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Stine Steiffinger und ein wenig Musik

Ein wilder, wahnwitziger, gellender Schrei und die Tür ging auf; totenbleich stand der Graf auf der Schwelle, er hob die Pistole und ... Fortsetzung folgt. Nicht wahr, mit dieser kleinen Erfindung hat der selige Louis de Moulin Tausenden von Lesern ein Leben mit reichem Inhalt geschaffen, und die Blicke Tausender auf die Zukunft gelenkt, die den Menschenkindern so leer und freudlos vorkommt!

Wir wollen dasselbe tun und nach Braendholt zurückkehren, wo Thomas eben von dem Stuhl aufsteht, auf dem er gesessen hat, und die eintretende Stine Steiffinger, die an der gleichen Stelle erwähnt ist, begrüßt.

Stine Steiffinger!

Ein kleines, verhutzeltes Mütterchen, in graue Baumwolle eingehüllt, mit einem geblümten Tuch um ein paar graue Haarsträhne. Gichtkrumme Arme, mit Fingern, die Schwarzwurzeln glichen, triefende rote Augen und eine Nase, die sich über einen zahnlosen Mund mit blauen schmalen Lippen herabsenkte, schiefe Kopfhaltung und krummer Rücken, und eingehüllt in eine Wolke von undefinierbarem Erdgeruch. Diese merkwürdige malerische Gestalt knickste und nickte, und wenn sie den Mund öffnete, so ging ein unartikuliertes Schnarren und Knarren daraus hervor, das nur unvollkommen an menschliche Rede erinnerte und nur im Zusammenhang mit einem Mienenspiel zu verstehen war, das über wenig Nüancen verfügte und nur durch standhafte Wiederholung wirkte.

Das war Stine Steiffinger. »– n'Tag, Thomas,« schnarrte sie.

Thomas lächelte. »Guten Tag, Postillon d'amour.«

»Wie beliebt?« schnarrte Stine weiter.

»Postillon d'amour!« wiederholte Thomas. »Geradeso habe ich ihn mir immer vorgestellt. Bitte genießen Sie der wohlverdienten Ruhe!«

Und mit einer raschen Taschenspielerbewegung praktizierte Thomas einen Stuhl unter das Mütterchen, das sich auf einem Bruchteil des Sitzes, gerade auf der Ecke über dem vorderen rechten Stuhlbein, niederließ.

»Jetzt haben wir beide miteinander zu tun,« sagte Thomas und setzte sich zurecht.

»Wie beliebt?« tönte es wieder.

»Sind Sie taub?« rief Thomas fortissimo.

»Ganz gut ist es nicht mit dem Gehör,« schnarrte Stine und begleitete ihr Schnarren mit einer ganzen Reihe von Naturlauten unbestimmter Art.

Thomas ging gerade aufs Ziel los.

»Bekommen Sie Briefe von einem jungen Mann und legen sie in den Sekretär dort? Und nehmen Sie Briefe an den jungen Mann aus demselben Sekretär und bringen sie zum Waldhüter hinaus?«

Stine legte den Kopf auf die Seite: »Jesses, nein!«

»Das ist eine Lüge,« rief Thomas grimmig.

Das Mütterchen sank in sich zusammen und wackelte hilflos mit dem Kopf.

»Monny hat es mir erzählt,« fuhr Thomas fort.

Stine sah ihn ergeben an: »Dann ist es wahr, denn Monny lügt nie.«

»Aber Sie tun es,« donnerte Thomas mit strenger Amtsmiene.

Stine wand sich auf ihrem Sitz. Eine kleine unschädliche Lüge dann und wann, wenn es sich so trifft, davon kann man sich ja nicht ganz freisprechen.

»Wollen Sie nun so gut sein und die Wahrheit sagen,« sagte Thomas streng.

Stine blickte schalkhaft zu ihm empor: »Was geben Sie?«

»Was sagen Sie?« echote Thomas.

Stine fuhr unverzagt fort: »Ich sage, was geben Sie? Sie wollen doch nicht, daß ich gratis die Wahrheit sage, wenn Monny mich dafür bezahlt hat zu lügen.«

Diese Beweisführung überwältigte Thomas durch ihre Klugheit, und Stine bekam 2 Kronen zur Aufmunterung und Anerkennung.

Sie spuckte auf das Geldstück und packte es sorgfältig in ein rotgeblümtes Taschentuch ein.

Thomas setzte das Verhör fort.

»Gibt es einen Menschen außer Monny und dem jungen Mann, der um diese unregelmäßige Postverbindung weiß?«

»Wie beliebt?« schnarrte Stine.

Thomas erhob die Stimme.

