erwarten konnten. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, wieso Frau Norton uns so überaus beschäftigen konnte.«

Er zog voll gespannter Aufmerksamkeit die Brauen zusammen.

»Haben Sie sie heute gesehen?« fragte er forschend.

»Man sieht sie ja jetzt im ganzen recht wenig. Aber ich habe sie heute morgen auf dem Vorderschiff stehen und nach den Inseln hinausstarren sehen, ganz allein, wie sie es jetzt ja immer ist. Sie ist ganz unzugänglich geworden. Nein, ich begreife nicht, was uns anfänglich an ihr so fesselte.«

»Finden Sie sie so sehr verändert?« fragte Marcker.

»Ich erinnere mich,« fuhr Fräulein Marshall fort, »daß ich einmal eine etwas ältere Freundin, die kosmetische Mittel gebrauchte, in – nun ja – in Negligé antraf, ohne Haarfärbung und ohne Tusche. Nun bin ich überzeugt, daß Frau Norton niemals Mittel gebraucht hat. Sie ist auf eine ganz seltsame, aber dennoch natürliche Art innerhalb kurzer Zeit vor unseren Augen verblüht. Es fiel mir zum erstenmal vor einer Woche auf. Ich glaubte, sie sei krank. Es war wahrhaftig, als habe sie plötzlich ihre Farben eingebüßt.«

»Ja, ja,« sagte Marcker, »als sähe man eine farblose Photographie von ihr. Ich kenne das.«

»Nicht wahr? Ihre Züge sind dieselben, aber sie ist nicht mehr schön – oder vielmehr, nicht mehr anziehend, wenn es nicht überhaupt eine Illusion war, daß sie jemals anziehend gewesen ist.«

»Vielleicht,« sagte der Konsul mit einem kurzen Auflachen, »vielleicht ist sie – entmagnetisiert. Sollte dergleichen nicht vorkommen? Was für Kräfte sind es im Grunde, die unsere Sympathie erregen? Irgendeine unbekannte, unbewußte Bildung in der Tiefe der menschlichen Psyche! Durchaus kein äußeres Schönheitsmerkmal der Physiognomie und Gestalt, sondern das Tiefste von allem, das, was der Lebenskraft selbst gleichkommt. Nun, wer weiß! Sollte nicht auch dies verloren gehen können?«

Sie lächelte skeptisch.

»Wir haben sie eben einfach überschätzt. Und mein Bruder hat sich mit uns anderen gelangweilt. Jetzt hat er eingesehen, daß wir doch noch die Amüsanteren sind. Sehen Sie, da spielt er nun mit den übrigen Kricket. Er hat mir übrigens eingeräumt, daß er auf dem Sprung war, eine große Dummheit zu begehen.«

Marcker erinnerte sich, Allan Marshall mit einem verdrießlichen und ziemlich ratlosen Gesicht umhergehen gesehen zu haben. Die wenigen Male, da man ihn in Frau Nortons Gesellschaft angetroffen, war seine verwirrte und enttäuschte Miene aufgefallen.

Er erhob sich ärgerlich. Was ging der junge Marshall und seine dumme Liebesaffäre im Grunde ihn an! Was ging ihn die Schwester an mit ihrem dürren Witz und ihren unfruchtbaren Talenten? Sie und alle die anderen angelsächsischen Gliederpuppen der Gesellschaft mit ihrem gedämpften Sportjargon und dem angelernten halbintimen Kameradenton, den die Mode forderte – was kümmerten sie ihn eigentlich?

»Ich lese in Ihren Augen!« sagte sie, ihn forschend anblickend.

Und als er die Züge strammte, um weitere Bemerkungen abzuschneiden, fuhr sie lächelnd fort:

»Was ich in Ihren Augen lese, gefällt mir. Es ist etwas Kräftiges und Positives. Ich lese darin, daß Sie sich Zeit Ihres Lebens nie mit Träumen abgegeben haben, sondern mit Handeln. Hamlet war ja Däne, nicht wahr? Sie aber sind ganz und gar Engländer.«

Kurz darauf begegnete er dem Schiffsarzt.

