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Das gestohlene Gesicht

Der Regisseur wies mir den Weg zu Holmans Garderobe. Bei meinem Eintritt sah ich durch den gelben, gasartigen Qualm, der das ganze Zimmer verschleierte, Holman auf einem kleinen, niederen Stuhl vor dem Spiegel sitzen: den mächtigen Körper bis zum Gürtel nackt, scharlachrot und schweißglänzend, das starke glattrasierte Nero-Gesicht in dem aufgeklappten Spiegel verdreifacht, zwei ganz ungleiche Profile, ein helles und ein beschattetes und zwischen ihnen die breite Gesichtsfront, schwellend von Kraft, Hochmut und Genialität. Die Muskeln lagen wie geölte, zähe Taue um Nacken und Schultern, und vom Ohre herab kroch zwischen den Sehnen des Halses eine Ader, verzweigt wie eine Koralle, ein seltsamer, leise bebender Weg zwischen Kopf und Körper, zwischen Hirn und Herz – die dünne Schnur, die diese mächtige Marionette bewegte, sie erstarren oder erglühen ließ, sie lärmen und toben machte, in Schmerzensbanden fesselte, diesen ganzen kraftvollen Körper lenkte und all seine sklavischen Organe hellhörig dem Kommando der Kunst unterordnete.

Er hielt die Kohlenstange noch in der rechten Hand. Die gemalte Farbe klebte fett und perlend auf der Stirne mit einem scharfen Streifen an jener Stelle, wo die Perücke losgerissen war.

Seine Laune aber war die beste. Der Abend war in glücklichster Weise verlaufen und meine Einführung hatte in der gebührenden Form stattgefunden. Meine Aufgabe bestand bloß darin, ihn sprechen und erzählen zu hören.

»Jawohl,« rief er, »sehen Sie sich nur um! Gucken Sie mich bloß an, nackt wie ein Gorilla, wie ich bin! Ja, da haben Sie das Rohmaterial, den Ton, aus dem ich knete, den Humus, das Erdreich, den nackten Ackerboden. Der Schauspieler ist wie ein an die Scholle gebundener Fronbauer. Man darf sein Stück Land nicht verlassen! O, Sie wissen nicht, wie verhaßt uns dieser beschwerliche grobe Körper werden kann. Hören Sie nur mal, wie dumpf es dröhnt, wenn ich mit der Hand hier auf die Brust schlage. Und der Kopf da oben – ein kleines gepanzertes Kastell, in dem ich wohne und mich oft so ohnmächtig, so einsam fühle. Sehen Sie, aus diesem Leichnam heraus muß ich schaffen! Diesen Kadaver muß ich mit buntem Zeug behängen, bald wie eine Brautkammer, bald wie ein Trauerhaus, und Abend um Abend einem Haufen bloßstellen, dessen Sinne nach mir hungern. Ich habe kein Recht, meinen Körper zu verbergen, kein Recht, Geheimnisse mit ihm zu haben, ich habe kein Privatleben, meine Kunst ist die öffentliche Prostitution vor allen. Jeden Abend schleudere ich mit einem Fußtritt mein bürgerliches Ego hinaus in das grellste Rampenlicht der Welt. Und dafür verachtet uns der Haufe, jahrhundertelang offen, heutigentags noch heimlich und verstohlen.«

Er hatte sich wieder vor den dreiflügeligen Spiegel gesetzt. Die Kohlenstange beschrieb Runen über die verklebten Brauen.

»Gucken Sie mal,« fuhr er fort, »hier auf meiner Stirn entsteht jetzt ein vierter Akt. Hier zeichne ich einen Menschen, der an diesem Abend ich selbst bin, als dem Tode verfallen, – einem gebührendermaßen tragischen Tode natürlich! Ich stemple mich, wie man ein Lamm für die Schlachtbank stempelt. Diese Furchen über der Nasenwurzel bedeuten Gewissensqualen, diese roh hingeklexten Streifen bedeuten Sünde, dieser Fleck hier beim Ohr bedeutet Verfall, Untergang, Tod. In diesem dritten Akt, in welchem ich nicht auftrete, sondern ungehindert mit Ihnen plaudern kann – in diesem stummen Akt töte ich mich, beuge meinen Körper hinab zur Tiefe, weihe mich mit Kohle und Schminke für den letzten Akt der Tragödie. Alle die viertausend anderen da draußen im Parkett und in den Logen sitzen und glotzen aus dem Dunkel heraus, wohlverborgen und wohlgeborgen. Nur wir, wir Leute von der Bühne müssen einstehen mit unserem Körper – wir und alle die anderen, die den sicheren Boden der Wirklichkeit verlassen haben und im Raume schweben.

