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Malthusia-Land

(Aus einem alten Reisetagebuch)

 

Während einer Reise durch zentralamerikanische Gegenden besuchte ich den wenige Quadratmeilen umfassenden Staat Malthusia.

Ich war in Begleitung meines Führers, eines schweigsamen Mestizen, aus der fürchterlichen Zone der Kordilleren herabgeritten. Von der Paßhöhe aus sah ich zum ersten Male das Land, tief unten ausgebreitet, von Nordwest gegen Südost über das Tal gespannt – eine grüne und sonnenreiche Hochebene, von einem silberblauen Fluß durchschlängelt. Wie ein über den Fluß geklebtes weißes Siegel lag seesternförmig die einzige Stadt des Landes, die ebenfalls Malthusia heißt.

Wir ritten einen schmalen Serpentinenweg hinab, die Augen bald zu den Bergen erhebend, bald ins Tal hinabgewandt. Wie ein ungeheures Seerosenblatt, von Wasseradern durchfurcht, ruhte die Ebene unter uns. Der zackige Kraterrand des Sierra Madre umhegte sie gegen Süd und West mit hohen unüberschreitbaren Grenzen. Gleich grauen erstarrten Lavafluten wälzten die Eichenwälder sich über die Berglehnen hinab. Im Norden aber stand, über weißen Zinnen aufragend, nackt und eisenrot, der mächtige Mont reale, von ewigem Eis gekrönt.

Mein Führer hob, stehenbleibend, die Hand an die Brust und zur Stirne und das Maultier, auf dem ich ritt, stand wie in unabweichlicher Gewohnheit still. An die Felswand dicht neben uns war ein großes, blutrotes Kreuz genagelt und daran ein nacktes, wetterzerbissenes Skelett an Händen und Füßen aufgehängt. Der Bergwind klimperte hohl und trocken auf der Klaviatur der versteinerten Rippen und die Luft pfiff leise durch die leeren Schädelhöhlen. Die ans Kreuz geschlagene rechte Knochenhand wies wie der Pfeil eines Wegweisers hinaus über das Land.

Ich betrachtete erstaunt dies traurige Gerippe, das gleich einem gekreuzigten Erlöser hier hing, wie eine Äolsharfe im Höhenwinde seine wilden, uralten Gesänge murmelnd. Ja, dies war der Tod, den man – so schien es mir damals – ans Kreuz geschlagen hatte an der Grenze eines Landes, das ihm verboten worden, beim Eintritt in dieses paradiesische Tal, dessen wohlriechender Ackerbrodem und Blütenhauch fast bis zu ihm heraufdrang. Er wandte sein hohles Knochenantlitz der blühenden Sternenstadt zu, die da inmitten des Tales ruhte in ihrem Wohlstand und Ordnungsgeist, und diesem ganzen, durch weiße Straßenbänder in gleichförmige Figuren geteilten fruchtbaren Lande.

Eine breite Chaussee führte uns zu dem doppelten Zollgitter, das die Stadt umschließt. Ich gab bei dem niedrigen Stadttor einer dunkel uniformierten Wache meinen Namen an und nannte zugleich den Namen des Mannes, der mich erwartete, meines Korrespondenten im Staate Malthusia, Señor José Paras. Die Wache nickte und hieß mich in einer großen, kahlen Halle nahe dem Stadttor warten.

Bald darauf kam ein großer, starkgebauter Mann auf mich zu. Er blieb einige Schritte vor mir stehen und grüßte lächelnd.

»Ich bin José Paras,« sagte er. »Ich habe Sie erwartet und heiße Sie unter den Bedingungen, die ich Ihnen sogleich bekanntgeben werde, in unserem Lande willkommen.« Er war in weißes Leinen gekleidet, und sein Antlitz barg sich in dem ockerbraunen Schatten des Strohhutes. Darunter hervor trafen seine Augen mich wie zwei unbeweglich auf mich gerichtete, glänzende, stahlblaue Punkte. Die tiefroten Lippen zeigten in ihrem beständigen Lächeln zwei tadellose Zahnreihen, und er sprach mit einem von dem Lehmstaub der Straßen völlig unbeschwerten reinen Brustton, ohne ein einziges Mal zu stocken oder sich zu räuspern.

»Sie haben unseren Gesetzen gemäß,« fuhr er fort, »als Fremder das Recht eines vierundzwanzigstündigen Aufenthalts in unserer Republik, ohne den Gesetzen unterworfen zu sein, denen zu gehorchen unsere Pflicht oder eher – unser Recht ist. In dieser Zeit genießen Sie eine Art Freirecht, wobei wir Sie jedoch als völlig außerhalb des Rahmens unserer Gesetzgebung stehend betrachten. Wie Sie sehen, reichen wir Ihnen die Hand, aber wir halten Sie moralisch in Quarantäne. Gegen andere als moralische Ansteckungsstoffe, die ein Fremder etwa mit sich führen könnte, besitzen wir übrigens sehr wirksame Mittel.«

Während wir durch die Akazienallee dahinschritten, begann mein Begleiter mich über sein Land zu unterrichten.

»Sie sind nach europäischem Urteil offenbar vollkommen fähig, unsere Einrichtungen zu verstehen. Aber eben dieses europäische Urteil bedarf vor allem der Revision und der Korrektur.

»Sie haben in Europa gelernt, daß die Republik Malthusia im Jahre 1846 gegründet wurde, und es ist Ihnen wohl erzählt worden, wir seien eine fanatische und ausschweifende Sekte, die sich von der mormonischen Gemeinde abgesondert habe und ihre eigenen Wege gegangen sei. Dies stimmt auch insoweit, als nach dem furchtbaren Massakre, in welchem die letzten Heiligen aus der Tempelstadt Nauvoo vertrieben wurden und bei dem der große Joseph Smith seinen Tod fand, unsere Männer nicht mit den übrigen nach dem Salzseeland zogen, sondern gen Süden wanderten und hier eine Kolonie gründeten.

»Auf jener entsetzlichen Wanderung, an welcher zwölfhundert erwachsene Männer, aber keine Frauen teilnahmen und bei der Hunderte von Wagen mitgeführt wurden, fand die Hälfte der Ochsen und ein Drittel aller Männer durch Wetterunbill sowie auch im Kampf mit den Indianern ihren Tod. Die achthundert Letzten erreichten dieses Tal. Unser politischer Häuptling war schon damals Vinzent Strong, der noch heute als Ältester unseres Senats lebt.

»Schon bei dem ersten Spatenstich in diese Erde berechnete unser mächtiger Führer, daß dieses Tal zehntausend Menschen ernähren könne. Und jetzt leben hier zehntausend, nicht mehr, nicht weniger – mit Ausnahme des heutigen Tages, an dem Sie unser Gast sind.