»Weiß irgend jemand anders von den Briefen?«

»Soviel ich weiß, nicht,« erwiderte Stine.

»Gar niemand?« fuhr Thomas fort. »Und ist Stine auch ganz sicher, daß kein Mensch gesehen oder überhaupt bemerkt hat, daß Stine kam und ging und die Briefe holte.«

»Naeh« – sagte Stine – »nur einmal einer von den kleinen Stiften.«

»Stiften?« fragte Thomas.

»Ja, Tyr, der älteste; er kam eines Morgens und war naseweis, aber da sagte ich zu ihm, das wäre etwas, was ihn nichts anginge.«

»Also Tyr,« hob Thomas noch einmal hervor, »und sonst niemand?«

»Naeh, Gott steh mir bei!« beteuerte Stine.

Thomas schüttelte nachdenklich den Kopf. Stine zu verdächtigen, sich das Geld unrechtmäßig angeeignet zu haben, lag kaum ein Grund vor. Das alte Frauenzimmer wäre nie im Leben darauf verfallen, eine Summe wegzunehmen, die bei ihren Gewohnheiten und ihrer Lebensführung für sie ein Vanderbiltsches Vermögen bedeuten mußte.

»Sie können gehen, Stine,« sagte Thomas und stand auf. »Aber daß Sie mäuschenstill sind über die ganze Geschichte, verstanden!«

Stine nickte verständnisvoll.

»Jesses, ja, dafür hat mich Monny bezahlt.«

Thomas ging an den Sekretär und zog das Fach auf.

»Sagen Sie mir, Stine, haben Sie nie bemerkt, daß in dem Boden des Faches, das Sie als Briefkasten benutzt haben, ein breiter Spalt ist?«

Stine schüttelte den Kopf.

»Mit den Augen ist es noch schlechter als mit den Ohren.«

Thomas betrachtete die Alte, die dastand und trippelte wie eine Henne, die Eier legen will. Es konnte sein, daß sie voller Schlauheit und Hinterlist steckte, aber ihre Sinne standen nicht auf gleicher Höhe mit ihrer Niedertracht, und als Verdachtsobjekt war sie ganz ungeeignet.

»Stine kann gehen,« sagte er und entließ die Zeugin.

Und Stine trottete ab.

Thomas stand am Sekretär und ging die Resultate durch, die er im Lauf des Tages durch Gespräche mit verschiedenen Personen und sonstige Untersuchungen erreicht hatte. Seine Gedanken machten bei Tyr halt. Stine Steiffinger hatte bezeugt, daß Tyr sie einmal überrascht hatte. Es war also denkbar, daß der Junge heimlich in das Fach geguckt hatte und dabei auf das Geld, das so schlecht verwahrt war, aufmerksam geworden war. Daß Tyr es genommen hätte, war undenkbar; was sollte ein Junge mit 2500 Kronen? – außerdem muß man bei seinen Verwandten, namentlich den Minderjährigen, ein gewisses Mindestmaß von Ehrlichkeit voraussetzen. – Aber schon der Umstand, daß das Fach für mehrere Menschen ein Gegenstand der Aufmerksamkeit und Neugier geworden war, barg die Möglichkeit, daß man auf indirektem Wege den Kreis derer erweitern konnte, die das Versteck gekannt hatten.

Die unmittelbare Folge des Verhörs über Stine war also, daß Thomas sich vornahm, Tyr zu verhören, was, soweit er das Bürschchen kannte, am besten ohne jede Feierlichkeit in Form einer kameradschaftlichen Unterhaltung geschah. Aber gleichzeitig fiel Thomas ein, daß es doch vielleicht gut wäre, wenn er sich an den Herd der Ereignisse begäbe, und darin wurde er noch bestärkt, als Polizeidiener Hansen sich einfand und erklärte, es wäre ihm unmöglich, Willumsens habhaft zu werden; er müßte sich, wie er meinte, in der gleichen Absicht wie Klemmesen und Niels entfernt haben. Hansen bemerkte auch, daß man Fräulein Monny mit ungewöhnlicher Eile hätte nach dem Walde eilen sehen, und alles dies bestimmte Thomas, begleitet von Tyr, den er auf dem Hofe einfing, eine Wanderung nach dem Waldhüterhause anzutreten, das also mehr und mehr zum Brennpunkt der Erzählung wird.

Wir wenden uns nun zu den zwei Personen, die scheinbar ganz aus dem Gang der Ereignisse herausgeglitten sind.

Gutsbesitzer Busgaard und Kreisrichter Heiden waren die besten Freunde geworden. Der Gutsbesitzer hatte dem Kreisrichter seine Schätze in Scheune und Stall gezeigt, und hinterher hatten sie einen Spaziergang durch den Wald gemacht. Ganz natürlich war die Rede auf Musik gekommen und es zeigte sich, daß beide leidenschaftliche Bewunderer des göttlichen Haydn waren, der soviel Sonnenschein über das Dasein ältrer Herren verbreitet hat.