Dann und wann aber–ja dann und wann rächen wir uns an einem dieser verdächtigen Kujons, die sich da draußen im Schutze der Dunkelheit in Sicherheit wiegen, in ihrem »Mimikri« mit der großen farblosen Einheit, dem Publikum, verschmelzen! – Dann und wann gelingt es uns, unseren Arm über die Rampe zu recken, hineinzulangen in den Haufen, ein Individuum loszureißen und es hinauszuhalten in das volle Licht der fürchterlichen Öffentlichkeit!

Ja, nun hören Sie nur: ich will Ihnen von einem solchen Beispiel erzählen, und Sie sollen mich ansehen, während ich erzähle. Ich will meine Geschichte mit dieser Kohlenstange auf meine Visage zeichnen. Horchen Sie nun und verfolgen Sie meine Grimassen:

Diese Perücke ist ein Skalp. Ich habe ihn einem Manne abgezogen. Ich habe mein Opfer mit dem Tomahawk zu Boden geschlagen und ihm den Haarbalg abgeschält. Sehen Sie, da hängt er nun wie eine Trophäe in meinem Wigwam. Stellen Sie sich vor, es sei ein Reif von Blut, nicht von Schminke, der von seiner Stirnhaut tropft, wenn ich ihn nun über meinen Schädel stülpe. So!

Sie erinnern sich noch an meinen Daniel Goron. Nicht wahr? Sie werden mich wiedererkennen. Ich schuf die Rolle daheim, ich schuf sie neu, nachdem sie auf ihrem Riesenweg über alle Bühnen des Festlandes von 1906 bis 1907 plattgetreten worden war. Mit diesem blutigen Skalp, sehen Sie, krönte ich meinen Daniel Goron. Passen Sie nun mal auf: Betrachten Sie Daniel Gorons Nase, diesen an der Wurzel boshaft gerunzelten Eisenschnabel. Diese lotrechten Linien auf der Stirn! Schauen Sie mir in die Augen. Die Augenhöhlen sind kreideweiß, damit der Stachel meines Blickes besser verwunden könne. Dieser Bart verdeckt nur unvollkommen das Gebiß von Haizähnen, das man bemerken soll, wenn der rostrote, übermäßig gekräuselte Bart einen genug lange angeekelt hat. Auch der Hals soll unter dem Barte sichtbar sein, ein Dreieck von weißer, schamloser Haut, das der herabgebogene Kragen freiläßt. Und nun müssen Sie mich gehen sehen – auf den Fersen, mit den Armen rudernd – und müssen meine Hände betrachten, diese behaarten und schwammigen, mit Krallen versehenen Hände. Ich bin keine Katze, ich bin ein Wolf, ich trage meine Krallen sichtbar.

Sehen Sie mal, nun bin ich Daniel Goron, der Finanzmann und Wucherer, der Börsenstürmer, der Aussauger, der Massenmörder Daniel Goron! Ich halte alle Figuren des Schauspiels wie Puppen in meiner Hand. Sie müssen vor mir tanzen, ehe ich sie erdrossele. Jenseits des Publikums, dort oben auf der Bühne, spaziere ich einher und sehe mir die Komödie an und speise zuletzt die ganze Personenliste zum Abendbrot. Dies ist Daniel Goron, von mir erschaffen, von mir gemalt auf dieses Gesicht, aus diesem Ton geknetet. Meine Beine tragen wie eine Staffelei dieses Werk – sehen Sie so! Hier stehe ich! Aber nun wollen wir uns setzen. Hören Sie mir ruhig zu.