»Es waren ausschließlich Männer, die unser Gemeinwesen gründeten, und dieses besteht noch heute einzig und allein kraft einer männlichen und mannhaften Lebensanschauung. Wir ließen der Fortpflanzung des Geschlechtes wegen Frauen hierher kommen. Unsere Agenten suchten aus den Kontingenten der alten Länder die vorzüglichst geeigneten aus. Und wir nahmen männliche Kolonisten auf, bis unsere Zahl voll war, und dann keine mehr. Gegen Übervölkerung hat unsere Vernunft Gesetze gebildet.

»Man kennt auch in Europa die Lehre des großen Malthus. Aber in den alten Ländern wird eine Lehre nie zum Grundgesetz erhoben. Man gestattet dort dem Leben, Wellen zu bilden, und läßt eine blinde Willkür entscheiden, wer ertrinken soll. Darum wurde Europa so oft von Eunuchen, Epileptikern und Weibern regiert. Hier haben wir die ganze Sache in unsere eigene Hand genommen. Wir selbst haben die Auswahl der Besten besorgt. Wir betrachten die Dinge von oben. Wir haben das Leben uns untergeordnet und nicht uns dem Leben. Wir haben kraft unserer Vernunft die bestmögliche Welt für die Bestmöglichen geschaffen – nicht für alle, da wir die Unmöglichen, ja auch die Mindermöglichen nicht anerkennen.

»Darum werden Sie unter unseren Zehntausend nicht einen finden, der unglücklich, ja nicht einen, der nicht vollkommen glücklich wäre. Sie werden keine Seelen- oder Körperkrüppel entdecken. Wir anerkennen keine Schwächlinge, keine Träumer, keine Entarteten. Für Gefängnisse und Spitäler haben wir keine Verwendung. Gegen das Unglück haben wir vernichtende Mittel geschaffen.

»Sie werden schon jetzt unser Tal bevölkert finden von einer mächtigen Rasse, einer Elite-Nation, die die Weltgeschichte in ihrem Schoße trägt. Nur für zehntausend ist hier Platz. Aber jenseits unserer Berge ist Platz für Zehntausende neuer Kolonien, für Töchter unserer Kultur: die anderen Länder werden gezwungen sein, sich unserer Lehre und unserem Gesetz zu fügen. Denn unser Gesetz ist das einzige Prinzip des wahren Lebens: die reine Vernunft.«

Señor Paras schwieg. Sein Gesicht bewahrte dabei jenes Lächeln, jenen stillstehenden Ausdruck des Glücks und des Gleichgewichts, der alle Mienen in Malthusia-Land prägte. Seine Augen aber bewachten die meinen.

Wir wandelten noch immer durch die blühende Allee, wo dunkle Purpurpompons in den schwarzen Laubkronen glühten. Rechts und links lagen die Felder, hinter ihnen die bräunlichen Schachbretter der Weinberge. Hier und da standen zu beiden Seiten der Straße weiße isolierte Kalkhäuser.

Ein Bretterwagen, von drei Maultieren mit klingenden Schellen gezogen, kam langsam die Straße daher. Eine junge Malthusierin lenkte das Fuhrwerk. Sie stand auf dem Wagen, bloß angetan mit Hemd und Rock, ganz ruhig, die Zügel in den geschlossenen Fingern haltend. Auf ihrem erhobenen Antlitz, auf den olivenfarbigen Armen und den nackten Füßen flirrten die zipfligen dunkelblauen Schatten der Akazienblätter. Es war als bebe der ganze starke Mädchenkörper in dem weißen Linnen in diesem tanzenden Schattenspiel. Ihre Augen aber glitten unbewegt an uns vorüber und folgten uns nicht. Zwischen den starken Zähnen hielt sie einen grünen Halm, der ganz leise wippte. Auch sie lächelte ruhig, aber ohne jeden äußeren Impuls – bloß aus ihren gesunden Organen und dem ungestörten Rhythmus ihres jungen Körpers heraus.

Und andere kamen an uns vorüber. Tannenwüchsige junge Mädchen, die den Maisfeldern zuwanderten, Geräte über den starken Schultern. Männer, die Draisinen führten, welche an Drahtleitungen über die Seitenwege der Äcker bugsiert wurden. Über uns funkelte der Morgen. Die letzten Schatten der Berge verzogen sich. Ein Hauch von Licht und Hitze ging über das Tal. Von den Bergen herab kam der letzte gletscherkalte Windstoß. Und Scharen von Kindern kamen uns auf den Straßen entgegen, von uniformierten jungen Männern geführt. Sie gingen in Abteilungen, und jedes trug eine Nummer auf der Schulter.

Auf Kommando lösten die Kolonnen sich auf und verteilten sich in geordneten Spielgruppen über die Wiesen. Es waren Übungen und Kampfspiele, die große Anforderungen an Kraft und Widerstandsvermögen stellten, aber das Spiel ging ohne Wildheit und ohne Übermut vor sich. Knaben und Mädchen waren gleich gekleidet in lose Blusen, die bis an die Knie herabfielen und deren Gürtel sie dem Alter nach sonderten: die gelben Gürtel kennzeichneten die Zehnjährigen, die blauen die Zwölfjährigen, die blutroten das Grenzalter der Vierzehnjährigen.

José Paras wandte sich rasch nach mir um.

»Nicht wahr?« sagte er. »Unsere Rasse ist schön und stark, vollkommen wie der Augenblick selbst.« Seine Wangen erhielten Glut, seine Augen strahlten von Lächeln. »Jawohl!« fuhr er fort. »Nichts ist uns mehr unmöglich. Wir haben das Problem des Lebens gelöst. Wir haben alle Glücksschleusen geöffnet, aber ihren Ausfluß begrenzt. Wir haben die Quellen der Fruchtbarkeit in weiser Verteilung durch unser Land geleitet. Blicken Sie um sich. Wir haben einem Fremden nichts zu verbergen. Überall begegnet Ihnen Kraft und Heiterkeit. Ein ruhiges Wachstum, ein ewig fruchtbarer Sommer trägt und erhält unser Land. Sehen Sie unsere jungen Männer, wie leicht und geschmeidig sie ihre schweren Geräte tragen: sie gehen nicht den holpernden Sklaventritt des Erdarbeiters, sie sind frei und sie sind gesund. Sehen Sie unsere Mädchen, wie sie ohne Ängstlichkeit hinter ihnen über die Felder schreiten, sammelnd, ährenlesend. Und sehen Sie da draußen unsere Kinder, unsere Innocentes. Ist es nicht wie eine lebende Pflanzschule, in der Jahrgang mit Jahrgang an Geschmeidigkeit, Kraft und Frische wetteifert? Bei uns werden Sie keine Kinderspitäler zu sehen bekommen. Skrophulose und Rhachitis sind hier gesetzlich verboten.«

Er stand still. Mit gesenkten Brauen, aber mit demselben unveränderten Lächeln um die Lippen sah er den spielenden Kindern nach. Und sein Blick wurde fern, seine Haltung erschlaffte. In diesem Augenblick glitt der Schatten eines Mannes über ihn hin. Mein Begleiter sah ihn und stand augenblicklich stumm, bewegungslos, mit zu Boden gesenktem Blick.