»Herr Marcker,« sagte dieser, seinen Arm berührend, »ich habe Sie schon lange etwas fragen wollen. Wissen Sie etwas Näheres über Frau Nortons Verhältnisse?«

»Sie ist von dänischer Geburt, wie ich,« sagte Marcker.

»In der Tat? Dann glaube ich, daß Sie mit ihr sprechen sollten. Haben Sie sie in den letzten Tagen beobachtet? Ich habe niemals einen Menschen sich so plötzlich verändern gesehen. Sie ist in einer Woche um zehn Jahre älter geworden.«

»Ja!« erwiderte der Konsul. »Ich habe es bemerkt.«

»Es kann kein Zweifel herrschen, daß sie an einer ernsten Krankheit leidet,« fuhr der Arzt fort. »Es heißt, daß die Tropen die Organe auf eine langsam schleichende Art angreifen können. Vor allem ängstigt mich ihr Gesichtsausdruck. Seine Schlaffheit deutet auf tiefe Depression. Und haben Sie ihre Augen gesehen? Sie sind glanzlos, matt – ja erloschen, ist das richtige Wort. Ich suchte sie gestern auf, aber sie lächelte bloß zu meinen Ratschlägen. Heute habe ich sie nicht gesehen. Wollen Sie nicht versuchen, mit ihr zu sprechen? Vielleicht ist es bloß eine psychische Krise. Vielleicht bedarf sie bloß eines Impulses, um aus sich herauszutreten. So, wie es jetzt steht, wird sie durch einen inneren Verbrennungsprozeß verzehrt.«

»Jawohl!« dachte der Konsul. »Sie verwandelt sich zu Asche, so wie ich es wünschte, daß es geschehe.« Und er fühlte einen Druck auf dem Herzen. »Ich werde mit ihr sprechen.«

Er selbst war mit dumpfer Verwunderung der Veränderung in Frau Morlands Wesen gefolgt. Vor allem hatte er diese in der Haltung ihrer Umgebung abgespiegelt gesehen. Es war, als sei der Lichtkreis von Sympathie, der von ihr ausgestrahlt war, plötzlich erloschen, als fühle man sich von ihr betrogen und beschließe, sich abwartend zu verhalten. Und er las es in ihrem eigenen Antlitz, in ihrem krankhaften Lächeln, wie wohl sie alles begriff, ja, wie sie diese zunehmende Kälte fast als ein Geschenk empfing, sich darin einhüllte, um sich immer mehr isolieren zu können.

So war es also geschehen, wie er es gewollt. Sie war ausgeschieden, neutralisiert. Das Abenteuer war zu Ende, insoweit sie Abenteuer gesucht hatte.

Verstohlen hüteten seine Blicke sie, und war sie nicht da, so stand ihr Bild in greifbarer Deutlichkeit vor ihm. Jawohl, sie hatte ihren Ausdruck verändert, ihre Farben eingebüßt, ihr Lächeln verloren. Die Augen waren klar geworden, grau und ruhig. Die Züge wiesen alternde Furchen, nur Brauen und Lippen waren dieselben, wundervoll geformt, bloß minder lebendig, unbeweglich in ihrem herabgezogenen Pathos. Sie suchte niemand auf, und war jemand freundlich gegen sie, so war ein schwaches Lächeln ihre Antwort. Mit der Zeit beachtete man sie nicht mehr. Nur Marcker folgte dieser Verwandlung mit einer Aufmerksamkeit, die ihn oft selbst ängstigte. Sie schien eine Zwangsvorstellung für ihn werden zu wollen.

Ja, sie verwandelte sich zu Asche! Sie hatte ihrem heißen Herzen Einhalt geboten, die Flamme ihrer Sinne gelöscht. War dies denkbar? Durch seinen bloßen Willen? War es möglich?

Und während er in heftig erregten Gedanken auf dem Deck auf und ab schritt, kam ihm plötzlich der Malaie in den Sinn, der in Manila ans Land gebracht worden war und ohne Krankheit dahinstarb, gelähmt von seiner Furcht, dem Tode geweiht durch seinen unerschütterlichen Glauben, daß er vergiftet sei.