Ich hatte anfänglich gar keine Lust, mich mit diesem Daniel Goron abzugeben. Das Stück ist schlecht – zuviel Literatur – ganz ohne Moral, kurz: unpopulär. Aber es ist eben diese Rolle: Daniel Goron. Französische und deutsche Kollegen haben sich an dieser Nuß, dieser gepanzerten Nuß, die Zähne herausgebissen und dennoch bei genügsamen Hunderttausenden da draußen in Europa Jubel erregt. Das hat mich bestimmt. Diese Bombe wollte ich springen lassen. Ich fühlte zwei oder drei Repliken der Rolle in mir, ja, sie steckten mir von der ersten Stunde an im Leibe; von da an kam ich nicht mehr los. Ich mußte hinein in diesen Mann, ihn mit mir selbst füllen, ihn weiten, ihn erheben, ihn wölben mit meiner Kraft, bis er das Theater füllte mit dem Getöse seiner mächtigen Existenz.

Es vergingen Wochen, die Proben schritten vor. Der Regisseur kam jeden Tag und drückte mir die Hand, stumm vor Bewunderung. Aber dieser Mann ist gleichzeitig blind, taub und ein Idiot. Er sah nichts, er begriff nicht, daß ich falsch war, daß ich weit außerhalb der Rolle blind dahinschlingerte, daß ich log und schwindelte wie ein – na, wie ein gewisser Kollege, den wir beide kennen! Ich war desperat, ich rannte mit der Stirn an eine Wand, aber ich kam nicht hinein, nicht einmal in die Schale der Rolle. Ich sah sie nicht, ich kannte sie nicht, ich wußte nicht, was für eine Art Mensch Daniel Goron sei!

Da – eines Morgens – ich war eben erwacht, noch erdrückt von den dumpfen Erinnerungen des letzten Abends – plötzlich – in einer alles zerreißenden Vision war ich klar, befreit, durch die Schale gebrochen – mitten in des Pudels Kern. Von dieser Sekunde an war ich Daniel Goron.

Ich bereitete mich zu der Probe jenes Tages, ich legte die Maske an, die Sie nun sehen – sie fiel mir zu wie etwas, das nicht anders sein konnte, ich sah sie vor mir und zog sie an wie einen Frack, der bereit hängt. O, wie gut sie mir paßte! Und nun spielte ich drauf los, wie ums Leben, ich spielte mich frei, ich verwandelte mich. Nein! Nein! Ich wurde erst geboren!

Sie wissen, daß ich Daniel Goron über zweihundertmal spielte, ohne zu ermüden, mit jedem Male besser; tiefer und tiefer drang ich ein in dieses Mannes Kern und gleichzeitig weitete ich mich, wuchs in seiner Garderobe, schwoll unter der Maske, bis die Bühne ganz allein mein war, bis die anderen wie Neger zu meinen Füßen krochen und man sie nicht sah. Das Theater war mein eigen, ja, das Theater war ich allein. Dieser Körper war der Schauplatz, auf dem das Drama Daniel Goron sich abspielte. Ich riß den Vorhang beiseite und stand allabendlich Front gegenüber viertausend Augen, die nichts sahen als mich.

Es war ein zehntägiger Rausch, ich wandelte in diesen Tagen in einem Traum bis gegen Abend, wo meine Verwandlung, meine Befreiung vor sich ging. Durch zweieinhalb Stunden erlöste ich mich selbst in dieser bestialischen, grandiosen Figur, ich wälzte mich in Daniel Gorons Lastern, ich raste in seiner wahnsinnigen Leidenschaft, ich erniedrigte mich in seiner nichtswürdigen Gemeinheit und erstarkte an seiner genialen Bosheit. Es war ein Rausch, ein Fieber. Ich hatte einen Fund gemacht, einen tiefen und glücklichen Griff im blinden Umhertappen. Nun schöpfte ich aus meinem Reichtum!

Nun denn! Ich hatte Daniel Goron zehnmal gespielt und in diesen Tagen vergessen zu denken, vergessen, mich zu erinnern. Ich war in vollem Lauf, ich blickte nicht über die Schulter zurück. Aber am Vormittag des elften Tages erhielt ich einen Besuch.

Es wurde mir eine Karte überbracht, die mir nichts sagte: Edmund Worm! Ein Name, der mich nichts anging. Ich hatte noch nicht gefrühstückt, da ich spät zur Ruhe gekommen war. Aber noch nie habe ich einen Besuch abgewiesen, ich, ein Mann, der von Interviewern und anderen Parasiten überlaufen wird wie wenige. Ich gab Auftrag, ihn eintreten zu lassen.