Es war ein dunkelgekleideter alter Mann, der rasch an uns vorbeischritt. Das gelbe Antlitz war energisch und verschlossen, der Blick vor sich hingewandt, einem Ziele zu, das er verfolgte. In der Hand trug er einen blaulackierten Stab. Lautlos und ernsthaft, gravitätisch wie ein großer dunkler Vogel zog er an uns vorüber die weiße Landstraße dahin.

Wir gingen schweigend weiter, zuerst über eine Brücke, dann einen Weg, der an der Böschung des Hamisflusses entlangführte. Schaumlos hastete der Fluß da unten vorbei, seine silberblauen Polster zwischen die grünen Uferabhänge pressend, der Stadt zu, wo gegossene Zementdämme ihn einengten. Denn da oben lag schon die weiße Stadt und spannte ihre Brücken über die Verzweigungen des Flusses, wölbte Bogen an Bogen, reihte Insel an Insel – weiße viereckige Fassaden, flache Ziegeldächer und dazwischen die schwarzen Baumkronen der Gärten – ein neues Venedig. Und mitten über ihrem scharfgeschnittenen Profil erhob sich wie ein majestätischer Bienenkorb ein mächtiges Gebäude, halb schwarz, halb weiß, wie die Radnabe dieser sternstrahlenförmigen Stadt.

Wir durchschritten eine Vorstadt von lärmenden Werkstätten. Wir warfen einen Blick in das Innere von Schmieden, in denen das Feuer der Essen atemlos hastig blaffte. Rasche Dampfpulsstöße fuhren aus schlanken Fabrikschornsteinen. Ein seltsam eiliges Tempo beherrschte alle Tätigkeit. – Ich sah eine Schicht Arbeiter ein Weinfaß bergauf nach einem großen Lagerhaus rollen. Sie stemmten Hände und Schultern mit ungestümer Kraft gegen das schwere Faß, sie überboten einander in Zurufen und Aufmunterungen, und ihre Gesichter waren von energischem Eifer verzerrt. Plötzlich stand einer von ihnen still und ließ die Arme hängen; er hatte mich erblickt, ein Gesicht, das er noch nicht gesehen hatte. Die anderen wandten sich um wie er. Sie erkannten mich als Fremden. Aber im nächsten Augenblick umschlossen ihre Hände wieder die Dauben des Weinfasses, und sie stimmten einen lauten Aufgesang an, während sie das polternde Faß über das Pflaster pufften.

Dichter und dichter umschloß uns die Stadt mit ihren schlanken, regelmäßigen Gebäuden, deren Mauern zu den flüsternden Kanälen abfielen. Ich begann den Typus der uns passierenden arbeitenden Männer festzustellen. Eine schulterbreite, hochbrüstige Rasse mit großen indianischen Zügen und haftenden Blicken. Überall dieselben knochigen Gesichter mit demselben Ausdruck einer gehobenen Stimmung, auf allen Lippen dasselbe unbewegte Lächeln, das die tadellosen, starken Vorderzähne entblößte. Viele waren bis zum Gürtel nackt, und der kohlschwarze starke Haarwuchs zeichnete ein Kreuz auf ihr Brustbein.

José Paras' Augen bewachten die meinen und hielten meine Fragen zurück, und ich ließ die Dinge für sich reden.

Die Hauptstraße öffnete sich zu einem großen ovalen Platz. Dort erhob sich ein Monument: eine Pyramide aus weißen Steinen. Ich las auf jedem der drei dreieckigen Flächen ein Wort und setzte sie in willkürlicher Ordnung zusammen: VITA LEX NOSTRA.

»Hier«, begann José Paras wieder, »haben wir ein Symbol jeder Idee errichtet, die unser Gemeinwesen festhält. Diese Pyramide ist der zugespitzte Gedanke unserer Lehre. Wie die Steine dieses Baues ruhen auch wir aufeinander, alle gleich unentbehrlich für unsere Einheit; nicht ein einziger kann hinzugefügt, nicht ein einziger fortgenommen werden. Und zuoberst werden wir abgeschlossen von dem letzten, dem herrschenden Stein, der die Form der Pyramide selbst hat und in dem die regierende Idee ausgedrückt ist. Und hier lesen Sie die drei Worte, die einzig und allein Geltung in unserem Lande besitzen: das Leben ist unser Gesetz: Aber kommen Sie jetzt. Sie sind unser Gast, und wir haben die Mittel, Sie gastfreundlich aufzunehmen. Hier ist mein Haus. Meine Frau erwartet uns.«

Der Staat Malthusia ist kommunistisch verwaltet, und ich erhielt später Einblick in die kooperativen Einrichtungen, die das Land leiten. Ich lernte die Ordnung, die Gesetzmäßigkeit, das fehlerlose System bewundern, durch welches die tausend ineinandergreifenden Tätigkeiten gelenkt und die für den täglichen Verbrauch und für die Abgabe an den Reservefond bemessenen Mengen von Werten erzeugt wurden. Ja, dies war die Pyramide! Nicht ein Stein war zu wenig, nicht einer war überflüssig. Jeder stützte den anderen, jeder half das gemeinsame Ganze tragen. Aber bei alledem begriff ich, daß all dies nur die äußeren Kreise waren, die Schanzwerke, eine äußere Befestigung, die ich erst durchschreiten mußte, um zu dem Kern zu gelangen, zu dem letzten zentralen Prinzip, das diesen Staat im Gleichgewicht hielt und das zu umfassen und zu verstehen ich bestrebt war.

In José Paras Hause traf ich das Weib, das ihm durch den Beschluß des Rates zugesprochen worden war. Sie hieß Felicia Paras und war kreolischen Blutes. Aber es war nichts von Kreolenträgheit in ihr, nichts von jenem Schaukelstuhlduseln, das ich sonst überall in den zentralamerikanischen Ländern bei den Frauen ihrer Rasse angetroffen hatte, die unbeweglich, die Hände fromm auf dem Schoß gefaltet, hinter geschlossenen Persiennes in Zigarettenrauch und schwülem Halbdunkel ihre Tage verdämmern.

Sie war groß wie ihr Mann, geschmeidig und doch langsam in den Bewegungen. Ihre Kleidung war einfarbig und ohne Putz. Nur das Haar trug sie auf indianische Art geschmückt, in zwei langen mit Perlen eingeflochtenen pechschwarzen Zöpfen über die starke Brust herabhängend.

Paras führte mich zu ihr hin in den Hofplatz des Hauses, wo sie inmitten einer Schar arbeitender Frauen stand. Sie folgte uns in eine der fast kahlen Stuben, deren Fußböden aus roten Ziegeln bestanden. Mit einem Lächeln um die vollen, leidenschaftlichen Lippen, aber mit völlig ruhigem Blick betrachtete sie mich, aufmerksam, jedoch ohne Neugierde. Paras, der fortwährend das Wort geführt hatte, sprach jetzt heftig argumentierend auf mich ein, immer neue Seiten der Staatsordnung erklärend, wobei er es jedoch, wie mir schien, mit Absicht vermied, sich dem bewegenden Mittelpunkt, der das statische Moment der Republik bildet, direkt zu nähern. Hie und da fing ich einen raschen verstohlenen Blick auf, den seine Gattin auf ihn heftete.