Was wohl sind die Lebensursachen, die, gleich der Unruhe in der Uhr, das Werk im Gange erhalten? Ist es ein entblößter Punkt der Psyche, der keine Berührung verträgt? Er hatte ihr Leben unter seinen Willen gebeugt; hatte ihr genommen, was ihr einziges Lebenstalent, ihre seelische Schönheit gewesen: die erotische Kraft ihrer Sinne. Er hatte von ihr verlangt, sich als Weib auszuschalten.

Sie war zweifellos krank, wie der Arzt gesagt hatte. Man erkannte es an ihrer Hautfarbe, ihren Augen. Und darin war auch an und für sich nichts Merkwürdiges. Darum hatte sie sich auch heute nicht gezeigt. Aber er hatte im Vorübergehen vor ihrer Kajüte, in der er die Stewardeß verschwinden gesehen, ihre Stimme vernommen.

Auch ihn selbst schien übrigens einer jener unvermeidlichen Rückfälle des Tropenfiebers gepackt zu haben. Er verspürte abwechselnd Frost und Hitze und sah unaufhörlich klar wie eine Vision vor seinen Augen – was er nicht zu sehen wünschte. Warum sich nicht selbst gestehen, daß er sie schöner als je fand, rührender, wertvoller als zuvor?

Er ging nach dem Vorderschiff und stützte die Ellbogen auf die Reling. So waren sie an jenem Abend gestanden. Seither hatten sie nicht miteinander gesprochen. »Soll ich es versuchen?« dachte er. »Soll ich sie zu mir rufen?«

Er riß sich los und kehrte nach dem Achterschiff zurück. Begann ein Gespräch mit seinen guten Freunden, fand sie alle jedoch banal, ohne Tiefe und Gewicht in ihren Worten. Fräulein Marshalls allzu einladende Zurückhaltung verdroß ihn, nicht minder die Arroganz ihres Bruders, dieses Gelbschnabels, der in einem Kreise älterer und bedeutenderer Männer das große Wort führte, ohne daß jemand Protest dagegen erhob.

Er wendete sich ärgerlich ab. Wozu zum Henker hatte er sich der Interessen dieses ganz indifferenten Burschen angenommen? Aber war es denn auch wirklich bloß dieses Fremden Sache gewesen, die er verfocht? War es nicht vielmehr eine viel drohendere Gefahr, ein weit intimerer Angriff, den er beizeiten abgewehrt hatte?

Ob ich ihr hätte von Nutzen sein können, wenn ich mich ihrer angenommen hätte? dachte er. Aber nein! Sie ist ohne Form. Sie ist das Chaos der Gefühle. Ihre Psyche ist unveränderlich. Um Einfluß auf sie zu gewinnen, brauchte es eines sehr harten Mannes. Und ein harter Mann verfährt, wie ich verfuhr, als ich ihr Herz stillstehen hieß.

Es war Abend geworden. Von der Schiffsbrücke herüber, wo das Hornorchester sich postiert hatte, kamen die Walzerklänge in ihrer sentimentalen Süße. Die Tropennacht hatte ihre Sterne angezündet.

Konsul Marcker stand an derselben Stelle, an der Leerseite des Vorderschiffes. Er neigte sich über die Brüstung und starrte hinab in die schwarzblauen Wasserspiralen, die dem Schiffssteven entströmten.

Am fernen Horizont schwammen die flachen Inseln vorüber, deren Bäume aus schwefelgelben und blutroten Korallen mit ihren strahlend schönen Polypenblüten jahrtausendelang als submariner Zauberrosengarten in den phosphorleuchtenden Tiefen gewachsen waren. Und eines Tages waren sie emporgetaucht in ihrer Sehnsucht nach dem fernen Sonnenglanz. Die Flora des Tages hatte sie berührt, und die Inseln entstanden, das langgestreckte Atoll mit seinen blauen Lagunen und der brandenden Gischtverbrämung. Die trockenen Abfälle der Oberwelt kamen angeschwemmt und düngten den Boden.