Es mag sehr hübsch sein über Musik zu reden, aber es ist ungleich besser, welche zu machen, und als die beiden Herren von ihrem Spaziergang heimgekehrt waren und rasch ein wenig Toilette gemacht hatten, beschlossen sie, sich der Musik zu ergeben. Aber da der Kreisrichter Violine spielte und Busgaard Violoncell, so fehlte die Klavierstimme, die normalerweise Willumsen übernehmen sollte. Der Ingenieur war nirgends zu finden, obgleich Busgaard im ganzen Hause herumfuhr und das ganze Gesinde in Bewegung setzte, ihn zu suchen.

Bei dieser Gelegenheit stieß er auf Thomas, der oben auf seinem Zimmer gewesen war, um für die Arbeit außerhalb des Hauses eine passende Fußbekleidung anzulegen.

»Suchst Du nach Deinen 2500 Kronen, Onkel?« fragte Thomas mit liebenswürdig neckendem Lächeln.

»Ich suche Willumsen,« lautete die gereizte Antwort.

»Glaubst Du, er hat sie genommen?« fragte Thomas mild.

»Scher Dich zum Teufel,« brüllte der Gutsbesitzer. »Der Kreisrichter und ich wollen Haydn spielen und da brauchen wir Willumsen.«

»Aha,« sagte Thomas. »Ich habe nie gehört, daß man sein Geld vermittelst Musik wiederkriegt. Aber es ist vielleicht eine neue Methode. Ich werde sehen, daß ich Willumsen finde; ich glaube beinahe, ich weiß wo er ist.« –

»Ja, tu Du das,« brummte der Gutsbesitzer, »so tust Du wenigstens etwas Nützliches.«

Thomas protestierte. »Ich habe nichts andres getan als den ganzen Nachmittag in Deinem Weinberge gearbeitet, und ich will Dir sagen, Deine Chancen haben sich bedeutend verbessert.«

»Ist es Klemmesen?« knurrte Busgaard.

»Nein, das glaube ich nicht,« antwortete Thomas, »aber er steht noch unter Verdacht. Übrigens bin ich so glücklich fünf Verdächtige zu haben.«

»Fünf« – Busgaard starrte ihn erstaunt an. »Wo sind die fünf?«

Thomas lächelte. »Ich bringe es nicht übers Herz, Dein Gemüt in Erregung zu versetzen, mein lieber Onkel. Ich will Dich also mit den fünf Verdächtigen verschonen und hoffe heute Abend Dir den einen Schuldigen vorstellen zu können.«

»Prahlerei,« höhnte Busgaard.

Der Kreisrichter steckte den Kopf zur Wohnzimmertür hinein.

»Sieh da! Der Herr Assessor,« sagte er mit lächelnder Miene.

»Wir arbeiten,« sagte Thomas munter. »Jeder auf seine Weise, und so tragen wir Holz zu dem gemeinsamen Holzstoß zusammen. Die Herren sollen sich nicht von ihrer Musik abhalten lassen. Fangen Sie nur an, auch das ist eine Hilfe.«

»Willumsen fehlt,« bemerkte der Kreisrichter.

»Sie sollen ihn bekommen,« erwiderte Thomas. »Nur Geduld.«

Tine zeigte sich in der Tür zur Leutestube.

»Tine,« rief Busgaard, »Du mußt kommen und die Klavierpartie übernehmen.«

Tine protestierte: »Ich bin mitten in der Bereitung des Mittagessens.«

»Das kann Deine Mutter machen,« sagte Busgaard bestimmt. »Du kommst jetzt herein und spielst die Klavierpartie; auf all das Gewäsch will ich, hol mich der Teufel, ein bißchen ordentliche Musik haben.«

Thomas lachte sardonisch.

Die beiden Herren verschwanden im Wohnzimmer.

»Tine,« sagte Thomas sanft. »Geh hinein zu ihnen und spiele Haydn. Aber spiele so, daß Dein Vater aus seiner rauhen Haut fährt. Ich will Dir nämlich anvertrauen, daß ich im Sinne habe heute um deine Hand anzuhalten, und darum ist es nicht gut, wenn Du in Deines Vaters Augen zu großen Wert besitzt. Verstehst Du!«

Und mit einem Kuß auf die Lippen der Geliebten verließ der Kriminalassessor das Haus, um dorthin zu gehen, wo die Gedanken des Lesers schon längst weilen.

Tyr ging also mit.


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