Ehe sie uns verließ, reichte sie mir die Hand. »Sie sind hier fremd,« sagte sie. »Es ist selten, daß wir Fremde hier sehen. Der Weg zu uns ist beschwerlich. Und die, die kommen, reisen bald wieder. Auch Sie werden uns bald verlassen.« Sie sah mir forschend in die Augen, und ich fühlte ihre Hand fest und zögernd in der meinen ruhen.

Wir speisten in einer sehr großen Feldhütte, zwanzig Männer und ebensoviele Frauen, die zurzeit vom Staate diesen Männern zugeteilt waren. Ich betrachtete nicht ohne Wohlgefallen diese Tischrunde vollkommen gebauter Menschen, deren Rasse in jedem einzelnen Antlitz so fest und einheitlich ausgeprägt war. Alle hatten dieselben eckigen starken Kiefer, dieselben klaren kühlen Augen, die ohne Seitenblicke das Werk der Hände überwachten. Jeder trug sich selbst aus großen an der Breitseite des Saales aufgestellten Behältern die Speisen herbei.

Paras beugte sich über die Tischplatte zu mir vor.

»Nicht wahr, wir unterscheiden uns in vielen Dingen nicht von Ihrem Europa?« sagte er. »Wir haben hier bloß die Konsequenz der Linien gezogen, die Perspektive in ihrem Brennpunkt gesammelt, alle Strahlen in einem Hohlspiegel, einem konzentrierten Bilde vereinigt, das Sie mit Ihren europäischen Augen vielleicht verzerrt nennen werden.«

Und es war mir wirklich, als sähe ich in diesem Augenblick ein Zucken über alle Gesichter gehen, eine Verzerrung, wie sie durch die Beule in einem Spiegelglas erzeugt wird; und plötzlich entdeckte ich den Punkt, von dem sie ausging. Unweit von mir saß einer jener alten Männer, deren einen ich vorhin unseren Weg kreuzen gesehen, in lautloser Hast wie ein Aasvogel, den blauen Stab in der Hand. Und in demselben Augenblick erschien eine Perspektive vor mir, die nicht flach wie der Augenblick, sondern in tiefe Dimensionen der Vergangenheit und Zukunft eingebaut war.

Als wir uns kurz darauf erhoben, kam jener alte Mann auf mich zu, lächelte mir in die Augen und berührte mit seiner langen, weißen Hand meine Brust.

»Ich habe einen Auftrag an Sie,« sagte er. »Der Präsident unserer Republik hat von Ihrer Ankunft gehört. Er heißt Sie willkommen und wünscht Sie zu sehen.«

Ich folgte ihm stumm durch die stillen Straßen, dem breiten Schlagschatten folgend, den die weitausladenden, von dünnen Rippen getragenen Hausdächer warfen. Wir überquerten viele Brücken und schlugen zuletzt einen Richtweg ein, der durch einen ausgetrockneten Kanal führte. Hohl und geisterhaft drang der Widerhall des lärmenden Treibens, das fernrollende Arbeitsgetöse der emsig schaffenden Stadt zu uns hinab.

Durch eine Reihe von Gärten, deren dunkle Gewächse hinter weißen Steinrahmen nach Schulen und Jahrgängen geordnet waren, gelangten wir endlich zum Präsidentenhause, einem einstöckigen, weißen Gebäude mit zahlreichen Höfen, in die die freistehenden Mauerpfeiler offenen Eintritt gewährten. Obwohl niemand außer uns hier zu sehen war, stand es doch jedermann frei, hier aus- und einzugehen. Hier herrschte die Politik der offenen Tür. Der Mann, der alle repräsentiert, alles in aller Namen besitzt und als einziger unter allen nichts sein Eigen nennt, er muß allen zugänglich und ohne Privatleben sein.

In einem der vorderen Höfe erblickten wir ihn. Schon von weitem sah ich seine weißgekleidete Gestalt im Schatten eines Sonnensegels sitzen, einen großen Arbeitstisch vor sich, an seiner Seite einen jener furchtgebietenden alten Männer. Ein jüngerer Mann, der ihn soeben verlassen hatte, war auf dem Wege nach einer Loggia, wo vier andere eifrig zu arbeiten schienen. So wenig kompliziert ist die Regierungsmaschinerie in diesem Staate, so einfach in ihrem fortschreitenden und ordnenden Prinzip wie ein Perpetuum mobile.

In seiner Deckstellung im kalten Schlagschatten des Sonnensegels erschien Vinzent Strong mir in diesem Augenblick bloß als ein gründlich und bewußt arbeitender Mann, ein ruhiger Berechner, ein Generalstabsoffizier, der in seinem Zelt die kleinen Fähnchen über die Karte rückt. Er stand auf, blickte mich durch die kaltblinkenden Zwickergläser an und lächelte höflich, indem er die dünnen Lippen unter dem starken weißen Knebelbart etwas verzog. Trotz seines hohen Alters war er aufrecht und breitschultrig wie ein junger Mann, und die ein wenig kurzen Reiterbeine trugen den schweren Torso in der strammen weißen Jacke straff und ohne Mühe.

»Nun,« sagte er, »was halten Sie von unserer Republik?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Wollen Sie mich auf meinem Gang begleiten? Jede Minute meines Tages ist besetzt. Der Dreimännerausschuß des Senats tagt gegenwärtig. Die fünf Minuten, die der Weg mir nimmt, darf ich dem Gastrecht opfern. Kommen Sie, wir kürzen den Weg ab.«

Ich durchschritt an seiner Seite die schwarzen Kirchhofgärten von Agaven und Palmen. Die straffen Blätterbüschel streiften unsere Schultern, als wir den schmalen Steig passierten. Und Vinzent Strong fuhr mit seiner festen geschulten Stimme fort:

»Ja, was ist unsere Republik mehr oder minder als die vervollkommnete Idee des Staates! Wir greifen da entschlossen zu, wo Europa noch unsicher tastet. Wir haben das bestmögliche Material gebildet, ein festes, hartes und gleichartiges Material. Für das weiche schmiegsame Prinzip haben wir keine Verwendung. Auch keine Lust, unseren Gesellschaftsbau durch willkürliche Unkrautschößlinge, wurzellose Zierpflanzen und schmarotzende Pilze zerfressen zu lassen. Euere europäischen Juristen und Arzte befinden sich ja auch schon auf dieser Fährte, aber sie beschwert noch euere altmodische, theologische Empfindsamkeit. Auch ihr scheidet euere schädlichen Substanzen aus, aber ihr seid noch nicht so weit, euch durch resolute Mittel von ihnen zu befreien. Ihr ergreift bloß euere Vorsichtsmaßregeln. Ihr gewährt den Schmarotzern eine Freistatt innerhalb reservierter Territorien. Ihr richtet Strafkolonien, Monstreasyle und kostspielige Spitäler ein. Ihr erlaubt den Ungeeigneten und Unsozialen, auf indirektem Wege am Staatskörper weiterzuschmarotzen, indem ihr euere Bürger besteuert, um den Dieben Gefängnisse, den Untauglichen Asyle und den Kranken Spitäler zu schaffen. Ihr gestattet den Leidenden, die Gesunden anzustecken, indem ihr die letzteren durch Mitleid – mitleiden laßt. Ihr arbeitet mit sentimentalen und nicht mit mathematischen Gründen. Auch in Europa weiß man es schon, daß die orthopädische Methode unbrauchbar ist. Euer Leitungssystem leitet nicht recht. Aus nichts läßt sich nichts schaffen. Ihr könnt höchstens das Vorhandene verteilen, indem ihr den Gesunden und Starken nehmt und hierdurch auch sie schwächt. Ihr erreicht nur, das Leiden über eine größere Fläche auszudehnen. Ihr vermeidet es wehleidig, es mit glühendem Eisen bis auf den Grund auszubrennen. Ihr laßt die Fruchtbaren Zinsen zahlen auch an die Unfruchtbaren, und vor allem seht ihr die Über- oder Entvölkerung sich unablässig wie ein grausiges Gespenst außerhalb aller Grenzen euerer Kontrolle erheben. Was helfen euere Statistiken, euere Tabellen und euere Register, solange ihr euch scheut zu dem reinlichen Prinzip des Messers zu greifen!«

Wir waren auf einem offenen Platz angelangt, auf einem Markt, wo der Obstverkauf des Jahres an langen bunten Zeltreihen vor sich ging. Als wir uns näherten – ich an der Seite des Präsidenten, Señor Paras und drei der Ältesten hinter uns – kamen die Verkäufer aus ihren Zelten hervor, um mich zu betrachten. Eine weiße gewölbte Brücke führte über den Kanal nach der Insel, auf der das Ratsgebäude lag. Und da sah ich nun das kolossale Viereck dicht vor mir, halb schwarz, halb weiß wie die Kaaba in Mekka, mit einem Dach in Form einer treppenförmigen Pyramide. Steil und mächtig erhoben sich die lotrechten Wände wie die Mauern eines furchtbaren Gefängnisses, einer befestigten Bastille. Der Fluß lief in einer geschlossenen Wölbung quer durch das Fundament. Funkelnd grün, in scharfen Bruchflächen wie zersplittertes Glas, unter dem Druck seines Gebirgsgefälles, rauschte er, von Norden kommend, unter dem Hause dahin, kam aber unter der Südmauer wieder hervor wie aus einem schwarzen Kloakentor, matt und kraftlos, dunkel wie geronnenes Blut.

Wir schritten zwischen einer langen Doppelreihe von Menschen dahin, die uns ohne Zurufe grüßten und blieben vor einer kleinen schwarzen Bronzetüre am Fuße des mächtigen, fensterlosen, verschlossenen Gebäudes stehen.

»Weiter können Sie mir nicht folgen,« sagte Vinzent Strong. »Vor dieser Türe hält alle Öffentlichkeit inne; und wir zeigen einem Gaste nicht mehr, als unsere eigenen Bürger sehen dürfen. Diese Schwelle überschreiten nur, die unserer Gesellschaft nicht mehr angehören – und diejenigen, die darüber bestimmen und wachen, daß der Staat keinen Schaden nehme. Diese Tür ist also nur für die Unsicheren, Zweifelnden und Verzweifelnden bestimmt – und für die vollkommen Sicheren und vollkommen Wissenden. Darum sage ich Ihnen hier Lebewohl.«

Er reichte mir seine starke, nur wenig gefurchte Hand. Ich betrachtete die kleine viereckige Tür, und ihre hohlen schmalen rotgemalten Rahmen schienen mir die Form der Guillotine oder des Galgens zu haben. Ein greller Sonnenglanz, der hinter dem Flügel des Gebäudes hervorbrach, beleuchtete des Präsidenten Antlitz. Es sprang vor, glühend wie eine Maske aus Gold. Ich bemerkte die langen gelben Tigerzähne unter dem straffen Bartkamm, die grausamen kleinen Augen von der Farbe des Achats, flammend von Genialität und Tollheit. Eine heimliche Angst packte mich. Ich meinte einen jener alten mexikanischen Blutgötter vor mir zu sehen, goldgepanzert und getigert, die mörderische Gottheit der männlichen Form. Und hinter ihm den gewaltigen Teocalli, sonnenglühend an den Zinnen, blutschwarz um das Fundament, den rauchenden Opferstein einer feindlichen barbarischen Staatsform, in dieser Gegend ausgestellt, wo eine urferne aztekische Kultur die mitleidslosen Kommunen, die kurzsichtigen und brutalen Brudergemeinden unerbittlich beherrscht hatte.

Noch einmal wandte der Präsident seinen kalten Blick mir zu. »Nun denn! Erzählen Sie Ihren Landsleuten, was Sie hier gefunden haben. Heißen Sie sie uns erwarten! Eine Nation von Athleten, ein Bund von starken Männern, von Römern, die um des Staates willen willig ihre linke Hand dem Feuer opfern, eine Rasse, die vor einem Messerstich kein Augenblinzeln kennt, die nie nachgab, nie aufs Knie sank, nie zweifelte!«

Bei diesen letzten Worten glitt sein Blick an mir vorbei und suchte unter denen, die uns umgaben, José Paras. Und ich sah meinen Begleiter erblassen. Eine fahle Leichenfarbe quoll unter der sonnverbrannten Haut hervor wie unter einer Schminke. Es war, als sei er bisher maskiert gewesen und nun schäle sich die Maske von ihm und entblöße verzehrte, todkranke Züge. Auch die beiden Männer, die die blauen Stäbe trugen, betrachteten ihn und ihre Blicke tauschten ein Signal. Und zum letzten Male hob Präsident Strong die Hand zu einem flüchtigen Gruße und ging. Die enge Bronzetür öffnete und schloß sich lautlos.

Es war gegen Abend. Meinen Wirt hatte ich viele Stunden nicht gesehen. Des Morgens war er an seine Arbeit gegangen, auffallend aufgeräumt, seinen Eifer nur allzusehr zur Schau tragend. Ich selbst war von einer Wanderung durch die rastlose Stadt heimgekehrt, deren Arbeitstempo mir nun noch erhöht schien. Ich beobachtete, wie die Beschäftigten sich an Raschheit überboten, Kraft und Behendigkeit selbst da entwickelten, wo es nicht vonnöten war. Sogar diejenigen, die das vorgeschriebene Tagewerk beendet hatten, ließen nicht ab, durch künstlich eifrige Gebärden vor den schon gefüllten Magazinen eine fortgesetzte Emsigkeit zur Schau zu tragen.

Ich befand mich allein in einem der spartanisch nackten Steinräume, als Felicia Paras bei mir eintrat. Sie blieb bei der Tür stehen, zögernd, die Hände an die starken Lenden gepreßt. Ihre Stimme schien mir verändert, als sie zu sprechen begann, tiefer in der Tonlage, ungleichmäßig und stockend, aber ihre Miene verriet keine Unruhe.