Ich saß vor dem Spiegel, wie ich es häufig tue, und sah mir selbst in die Augen. Ich kam gerade aus dem Bade, war unangekleidet, bis unter die Arme nackt, unfrisiert – kurz, in tiefstem Zivil.

Als ich die Tür gehen hörte, rückte ich den Blick um einen Grad zur Seite und erblickte nun im Spiegel links von meinem eigenen frisch barbierten Gesicht einen Kopf, groß und viereckig, einen stark gekrausten Bart, der ein schamlos nacktes Dreieck des Halses unter dem zu niedrigen Kragen frei ließ, eine rostrote Perücke, um eine abnorme, knotige Stirn gefalzt, eine Nase, stark und gekrümmt wie ein Stahlschnabel, ja, ich sah den ganzen Mann daherkommen, mit den Armen rudernd, gleichzeitig schleichend und hüpfend in seinem Gang, den enormen Körper in einen schwarzen Frack gespannt, wie in die Schabracke eines Leichenwagenpferdes, in der rechten Hand schief erhoben einen wie Schuhwichse glänzenden Zylinder. Ich unterschied bei seinem Näherkommen den Blick unter den buschigen Brauen, die nadelspitzen, zitternden Pupillen, die plumpen, krebsroten Lippen – Daniel Goron! Daniel Goron!

Es war mir, als fiele ich mitten in einer Replik durch die Theaterversenkung. Meine Kiefer schlugen aneinander, das Blut drang mir in die Augen, der Spiegel wurde Nebel. Diese Sekunde war kein Spaß.

Aber im nächsten Augenblick war es vorbei. Ich kam zur Besinnung. Irgendein Schurke hatte sich diese Mystifikation erlaubt! Und in einem gewaltsamen Satz war ich auf den Beinen und stand meinem Gast gegenüber.

Ja, nun sah ich ihn! Daniel Goron – aber gleichsam kleiner geworden, da seine Umrisse nicht mehr im Spiegel zerflossen. Jawohl, es war ein Daniel Goron, aber ein sehr reeller, durchaus kein Phantom, noch weniger ein Dichtwerk wie mein Daniel Goron. Es war ein Mann von Durchschnittstypus, und was mehr war, ein Mann, den ich kannte und nun erkannte.

Haha! Ja, jetzt kannte ich ihn, jetzt hatte ich ihn. Ich schlug mit der Hand flach auf den Tisch und lachte! Jetzt war ich zufrieden – es war mir, als sähe ich den Schlußstein auf meinem Kunstwerk. Meine Leistung war komplett. Und ich sagte sehr ruhig: ›Nehmen Sie Platz!‹

Schwer sank der falsche Daniel Goron auf den Stuhl, den ich ihm anwies, lange saß er da und pustete. Die spitzen Pupillen rollten angestrengt, bis das Weiße der Augen hervortrat. Mir wurde fast übel bei diesem Anblick. Aber ich saß da und schwieg und weidete mich – ich wollte ihm das Wort lassen. Ja! Ja! Wahrhaftig, dies war Daniel Goron, und sein Bart war nicht Werg, seine Perücke nicht Flachs. Sie wuchs dicht und fest aus seiner schwammigen Haut! Es war keine Maske! Nein, es war eine Kopie aus Fleisch und Blut, aus Haut und Gift und Eiter meines Daniel Goron.

Endlich sprach er.

›Mein Name ist Edmund Worm. Ich bin Rechtsanwalt. Ich habe Sie heute aus einem Anlaß aufgesucht – –‹ Er unterbrach sich, seine fahle Hautfarbe verdunkelte sich, ich sah einen Strom von Wut, von Furcht und Galle durch seine fetten Wangen fahren.

Da entschloß ich mich, das Wort zu nehmen.

