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Monnys Geständnis

Assessor Thomas Klem ist als ein tüchtiger Untersuchungsrichter eingeführt worden, ja er ist sogar der Mann mit dem sechsten Sinn genannt worden. Wir sind auf 128 Seiten seinen Bewegungen gefolgt, wir haben ihn mit verschiedenen Leuten reden hören, wir haben einem Verhör beigewohnt, das nichts anderes ans Tageslicht brachte als einen Verdacht, den wir nicht teilten, und den der verständige Untersuchungsrichter wieder hat fallen lassen.

Denn wir können doch nicht glauben, daß Assessor Klem immer noch Klemmesen im Verdacht hat! Ja, wissen können wir es allerdings auch nicht. Wir haben erfahren, daß der Assessor sein Vertrauen nicht verschwendet, und weil er zu Tine und Klemmesen selber gesagt hat, er wollte keinen Verdacht auf den Verwalter werfen, und sich ebenso bestimmt über diese Frage Polizeidiener Hansen gegenüber ausgesprochen hat, so braucht er deshalb doch seinen Verdacht nicht aufgegeben zu haben.

Wen hat der Leser im Verdacht?

Klemmesen nicht – Klemmesen absolut nicht. Und warum eigentlich? – Gegen Klemmesen spricht der Fund des Manschettenknopfes und der Umstand, daß er das Versteck des Geldes kannte, und Geld auf die Bank getragen hat.

Aber Klemmesen macht einen anständigen Eindruck. Arthur Franck wußte auch, wo das Geld aufbewahrt war. Er hat unvorsichtigerweise ausgesprochen, daß er es stehlen und damit mit Monny flüchten wolle.

Gewiß, er ist nicht mit Monny geflüchtet, aber es ist möglich, daß sie nicht gewollt hat. Was die beiden miteinander gesprochen haben, haben wir ja nicht erfahren. Und die Manschettenknöpfe können auf eine außerordentlich vernünftige und logische Weise mit Arthur Franck in Verbindung gebracht werden.

Wir wissen, daß der junge Mensch am gleichen Tag wie Klemmesen, am Donnerstag vor dem Diebstahl, mit demselben Markeur in der Harmonie Billard gespielt hat. Wie leicht kann er eine Manschette vertauscht haben und zwar mit derselben, die Klemmesen zurückgelassen haben muß, als er seine Manschette mit der des Markeurs vertauschte.

Arthur Franck kann also sehr wohl den fatalen Ausstellungsknopf an sich getragen haben, als er – wie wir also jetzt annehmen – den Einbruch auf Braendholt verübte und das Geld nahm.

Aber hat er es genommen?

Wir haben die Wahl zwischen ihm und Klemmesen – aber gibt es keinen andern – oder richtiger gesagt keinen Dritten?

Willumsen?

Ja, er wußte doch nicht, daß das Geld im Sekretär lag. Jedenfalls haben wir nichts davon gehört. Es ist nur ein kleiner Punkt, der gegen Willumsen spricht, und den kennen wir so gut wie der Assessor. Er bekommt Briefe von einem Wucherer. Das kann bedeuten, daß er in Geldverlegenheit ist. Aber es gibt nicht den geringsten Fingerzeig, wie er erfahren haben sollte, daß Geld in dem Fach lag, so daß er imstande war, es zu stehlen.

Und wie hätte er seine Manschetten vertauschen können. Wir wissen nichts davon, daß er in der Harmonie war, und es wäre doch komisch, wenn der unglückliche Aarhusausstellungsknopf in dem Grade auf dem Billard in der Harmonie herumgetanzt wäre.

Wir sind so klug wie zuvor.

Aber seien wir gerecht! Assessor Klem weiß noch weniger wie wir, und wir können deshalb anständigerweise nicht mit ihm ins Gericht gehen.

Das Publikum ist geneigt zu verlangen, daß der Richter absolut alles wissen soll, und Richter sind doch auch nur Menschen!

Thomas Klem hat, laßt uns ehrlich gegen ihn sein, alle drei im Verdacht, Klemmesen, den Unbekannten (also Arthur Franck) und Willumsen; aber es fehlt ihm eine feste Grundlage, und das ist eben seine große Tugend als Untersuchungsrichter, daß er nicht effektiv eingreift, so lange er nicht festen Grund unter den Füßen hat.