Da wuchsen die Länder auf und breiteten sich auf ihrem Grundwall von Kalk und Kreide zu großen Arealen, die die Menschen für ihre Unternehmungen in Gebrauch nahmen, kolonisierten und nach ihren Gesichtspunkten der Nützlichkeit ordneten. Die toten, fossilen Gärten da unten wurden zum Fundament für die große Kultur. Denn das Leben strebt Planmäßigkeit an und ein trockenes, mechanisches Funktionieren. Mit dem Willkürlichen und Wildwachsenden ist ihm nicht gedient. Ebensowenig mit zufälligen Abenteuern oder mit einer zufällig verirrten Abenteurerin.

Da unten dunkelte die See. Hastige Streifen von Meerleuchten zogen vorbei.

Und plötzlich nannte er laut und mit zitternder Stimme Ihren Namen.

Eine Hitzewoge überzog seine Haut, und sein Verlangen nach ihr ward unerträglich.

Da mit einemmal war es ihm, als sähe er sie ganz deutlich dort unten in der Finsternis, das Antlitz an das schwarze Glas der Wasserfläche gepreßt, zu sich emporgewendet, leuchtend, die Lippen geöffnet in einem leidenschaftlichen Lächeln; er empfand den Duft ihres Körpers, salzig wie Meeresduft; sie streckte die weißen Hände zu ihm empor. Und er tappte umher, wie in Rausch und Fieber, um sich freizumachen.

Er kämpfte mit dieser Vision. Er rang sie nieder. Er stemmte seinen Willen dagegen. Und es war ihm, als höre er Jammern und Weinen. Schleier glitten vor dem weißen Bild herab; die lächelnden Augen brachen in Angst. Ja, er begriff: er war ihr Ziel. Ihm galt ihr Lächeln und ihr Weinen, ihr Ringen und Kämpfen, ans Tageslicht zu gelangen.

Er stöhnte und riß sich los. Er ließ die Schneide der Hand wie eine Waffe auf die Schiffsreling niederfallen.

Eine Weile noch blieb er so stehen. Schwere dunkle Gedanken jagten wie Wolken durch sein Gemüt. Er sah nichts klar vor sich, und statt der Ruhe, die er erwartete, wühlte ein verzehrender Schmerz in seiner Brust.

Verstört wendete er sich um, als eine Hand seine Schulter berührte. Er begegnete den unruhigen, kurzsichtigen Augen des Schiffarztes. Hinter diesem sah er die flache, wohlfrisierte Maske des ersten Steuermanns auftauchen.

»Konsul Marcker,« sagte der Arzt mit gedämpfter Stimme. »Es hat sich hier an Bord ein bedauerlicher Vorfall ereignet. Ich wende mich an Sie, weil ich Sie als diskreten Menschen mit unsentimentalen und praktischen Ansichten kenne. Es ist für den guten Gesellschaftston hier an Bord von Wichtigkeit, daß wir jeder peinlichen Stimmung aus dem Wege gehen. Dies ist ja eine Lust- und Vergnügungsfahrt. Nun denn! Frau Norton ist tot. Der Steward fand sie auf dem Fußboden ihrer Kajüte liegend, leblos. Ich hege keinen Zweifel, daß sie seit langem krank war. Ich habe konstatiert, daß der Tod vom Herzen ausgegangen und augenblicklich eingetreten ist. Ich und der Kapitän, den ich sogleich aufsuchte, haben beschlossen, einen Schiffsrat einzuberufen. Ich bitte Sie, daran teilzunehmen. Wir wollen die Sache noch einige Tage vor unseren Passagieren geheimhalten. Ich habe vorgeschlagen, daß wir die Leiche heute nacht in aller Stille in das Meer versenken.«

Marcker neigte als Antwort das Haupt. Sein Sinn beugte, ergab sich. Er fühlte, daß sie, die nun tot war, niemals sein gewesen und niemals sein hätte werden können. So war sie denn zurückgesunken in ihr Dunkel in den tiefen Korallenlabyrinthen. Er aber wußte, daß er von nun an entbehren würde, ohne Hoffnung, sich sehnen ohne Ziel und Grenzen, und daß sein künftiges Leben grau sein würde, so wie er selbst grau geworden war, ohne gelebt zu haben.


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