›Herr Worm,‹ sagte ich, ›wir beide kennen einander. Das heißt: Sie haben mich lange gekannt, da ich ja ein bekanntes Gesicht habe; aber auch ich kenne Sie seit langem, wenn ich auch erst jetzt aufmerksam auf Sie geworden bin. Aber ich habe Sie zwei Jahre lang täglich sozusagen in kleinen Tropfen in mich gesogen. Vor vierzehn Tagen war ich zu Ende mit Ihnen, hatte endlich Ihr vollständiges Porträt fertig (während Sie mein Porträt natürlich längst fertig haben, selbst wenn Sie ein sehr langsamer Geist wären). Aber erst heute, in diesem weihevollen Augenblick weiß ich, woher ich Sie habe, woher ich, Stück um Stück, Atom um Atom, Sie gesammelt und in unbewußter Absicht, in dem Traum, tief in meinem Innern Daniel Goron zu schaffen, zusammengefügt habe, bis ich Sie fertig hatte! Jetzt erst weiß ich mit Sicherheit, daß ich seit zwei Jahren auf meiner Morgenpromenade zwischen neun und zehn Uhr Ihnen täglich begegnet bin, unabweichlich auf demselben Fleck, beim Eingang eines Parkes. Wenn ich hineinging, gingen Sie heraus. Sie waren so präzis wie meine Uhr und wie ich selbst.

Ja, da hören Sie es nun, Herr Worm. Zwei Jahre bin ich jeden Morgen Ihrem geehrten Gesicht begegnet, ich habe Sie gesehen und Sie wieder vergessen, Sie geahnt, ohne es zu wissen; Sie haben einen Bodensatz von sich selbst in mir gebildet, ein Schubfach in meiner Werkstatt hier hinter meiner Stirne mit Stoff versehen – und erst heute bin ich imstande, die Etikette daraufzukleben: Material, geliefert von Herrn Rechtsanwalt E – Elias? – Worm! Ich verstehe Ihr Interesse und Ihren Besuch. Ich will Ihnen zu Diensten sein, indem ich mir Ihren Namen merke – ja, ich will ihn meinen Freunden nennen und empfehlen. Was die Presse betrifft, so müssen Sie allerdings selbst das Ihrige tun; für die habe ich nur einen Fußtritt.‹

Er hatte sich erhoben. Zu meiner Verwunderung schien er mich nicht zu verstehen; sein Zorn war offenbar nicht besänftigt. Er stieß mit der Stirn nach mir hin, und von seinen Zähnen begann es zu spritzen, zuerst Geifer, dann Worte.

›Es ist ein Verbrechen, das Sie an mir begangen haben. Das Gesetz hat einen Paragraph dagegen! Es ist ein Überfall, ein Diebstahl, ein Einbruch in mein Privatleben! Sie haben mich ver–un–ehrt. Sie haben mich besudelt.‹ Und dergleichen Nonsens mehr.

Ich betrachtete ihn erstaunt. Aber wie Sie wissen, bin ich nicht ganz ohne Phantasie. Ich konnte mir also diesen armen Esel recht gut im Theater vorstellen, wie er sich eines Abends von einem Logensitz aus plötzlich verdoppelt sah, jenseits jener Grenze der Rampen, die ja für den großen Haufen stets die Schwelle zu einem geheimnisvollen und seltsamen Lande bedeutet – eine neue Dimension des Lebens.

Es hat ihn zweifellos mit Staunen, mit Unbehagen, ja mit Entsetzen erfüllt, sich selbst in jenem fernen unwirklichen und doch so reellen Jenseits wiederholt zu sehen. Vermutlich ist einer seiner guten Freunde den Abend zuvor im Theater gewesen und hat ihm mit scheinheiliger Miene und einem boshaften Schmunzeln meinen Daniel Goron als eine wirkliche Sehenswürdigkeit, ja, geradezu als Sensation empfohlen. Und ich stelle mir Edmund Worm in einem Zwischenakt vor, wie er, noch nicht viel mehr als ahnungsvoll, im Schmuck seines blutroten Krausbartes und seiner stark gekrümmten Nase und mit diesem eigentümlich tückischen Schritt des Sohlengängers, den Operngucker an einem Riemen um den Hühnerhals gehängt, auf dem Marmorboden des Theaterfoyers einherstelzend – so! – allmählich bemerkt, wie ein Kribbeln von Ameisen, Hunderte fremder Augen, ein Summen tuschelnder Stimmen über ihn hinkriecht. Seht doch, seht! Da ist er! Daniel Goron! Wer? Der richtige Daniel Goron! Sie rufen meinen Namen! Sie stehen logenweise, familienweise beisammen und glotzen verwundert, mit offenem Munde nach ihm hin. Der leibhaftige Daniel Goron! Oder vielmehr Holman, der große Holman! Ist es etwa eine neue Grille von Holman, sich hier im Foyer zu zeigen? Man sieht, sie haben Lust, an den roten Whiskers zu zupfen, um zu sehen, ob sie echt sind. Vom Foyer der Galerie starren sie die Treppe hinab, um besser zu sehen, kichern in den vorderen Reihen, johlen dort oben im Hintertrupp.