»Señor,« sagte sie, »Sie sind fremd hier. Sie werden verstehen, was niemand hier versteht. Sie sind nicht an unsere Gesetze gebunden – Sie stehen außerhalb unseres Gehorsamkeitszwanges. Darum sind Sie der einzige, an den ich mich wenden kann. Ich brauche nicht Ihren Rat, sondern Ihre Hilfe.« Ich sagte ihr einige freundliche Worte und reichte ihr die Hand als Zeichen meiner Einwilligung. Sie ergriff sie rasch und führte sie gegen meinen Willen nach Art der Indianerinnen an die Lippen. »Señor,« flüsterte sie, »Sie reisen heute abend – nehmen Sie uns mit, – mich und ihn, meinen Mann. Meines Mannes Leben ist verwirkt, wenn er über Nacht hier bleibt. Sie waren ja dabei. Sie müssen es gesehen haben, was heute geschehen ist, wie er, der über alles hier bestimmt, meinen Mann durch einen Blick bezeichnete. Nicht wahr, es war Ihnen genug, ihn ein einziges Mal zu sehen, den Schrecken, das tödliche Grauen zu empfinden, das von ihm ausgeht, der sich Erhalter des Lebens nennt – weil er wohlweislich diejenigen verbirgt, die er tötet.«

»Hören Sie mich nun!« Sie preßte meine Finger zwischen den ihren, und eine heftige Bewegung durchzitterte ihre Stimme, als sie weitersprach.

»Wir hatten ein Kind, mein Mann und ich – einen Knaben. Uns Frauen hier ist es zur Pflicht gemacht, Mütter zu werden, und unsere Männer wählt der Staat für uns. Man fragt uns wohl nach unserer Neigung. Man verlangt von uns, daß wir den Mann lieben, der uns gegeben wird. Dies veranlaßt so manche zu heucheln. Ich aber liebte meinen Mann, von unsrer ersten Begegnung an, und er liebte mich, und dies machte uns scheu und zurückhaltend voreinander und vor denen, die uns beobachteten. Die Form unseres Zusammenlebens war nicht jene laut bekennende, die in diesem glücklichen Staate gefordert wird. Man behielt uns darum beständig im Auge, verdächtigte uns, betrachtete uns unverläßlich, hinterhältig und gefährlich.

Ich gebar mein Kind wie alle Mütter hier – unter Bewachung. Es hegt eine geschlossene Brücke von dem Hause, in dem die Entbindungen stattfinden, über den Kanal nach dem großen Gebäude, das Sie heute gesehen haben. Und alte ruhige Männer kamen an mein Lager und betrachteten mit ihren kalten Augen meinen kleinen Knaben, den man mir in den ersten Augenblicken in den Armen zu halten gestattete. Und sie sagten:

›Der Knabe ist schwach, aber wir geben ihm Frist. Pflege ihn wohl ein Jahr lang.‹

Sie gewährten mir diese Frist außerhalb aller Gesetze und aus Gründen, die niemand hatte vorhersehen können. Etwas Wunderliches war geschehen: die Geburtsziffer war unter die Norm gesunken. Ein Menschenalter hindurch war der Nachwuchs genau reguliert gewesen. Nur die Erwählten, die Auserkorenen verpflanzten das Geschlecht. Die Ungeeigneten wurden beizeiten ausgeschieden und dahin gesandt, wo es ihre Bestimmung war zu enden. Dennoch verringerte sich die Bevölkerung, und die Kinder kamen schwach zur Welt. Niemand begriff es. Es war, als sauge der allzu intensive Bodenbau die Fruchtbarkeit aus dem Erdreich. Die entsetzliche Drohung, die über allem Ungeborenen und Zarten hing, lähmte und schwächte. Und die Statistik zeigte keinen berechenbaren Ausweg. So blieb denn nichts übrig, als Schonung zu gewähren und Fristen zu geben.

Neun Jahre behielten wir unser Kind, meinen geliebten, süßen, kleinen Jungen, insoweit wir hier etwas für uns selbst behalten dürfen. Die alten Männer aber, die uns aufsuchten und mein Kind besichtigten, lächelten mit ihren klugen Ärztemienen und gaben immer kürzere Fristen.

Er war klein und schmächtig, spät lernte er gehen, und als er sprechen gelernt, fand er selten Grund zu sprechen.

Er war so still, mein kleiner Knabe, und seine Wege waren uns verborgen. Keinem von uns galten seine Gedanken. Einsam und stumm lebte er, wie Kinder hier leben: unter beständiger Bewachung, unter dem Zwang unserer Methoden, unter der fürchterlichen Forderung, die auch von ihnen das Äußerste an Körperkraft heischt, sie in einen rasenden Wettstreit treibt, um zu denen zu gehören, die am Leben bleiben dürfen.

Ich las in seinem klugen schmalen Gesicht, wie bald er verstand, was es galt. Aber niemals klagte, niemals fragte er. Ich sah ihn in der rückwärtigsten Reihe der jagenden Knabenkolonnen, mit seinen zarten Gliedern vergebens sich mühend, den anstrengenden Übungen zu folgen, sah sein strenges Gesichtchen mit dem vor sich hinstarrenden Blick, den fest zusammengebissenen Lippen. Und ich sah diejenigen, die anführten und Urteile fällten, Blicke wechseln und die Achseln zucken.

Wenn aber die Schule gebot zu ruhen, dann ruhte er nicht. Dann saß er fern von den anderen, daß Kinn auf die Hände gestützt und den Blick den Bergen zugewandt, die unseren Augen Grenzen setzen. Und erst dann lebten seine Augen. Ich weiß, daß er in einer Welt weilte, die anders beschaffen war als die unsere, tiefer, lichtvoller und milder. Merkte er aber, daß man ihn beobachtete, dann kehrte sein Blick zurück und wurde wach, argwöhnisch, furchtbar gegenwärtig.

Ich ließ ihn in Frieden. Ich wagte es nicht, meine Gedanken mit den seinen zu verbinden. Er war ein kleiner Fremdling, ein Gast aus fernen und milderen Strichen, der in unser hartes Land gekommen war, in ein Land, wo man den Daseinskampf in ein geordnetes Raubmordsystem gezwängt hatte. Ja, er war mein Träumerkind, aus meinem Herzen gelöst, als es noch Sehnsucht kannte, der letzte verschwebende Traum von dem Lande, das wir verlassen hatten.

Mein Knabe, mein einziger Knabe! Gezeugt war er in Furcht, geboren in Weltgerichtsschrecken. Darum waren seine Hände so zart, seine Augen so frühreif, so traurig. In ihm war eine Seele hierher zurückgekehrt, die sich suchend und verwundert weitertastete zwischen unseren scharfen, unüberwindlichen Grenzen.