Er darf Willumsen nicht auf den Unbekannten loslassen, um Willumsen nicht aus der Hand zu verlieren; er darf nicht alle Kraft daransetzen Klemmesens Verhältnisse aufzuklären, um nicht die Verantwortung auf sich zu laden. Er sitzt mit andern Worten wie eine Spinne in ihrem Netz und wartet auf die Fliege und den Zufall, auf den der Kluge so gut warten muß wie der Dummkopf, nur daß der Kluge ihn benutzt, während der Dummkopf ihn unbenutzt läßt.

Und dazu kommt noch etwas sehr Wichtiges. Thomas ist kein Fremder in dem Haus, worin die Untersuchung vor sich geht. Er ist ein Verwandter, will Schwiegersohn werden und wird Schwiegersohn so sicher wie das Amen in der Kirche. Es handelt sich für ihn darum, dem Hause Kummer und Demütigung zu ersparen; er ist ganz sicher, daß seine dahinzielenden Bestrebungen eine Stütze am Kreisrichter Heiden finden, und last not least gilt es für ihn, die ganze Untersuchung dazu zu benutzen, Busgaard gegenüberzutreten und zu sagen: »Hier bin ich – ich gehe nur, wenn Tine mir folgt!« Daß er dies erreichen kann, bezweifelt wohl niemand, aber um es zu erreichen, muß er alle seine Kräfte anspannen.

Und jetzt sollte also Monny ins Verhör.

Monny war die merkwürdigste von der ganzen Familie Busgaard. Sie war ein ausgesprochener Charakter. Was sie wollte, das wollte sie. Wäre sie in einem Hinterhaus geboren worden und in der Gosse aufgewachsen, mit Schlafpausen in einer finstern Klasse der Freischule, so würde Monny es mit Sicherheit erreicht haben, in die Stammrolle der professionellen Hehlerinnen und Diebesbräute eingetragen zu werden. Darüber gibt es keinen Zweifel, ja es ist sicher, daß sie bereits im Alter von 14 Jahren die Geliebte irgend eines Lümmels gewesen wäre, getreten und gestoßen von allen Seiten würde sie mit verbissenem Trotz wiedergetreten haben.

Hätte das Geschick, der blinde Zufall, ihr einen guten Mann in den Weg geführt, und hätte sie sich ihm angeschlossen, treu wie sie war, so könnte sich aus diesem wilden trotzigen Hinterhausmädchen ein Weib entwickelt haben, das eine Zierde der Gesellschaft gewesen wäre, eine vortreffliche Mutter, eine aufopfernde Gattin, wie es in den Todesanzeigen in den Zeitungen heißt.

Monny war treu im Guten wie im Bösen. Sie war keine Hinterhausdirne, sondern die Tochter eines reichen Gutsbesitzers, aufgewachsen in guten Verhältnissen unter der Hut und Leitung einer klugen und milden Mutter – aber der Schalk saß ihr im Nacken. Und der saß fest.

Busgaard war ein Haustyrann, und Monny war hart. Als Kind bekam sie Prügel; ihre Mutter schüttelte den Kopf, sie war keine Freundin von Prügeln; aber Busgaard glaubte daran. Seine Frau hielt es für die klügere Politik, die Exekution geschehen zu lassen, um nachher die Augen der Gestraften zu trocknen und milde Worte zu ihr zu sprechen.

Das war wohl nicht ganz richtig, denn Monny hatte nicht das Gefühl, daß ihre Mutter ihre ganz richtige Freundin war, daher wurde sie auch nicht ihre Vertraute.

Frau Busgaard, die selber so offen und einfach war, verstand das kleine Mädchen mit den trotzigen Augen und dem wirren lockigen Haar nicht so recht. Frau Busgaard, deren Hand immer offen und ausgestreckt war, begriff die kleinen geballten Fäuste nicht.

Und doch konnte ein freundliches Wort Monnys Zorn und Trotz schmelzen und Eingang in ihr innerstes Herz finden.