Und endlich geht es wohl auch dem langsamen Hirne des Mannes auf, daß er der Brennpunkt all des Interesses ist, dessen Strahlen ihm schon lange in seine Richtung zu zielen schienen. Er ist der Mittelpunkt! Er ist nicht mehr Privatmann, er ist ausgestellt, er ist publiziert! Und vielleicht fällt in eben diesem Moment sein Auge auf eine Person da drinnen in einem Spiegel, die er im ersten Augenblick für Daniel Goron hält, für den Schwindler und Wucherer dort unten auf der Bühne und da – endlich – wird es ihm klar – er begreift, er bäumt sich, taumelt zurück, greift sich an den Bart, starrt seinem Spiegelbild in die aufgerissenen Augen. Und sein Publikum versteht seinen Gestus sofort, es jubelt, applaudiert, folgt ihm mit Händeklatschen und Bravo zur Tür. Die Zeitungsschmierer erzählen wahrscheinlich des Nachmittags von einer lustigen Caprice des unvergleichlichen Holman: sich maskiert im Theaterfoyer zu zeigen, einen Operngucker am Riemen um den Hühnerhals gehängt. Diese Idioten!

Ich betrachtete meinen Gast nicht ohne Mitgefühl. Es muß ja unleugbar ein Schlag sein, sich selbst zu erkennen, wenn auch nur für ein paar Akte lang und in der Traumwelt der Bühne der Illusion zu unterliegen, daß es einen gebe, der so ist, wie man selbst und doch außerhalb des eigenen Selbst – wenn man noch obendrein das Äußere von Edmund Worm und von Daniel Goron hat!

Ich erkannte aber bald, daß mein Mitleid schlecht angebracht sei. Da saß dieser häßliche und unsympathische Mensch vor mir und fing an zu protestieren, sich zu beklagen, ja wie ein Wütender zu toben: er sei kein Monsieur Goron! Er sei ein ehrlicher Mann, ein Bürger der Stadt, der sein Gewerbe redlich und rechtschaffen betreibe. Ich hätte einem gemeinen Schuften, einem Schwindler und Banditen seine Maske umgehängt! Zum Gelächter für seine Freunde, zum Verderben für ihn selbst! Er sei ruiniert, sein Geschäft sei lahmgelegt, sein Renommee besudelt.

Nanu! Nun erhob ich mich aber und sagte ihm ein bißchen meine Meinung. Ich stellte mich vor ihn hin in Daniel Gorons berühmter Positur, zornbebend, eine Hand auf den Rücken gelegt, die andere festgeballt bis auf einen langen, weitausgestreckten, niederträchtigen Zeigefinger. Genau wie er selbst vor mir stand.

›Hoho! Sie nicht Daniel Goron! Sie ein anderer als Daniel Goron! Hätte ich denn Sie erwählt. Sie auserkoren unter Tausenden, die ich täglich ruhig an mir passieren ließ, wenn nicht gerade Sie der Schwindler, der Schurke Daniel Goron wären! Ich lese es aus jedem Ihrer Züge, aus jeder Linie Ihres Gesichtes! Ihr Blick und Ihre Brauen, Ihre Lippen, Ihre Zähne, Ihr ganzes Exterieur sind insgesamt Ausdruck eines Individuums, wie Daniel Goron es ist. Jedes dieser Details ist als Resultat Ihres Wesens entstanden, mit Ihrer Seele haben Sie von dem Tage Ihrer Geburt bis zur heutigen Stunde an sich selbst modelliert. Sie tragen Ihr Klassenzeugnis – Ordnung, Fleiß und sittliches Betragen – sichtbarlich vor aller Augen auf Ihrem Gesicht! Ja! Ja! Ja! Sie sind ein Daniel Goron!