Wir wachten über ihm, mein Mann und ich, wir betrogen die, die nach ihm fragten; selbst eines vor dem anderen schwiegen wir, aus Furcht, durch gegenseitige Aussprache ihn den übrigen zu verraten. Wir mühten uns ihm zu verbergen, was ihn umgab, wir hüteten die Traumwelt, in die er tiefer und tiefer versank. Er sollte für sich selbst leben, in seinen fernen unwirklichen Regionen frei wie kein anderer hierzulande. Und wir träumten, ihn eines Tages als einen Befreier zu uns zurückkehren zu sehen, um uns die neuen Gesetze zu geben.

Als unser Knabe sein neuntes Jahr erreicht hatte, nahmen sie ihn uns. Wir erwarteten ihn eines Tages, aber er kam nicht heim. –

Ich will nicht mehr von ihm sprechen. Er ist befreit! Seine einsame Wanderung zwischen uns soll vergessen, er selbst soll vergessen und begraben sein. Was mit denen geschieht, die durch jene kleine Tür des schwarzweißen Hauses geführt werden, darf unser Gedanke nicht verfolgen. Genug davon!

Aber nun gilt es meines Mannes Leben! Er ist verraten, verdächtigt, verkauft. Wir sind von Angebern umringt, wir leben in einem Netz von Aufpassern und Sykophanten, jeder unserer Nachbarn kann der gedungene Spion des Rates sein.

Als das geschehen war, was ich Ihnen erzählte, begann ich meinen Mann zu beobachten. Tag um Tag sah ich ihn sich verändern. Sein Antlitz war ruhig, sein Lächeln das frühere, aber seine Augen verrieten ihn nicht nur mir, sondern auch den anderen. Er beobachtete mich, wie ich ihn. Er suchte sich zu decken, trug seine Maske auch mir gegenüber. Aber ich sah, wie es mit ihm stand. Er war ein Zweifelnder, ein Verzweifelnder geworden und darum mußte er sinken. Er glaubte nicht mehr an unser Staatssystem, unsere Gesetze, unser Recht, ja nicht einmal an sich selbst und an mich. Seine Augen wurden zuweilen fern wie die unseres Kindes – einsame Wanderer, die Dinge träumten, welche nicht sind und nicht sein dürfen.

Die hier oben wissen es und sie dulden nicht, daß in diesem Lande gezweifelt werde. Sein Tod ist beschlossen. Hören Sie mich an! Sie müssen mich ja verstehen können – Sie, ein Fremdling und ein freier Mann!«

Ihre Augen bohrten sich in die meinen und die Flechten ringelten sich wie Schlangen an dem weißen, nun wild verzerrten Antlitz hinab.

»Wir müssen fort von hier – noch heute!« fuhr sie rasch mit heiserer Stimme fort. »Sie haben einen Führer und Pferde, Sie müssen uns mitnehmen über die Berge! Versprechen Sie es mir! Suchen Sie meinen Mann auf, sprechen Sie mit ihm. Ich habe keinen Weg mehr zu ihm. Er verschließt sich vor mir. Er grübelt. Er steht still vor jener kleinen verschlossenen Tür, durch die er seinen Knaben verschwinden sah. Er sieht keinen anderen Weg vor sich – und er sehnt sich danach, daß diese Tür sich auch ihm öffnen möge, er will wissen, was sie verbirgt – eine krankhafte Begierde verzehrt ihn zu wissen, zu verstehen – das Verborgene – das Allerversteckteste. Dies Starren nach unseren Gesetzen hat ihn versteinert, er sieht nur das System. Ihn sieht er nicht, den Meuchelmörder, der sich hinter die Gesetze duckt wie ein maskierter Straßenräuber.

Ich aber sehe ihn, der mein Kind mordete, es in seiner geheimen Höhle mit seinen Gorillahänden erdrosselte. Ja, ich kenne ihn. Er ist bluttrunken, toll von mörderischer Wollust. Ich habe einen nach den anderen verschwinden gesehen, alle die, die er fürchtete, die tiefer dachten als er selbst. Sein Inneres ist eine Grube der Furcht, der feigen stinkenden Angst vor den Schrecken des Untergangs. Darum mordet er blutdürstig und verzweifelt, wie ein gereiztes Tier um sich beißt.

Hören Sie mich. Eben ist der Rat um ihn versammelt. Ich fürchte ihn nicht, ich will vor ihn hintreten, Aug' in Auge. Er soll mich hören. Er muß uns freies Geleite geben. Wir sind nicht mehr die Seinen. Wir sagen uns los.

Sie treffen meinen Mann bei der Arbeit unter den anderen. Sagen Sie ihm, was ich Ihnen gesagt und wohin ich jetzt gehe. Nein, halten Sie mich nicht auf. Diesen Weg gehe ich am besten allein. Aber Sie werden meinen Mann retten, nicht wahr? Sie werden ihn überreden, mit Ihnen zu gehen – Sie werden ihn zwingen! Vor dem Rathause erwarte ich Sie. Dort sehen wir uns – oder – wenn wir uns nicht sehen sollten – dann nehmen Sie meinen Mann allein mit. Verteidigen Sie ihn, wenn Sie angehalten werden. Sie haben ja Waffen. Hier sind alle furchtsam von Geburt auf, feige hinter ihren verschanzten Mienen. Vor einem einzigen Mutigen ergreifen sie die Flucht.

Folgen Sie mir nicht. Leben Sie wohl, wenn wir einander nicht mehr sehen sollten. All mein Vertrauen setze ich auf Sie!«

Ich neigte das Haupt und ließ sie dahin gehen, wohin zu gehen sie beschlossen hatte. Dann weckte ich meinen schläfrigen Mestizen und befahl ihm Pferde herbeizuschaffen, die rascher waren als die Maultiere, auf denen wir hergeritten waren.

José Paras traf ich bei einer Abteilung Straßenarbeiter, deren Führung ihm oblag. Ich sagte ihm rasch, was zu sagen nötig war, und er ging ohne Widerstand mit mir. Vor seinem Hause fanden wir die gesattelten Pferde. Zögernd setzte er den Fuß in den Steigbügel, und sein Blick verließ mich nicht. Und plötzlich sah ich, wie er begriff. Abgebrochen, rasch kamen seine Fragen, die keine Antwort erforderten.

»Wann verließ sie Sie? Was hat sie vor? Kommen Sie, – wir müssen fort, ehe – ehe – –«

Auf unseren frischen Pferden galoppierten wir dahin. In rasendem Ritt ging es die öde Allee entlang, durch die langen Straßen, wo die Fußgänger sich an die Hausmauern drückten und uns mit erschreckten lauernden Augen anstarrten. Wir passierten die mächtige Pyramide, deren Dreifläche die vieldeutigen Gesetzesworte trug, und ich sah meinen Begleiter an den Zügeln reißen. Seine Kiefer öffneten sich, ein erbitterter Ausruf entfuhr ihnen. Endlich gelangten wir auf den Marktplatz, wo wir uns Schritt für Schritt einen Weg durch das Gewimmel bahnen mußten, das dichtgedrängt den Raum zwischen den Verkaufszelten füllte. Paras hieb mit der Reitpeitsche um sich, unsere Tiere bäumten sich, und wütende Schreie erschollen rings umher. Wir brachen ja den Marktfrieden! – Ich riß meine Waffe aus dem Gürtel und richtete sie auf die, die sich uns entgegenwarfen.