Mit ihren Geschwistern lag sie fortdauernd in bitterm Kampf. Tines sanfte Anmut war für sie eine persönliche Beleidigung, eine nie beigelegte Herausforderung. Monny war eine einsame Natur, aber sie mußte ihre Einsamkeit mit einem Mann teilen. Mit einem Knaben, so lange sie klein war; was hatte sie nicht um ihre kleinen Liebhaber gelitten und alle Leiden mit einer eigenen schmerzgemischten Freude ertragen!

Wie heißt doch gleich Graf Albert von Nordalbingiens Tochter, das Ideal aller kleinen streitbaren Mädchen, deren einziger Fehler ist, daß sie einem Dichterhirn entsprossen ist, in das die Bosheit nie recht Eingang gefunden hat! Und ohne Bosheit keine Wahrheit.

Wie heißt sie doch, das Ideal brünetter weiblicher Sprühteufelchen?

Gleichgültig – es steckte etwas von ihr in Monny. Und was an Trotz in Monny war, war zum Angriff gesammelt, als sie über die Schwelle der väterlichen Wohnstube trat, um von ihrem Vetter Thomas Klem ins Verhör genommen zu werden.

Monny schätzte Thomas als einen guten und frischen Kameraden. Sie hätte sich nie in ihn verlieben können, dazu war er zu selbstbewußt, zu wichtig und zu unangreifbar. Thomas repräsentierte Monny gegenüber die Gesellschaft; sie stellte sich zu ihm, wie sie sich zur Gesellschaft stellen würde, in Kampfstellung, wenn es sein müßte, niemals demütig, immer bereit einen Gang zu wagen.

Aber Thomas war kein junger Fuchs, und er wußte außerordentlich gut, wie so ein trotziges kleines Mädchen zu nehmen war. Das kam ihm im Kriminalgericht sehr zu statten. Dort erscheinen im Lauf des Jahres viele von der Art, und es sind rein menschlich betrachtet, nicht die schlechtesten. Thomas hatte seinen Anteil daran, daß aus manchen der verirrten Wesen im späteren Leben noch etwas wurde.

Na, das geht uns hier nichts an.

Er empfing Monny freundlich und bat sie, Platz auf einem Stuhl zu nehmen, den er dicht neben den seinigen rückte.

Er faßte sie bei der Hand.

»Monny,« sagte er, »Du weißt, daß ich nicht neugierig bin. Ich mische mich nie in etwas, was mich nichts angeht und am allerwenigsten bin ich ein Spießbürger. Wir beiden sind gute Kameraden gewesen, wenn wir uns auch hie und da geneckt haben. Ich habe Respekt vor Dir, weil Du ein Prachtmädchen bist, und wenn Du einmal in der Klemme bist, kannst Du getrost zu mir kommen.«

Monny saß still und sah ihn an; sie wußte ja noch nicht, wo er hinaus wollte, obgleich sie eine Ahnung hatte.

Thomas fuhr fort: »Du kannst Dir wohl denken, Monny, daß in einem kleinen engen Kreise, wie der, worin Du lebst, nur sehr wenig auf die Dauer verborgen bleiben kann. Das heißt also, daß in diesem Augenblick außer mir mindestens drei Menschen hier auf dem Gute wissen, daß Du Zusammenkünfte mit einem jungen Menschen hast, der beim Waldhüter wohnt.«

Monny wurde glühend rot.

»Mißversteh mich nicht, Monny,« fuhr Thomas fort, »das kannst Du tun, und es geht mich normalerweise nicht das geringste an. Tine und ich sind mehrere Jahre verlobt gewesen, ohne Deine Eltern zu fragen, und was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Darüber wollen wir uns also nicht streiten! Aber nun behauptet Ingenieur Willumsen, daß Dein Anbeter Deinem Vater das Geld gestohlen habe, und da ich es bin, der den Dieb finden soll, so mußt Du mir nicht böse sein, wenn ich mich an Dich wende.«

Monny hatte sich flammendrot im Gesicht erhoben.

»Willumsen lügt!« sagte sie mit geballten Fäusten und klopfendem Herzen.

Thomas betrachtete sie genau.

Er verstand seine Augen zu brauchen. – Es lag in ihrer ganzen Haltung etwas, was Angst verriet und Trotz, der die Angst verbergen sollte. Das war nicht Empörung, das war nicht die ehrlich entrüstete Zurückweisung einer ungerechten Beschuldigung. Das war bewaffneter Widerstand, gepanzerter Zweifel, nicht kampfbereite Gewißheit.