›Mag sein, daß Sie die Taten Daniel Gorons nicht vollführt, daß Sie nicht geschwindelt, nicht gemordet haben wie er! Das besagt nichts. Nicht die Handlungen entscheiden das Wesen, nicht die Beweggründe die Veranlagung. Es hat Ihnen eben an der Gelegenheit, an den treibenden Anlässen gefehlt. Sie sind entweder nicht vor der Notwendigkeit gestanden oder haben keinen Platz oder keine Möglichkeit gehabt, Daniel Gorons Verbrechen zu begehen. Sie hatten in unserem winzigen Lande zu wenig Ellbogenraum. Sie konnten sich nicht rühren wie Daniel Goron. Aber glauben Sie ja nicht, daß Sie darum weniger er sind, daß Sie jemand anderer als er sind, wenn Sie sich auch nur als ganz gewöhnlicher kleiner Rechtsanwalt präsentieren und lange nicht als französischer Börsenkönig! Alle die Keime waren dennoch von Geburt an in Ihnen vorhanden. Sie sind mit Daniel Goron behaftet, wie mit einer Pest!

›Revidieren Sie sich selbst, Mensch, lassen Sie Ihre Handlungen, so dürftig und unbedeutend sie sind, an sich vorüberziehen! Ich schwöre Ihnen: in jeder einzelnen derselben werden Sie Daniel Goron finden!

›Sie drohten mir mit Gewaltmitteln, mit dem Rechtswege, mit Verurteilung, um Ihr Privatleben zurückzugewinnen! Das gerade wäre wohl eine echte Handlungsweise Daniel Gorons: brutal, nichtswürdig und materiell – an Stelle des einzigen Weges, der für Sie erübrigt, nun da wir anderen mit Hilfe meiner Kunst Sie entdeckt haben – des einzigen Weges: Einkehr zu halten, sich selbst ganz und gar zu ergründen – sich selbst als Daniel Goron zu erkennen! Und sodann umzukehren!

›Glauben Sie ja nicht, daß die Kunst zu etwas anderem berufen sei, als zu bessern. Der Pranger ist gnädig, er tötet nicht, er ist bloß ein Spiegel! Sehen Sie sich in den Spiegel, Mann! Gehen Sie, halten Sie mich nicht mehr auf! Gehen Sie heim und betrachten Sie sich selbst: jede Linie Ihres Gesichtes, jedes Haar, das Ihrer Haut entkeimt, ist Daniel Gorons, entstanden aus seinen Instinkten, seiner Moral, seinem Blut und seinen Säften. Sie sind der Mann! Ich sage Ihnen brutal die Wahrheit. Das ist die unbarmherzige Pflicht eines Künstlers. Ich habe Sie zu Ihrem eigenen Besten skalpiert. Ich bin ein ehrlicher Indianer! Ich habe Ihnen die Haut abgezogen, nicht um mit einer Trophäe zu prahlen, sondern um Ihnen Gelegenheit zu geben, die Haut zu wechseln. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen. Und – bei der souveränen Macht meiner Kunst: Sie haben mir nichts zu sagen!‹

Er saß da und sah mich an, seine Augen wurden immer blässer und er schrumpfte zusammen und wurde ganz klein in meinem Fauteuil. Er bewegte wimmernd die Lippen. Aber auch das war überflüssig; ich hatte genug aus seinem Munde gehört. Sein großer Körper bebte, als er ihn langsam nach rückwärts der Tür zu bewegte. Aus seinem Halse drang etwas wie ein Schluchzen: ›Es ist nicht wahr‹, kam es abgerissen, und ›Was soll ich nun? Sie haben mir meinen guten Ruf gestohlen, Sie haben mir mein Gesicht gestohlen! Was bleibt mir noch übrig?‹

Aber ich hatte anderes zu tun, als ihn anzuhören, und ich ließ die Falten der Portiere ihn wie eine Welle aus meinem Zelt spülen.

Na ja! Was bleibt von diesem albernen Menschen noch weiter zu erzählen übrig? Von seinem Leben kenne ich nur den Kern, den ich aus seinen Gesichtszügen lese, wie aus einem Buch. Die Details gehen mich nichts an. Ich sah ihn auch später regelmäßig, bis vor einem halben Jahre. Er saß jeden Abend im Theater, wenn ich Daniel Goron spielte, und ich sah ihn jeden Morgen auf meinem Spaziergang. Wir grüßten nicht, aber unsere Blicke trafen einander.