Hoch über niedrigen gelben Häusern erhob das mächtige Ratsgebäude seine Kuppel. Ich sah sein Spiegelbild im Kanal, schwarz und weiß wie matte Streifen von Pech und Kalk. Und über den Köpfen der Männer sahen wir im Schatten der gewaltigen Hausfassade ganz nahe der kleinen Tür ein Weib warten mit verhülltem Antlitz, die rechte Hand unter der Mantille an die Brust gedrückt.

José Paras schrie auf und schwenkte die Arme. »Rasch! Vorwärts! Sie ist dort!« Und er rief ihren Namen und zwängte sein Pferd gewaltsam durch die dichten Haufen erbitterter Krämer, die uns den Weg über die Brücke versperrten.

In diesem Augenblick öffnete sich die kleine Bronzetür in der Front des Gebäudes. Und wie eine geschwärzte Mumie in ihrem bunten Sarkophag sahen wir in der Türeinfassung den Präsidenten stehen. Er trat hervor und drei alte Männer folgten ihm. Die brandrote Abendsonne beleuchtete sie, wie sie auf der Piazza standen, die Augen mit der Hand beschattend, und übergoß ihre Gestalten mit Blut; sie tauschten Bemerkungen – und einer streckte die Hand aus und wies auf uns.

Gleichzeitig löste Felicia Paras sich aus dem Schatten, schritt hinaus in das flammende Licht und hob die Hände wie eine, die um eine Gunst fleht. Der Präsident drehte sich langsam nach ihr um, und als sie vortrat, kam sie zwischen uns und ihn zu stehen, so daß ihre nun hochaufgerichtete Gestalt mit den ausgestreckten Armen ihn uns verbarg.

Mein Begleiter stöhnte, rührte sich aber nicht, saß wie erstarrt, zwischen den Fingern den Kolben der über seinen Sattelknopf gelegten langen Reiterpistole.

Wir sahen Felicia sich vorneigen und bemerkten eine blitzschnelle Bewegung ihrer rechten Hand. Dann sprang sie beiseite und verschwand im Schatten des Hauses. Und wieder wurde Vinzent Strong sichtbar. Er hielt beide Hände an die linke Seite gepreßt, wankte einige Schritte zurück und sank zu Boden. Seine Begleiter beugten sich über ihn, aber plötzlich sahen wir sie zurückfahren, aneinanderprallen und hierauf, ihre Rockschöße sammelnd, in einem drollig hüpfenden Greisentrab die Piazza hinablaufen.

Ich folgte Paras, der weitergeritten war. Er war vom Pferde gestiegen und hielt Felicias Schultern umfaßt. Sie lehnte sich schwer an ihn, stumm, mit verschlossenem, wie versiegeltem Antlitz.

Vinzent Strong lag auf dem Rücken, halb in der Sonne, halb im Schatten, das Haupt gegen die Steine geschleudert. In seiner linken Seite steckte, bis zum Stichblatt eingebohrt, ein spanischer Dolch, und das vergoldete Heft ragte steil unter der Armhöhle hervor wie ein Heber, der langsam das unter den Kleidern hervorquellende schwarze Blut trank. Ich betrachtete noch einmal dies fürchterliche Antlitz mit der gefurchten Raubtierstirne und dem mitten in einem Biß erstarrten Hyänenrachen, und ein eisiger Schauer durchfuhr mich. Ich riß mich los.

Paras aber hielt sein Weib noch dicht an sich gepreßt; stöhnend, halb wie Lachen, halb wie Klage, kam es in gebrochenen Worten aus seiner Kehle: »Felicia! Geliebte! Was hast du getan! Geliebte, was hast du getan!« Sein Blick wandte sich mir zu, er suchte zu verstehen.

»Fort!« rief ich. »Rasch fort!« Ich schwang mich aufs Pferd. Er hob Felicia in den Sattel. »Geliebte, was hast du getan!« Er zögerte, er mußte an der Leiche vorüberreiten, um weiterzukommen.

Um den Gefallenen stand schon ein Kreis von Männern, die sich vorsichtig und neugierig zu ihm hinabbeugten. Einer von ihnen tastete nach dem Dolchgriff, während die anderen zusahen, stumm, mit erloschenen, idiotischen Mienen, plötzlich riß er den Dolch aus der Wunde, eine Blutsäule folgte, und rasch, Stoß um Stoß, jagte er aufs neue dem Toten die Klinge in den Leib, in Brust, Hals und Lenden. Und wie auf ein Signal stürzten die anderen sich über die Leiche, schlugen sie mit Fäusten, traten sie mit Absätzen. Von der Piazza kam in dichtem Gewimmel, noch vorsichtig und abwartend, eine neue Schar. In den Haustüren zeigten sich Männer, die Büchsen trugen, und ich sah einen von ihnen niederknieen und auf den letzten der fliehenden alten Männer zielen.

»Kommt!« rief ich. »Fort!« Die Gesetze waren gebrochen, alle Rahmen gesprengt! Das Chaos war da! Ich sah José Paras das Gesicht der kleinen Bronzetür zuwenden, die jetzt offenstand, und sah ein krankhaft begehrliches Zucken seine Züge verzerren. Ich ergriff den Zügel seines Pferdes und wir sprengten durch die lärmenden Straßen.

Hinter uns aber erscholl das erbitterte Geheul der Massen, die wie eine entfesselte Sturmflut auf das offenstehende Ratsgebäude losstürzten. Sie drängten sich durch die kleine Türe, sie tobten vor Begierde zu wissen, sie riefen die Namen ihrer Toten, sie heulten ihre alten, lange aufgespeicherten Klagen! Jawohl! Das Meer stieg. Die Dämme waren gesprengt, und die schäumende Flut ergoß sich über das geordnete Land. Ich sah den Widerschein des Grauens auf dem Antlitz meines Begleiters, während wir uns einen Weg durch die Menge bahnten. Ja, er begriff es wie ich: das männliche Prinzip war gebrochen. Eines Weibes Hand hatte das große Uhrwerk zum Stehen gebracht.

Die Welt stand in Brand, die blinden Gesetze der Willkürlichkeit herrschten!

Wir ritten den Serpentinenweg hinan, der zur Paßhöhe führt. Hinter uns schlug der brandrote Rauch der Anarchie empor. Wie ein blutiger Feuerstoß, in schweflige Dämpfe gehüllt, brannte die Stadt tief unter uns.

Wir hörten das ferne Heulen des tobenden Pöbels, der die Lösung des Mysteriums nicht gefunden hatte, der nichts gefunden hatte im Hause des Todes als – das Schweigen des Todes.

Und wir beugten stumm das Haupt, als wir den gekreuzigten Toten passierten, dessen Knochenfinger hinauswiesen auf das flammende Tal des Lebens.


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