Ich begegnete ihn schon den nächsten Morgen nach seinem Besuche bei mir. Fast hätte ich ihn nicht erkannt. Er hatte sich den Bart abnehmen lassen, vorerst den Kinnbart. Aber das half nicht viel. Das Gesicht war immer noch dasselbe, und ich lächelte höhnisch. Später fiel der brutal gedrehte Schnurrbart. Das schwächte seine Physiognomie unleugbar, und er schielte mir beifallheischend nach. Aber die Gesichtslinien waren unverändert. Ich entdeckte indessen ein paar neue, die der Bart versteckt hatte: einen sanfteren Zug um den Mund wie von einem geheimen inneren Schmerz, etwas, das zur Schwäche neigte. Einerlei! Ich spielte kurz entschlossen von jenem Tage an den Daniel Goron ohne Bart. Ich rasierte ihn glatt und fügte einen verstohlenen kleinen Schmerzenszug hinzu, einen ganz leise bebenden Herzenston von verunglücktem Menschentum. Aber ich ließ den Mann nicht frei. Ich verfolgte ihn. Ich hielt ihn fest bis zum Grabe. Ich hörte später, er habe sein Geschäft aufgegeben lebte wohl von seinen Renten. Ich paßte ihm auf. Jeden Tag kam er mir vor die Augen, ich sorgte dafür, daß er kam, daß er nicht einen einzigen Tag zu kommen vergaß. Und jeden Abend waren wir im Theater Aug' in Aug'.

Und dennoch schien er mir zu entgleiten. Seine Physiognomie verlor für mich alle Deutlichkeit, ich mußte sie jeden Tag auffrischen. Ich fand neue Züge, neue Seiten, neue Linien heraus. Ich entdeckte, daß er ein eigentümliches Profil habe, ein seltsam trauriges und kopfhängerisches Profil. Er pflegte in weitem Bogen um die Leute herumzugehen. Einmal stand er lange still und betrachtete mit schwermütigem Lächeln ein lächerliches, kleines Hündchen, das er an einer Schnur mit sich führte. Ich merkte mir dies alles. Ich lauerte ihm jede neue Geste ab. Ich begann zu glauben, daß mein Daniel Goron nicht komplett sei, und ich arbeitete um: ich nahm fort und fügte hinzu. Die Zeitungsschmierer begannen Bemerkungen zu machen. Die Gestalt sei nicht mehr dieselbe, sagten sie. Ich sei ganz aus der Rolle gefallen, geschwächt, abgespielt. Andere schrieben, ich sei niemals so genial, so tief menschlich gewesen, wie in der Schilderung dieses desperaten Schurken, dieses sentimentalen Verführers, dieser von Schmerz und Unglück gezeichneten Gestalt.

Ich habe schon erwähnt, daß ich nicht viel Positives über Edmund Worms Privatleben weiß. Es war mir genug, sein Gesicht zu sehen. Aber ich habe gehört, daß er Philantrop geworden ist. Nun, warum nicht? Dann hätte meine Kunst doch denjenigen einen Dienst erwiesen, denen seine milden Spenden zufließen.

Was Daniel Goron betrifft, so spielte ich ihn das 250. und letztemal als einen Mann, der sich in einer Trance befindet. Dessen Seele schon in feierliche Fernen gewandert ist, während der elende krüppelhafte Leib noch sklavisch jenes rohe nichtswürdige Verbrechen ausüben muß, das alles Leben ist!

Ich begegne Edmund Worm nicht mehr auf meinen Spaziergängen. Als ich ihn das letztemal sah, ging er schwer an seinem Stocke. Er war mager und hohl geworden. Als hätte ich ihn ausgehöhlt! Als hätte ich seinem Körper eine schädliche und giftige Substanz entzogen! Er sah mich durch seine Brillen mit müden Augen an. Ich glaube, er lebt ganz einsam.

Nun, sind Sie etwa noch der Meinung, daß ich ihn bemitleiden sollte? Na ja! Sehen Sie mal, da zeichne ich nun ein paar Kohlenstriche unter meine Augen und ein paar andere von den Mundwinkeln abwärts. Sehen Sie! Jetzt sehe ich betrübt aus. Ich habe mich für den letzten Akt vorbereitet. Die Rolle verlangt es ja von mir, daß ich betrübt bin.

Horch, da läutet die Regisseurglocke.

Adieu, ich muß auf die Bühne!«


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