Und das war Thomas genug.

»Setz Dich, Monny,« sagte er freundlich. »Das ist ernst. Laß mich Dir sagen, Deine Freunde sind meine Freunde, und ich habe in meinem Amt häufig Gelegenheit gehabt, einen Schleier über das zu breiten, was törichter Glaube an die absolute Gerechtigkeit, ohne kleinliche Rücksicht auf die Geschicke der Menschen aufgedeckt hätte. Vor mir braucht Dir nicht bange zu sein. Du kannst Dich auf mich verlassen – jawohl Du kannst! – Du hast mein Wort, und hier ist meine Hand.«

Er mußte ihre Hand ergreifen. Sie war ein wenig heiß und zitterte leicht.

»Sage mir nun, kleine Monny, wer ist es?«

Monny antwortete: »Arthur Franck.«

»Arthur Franck – sieh an – Mosjö Arthur Franck, einer meiner eignen Schüler. Aber warum in aller Welt sagst Du es nicht Deinen Eltern? Arthur Franck, da kann doch kein unübersteigliches Hindernis vorliegen.«

Monny taute auf.

»Vater haßt die Juristen,« sagte sie, »das weißt Du selber recht wohl. Es wäre ganz vergeblich, zu ihm ein Wort von Arthur zu reden.«

»Du hast recht,« erwiderte Thomas. »Dein Vater hat eine Idiosynkrasie gegen Juristen – ganz wie gewisse Stiftsdamen sie gegen Katzen haben. Aber Arthur Franck ist doch der Sohn eines reichen Mannes. Etwas leichtsinnig, das ist richtig, unbeständig ...«

»Ich liebe ihn,« sagte Monny fest.

»Nun, nun –« Thomas mußte lächeln, doch als er in Monnys ernstes Gesicht sah, lächelte er nicht mehr.

»Monny,« fuhr er fort, »ich muß die ganze Geschichte wissen. Wie ist es möglich, daß der geringste Schatten eines Verdachtes auf Arthur Franck fallen kann? – Ich kümmere mich nicht darum, was Willumsen sagt – er kennt Arthur Franck ja nicht. Aber Du selber, Monny – ja Monny, Du selber! Du kannst mir nichts vorlügen. Es muß irgend etwas geschehen sein, und das mußt Du mir erzählen. Wolltet Ihr zusammen flüchten? Du bist ja immer eine Wildkatze gewesen. – Na, Monny, Du kannst mir alles erzählen.«

Monny schlug die Augen nieder. Das war die richtige Art sie zu nehmen. Und Thomas hatte recht, sie zweifelte selbst an Arthur.

Sie erzählte Thomas alles.

Sie erzählte, wie Arthur und sie an jenem Sonnabend Nachmittag in der Nische gestanden hatten, als Busgaard ins Wohnzimmer kam, um das Geld in den Sekretär zu legen.

Sie erzählte, wie die beiden alles mit angesehen und wie sie hinter den Gardinen gestanden und gezittert hatten, bis die Gefahr vorüber war und Busgaard sich wieder entfernt hatte.

Sie erzählte nicht, daß Arthur etwas davon gesagt hatte, das Geld zu nehmen, und wenn man sie auf die Folter gespannt oder sie mit allen Wohltaten des Paradieses überschüttet hätte, nie würde ein menschliches oder göttliches Wesen sie dazu gebracht haben, das zu bekennen.

Aber an und für sich war das ja auch unnötig. Thomas lauschte ihrer Erzählung und erriet den Rest.

Er schüttelte den Kopf und sagte nachdenklich: »Das ist nicht gut, Monny – das ist sehr schlimm.«

Monny saß da mit niedergeschlagenen Augen. – Sie wußte weder aus noch ein.

»Sage mir, Monny,« fragte Thomas nach einer Pause, »wie ist es möglich, daß Franck hier 14 Tage gewesen ist, ohne daß Ihr erwischt worden seid. Denn soviel ich verstehe, hat sich erst in den allerletzten Tagen auf Grund des begangenen Diebstahls die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Und Deine Eltern haben noch nicht das geringste davon erfahren.«

»Ja,« sagte Monny, »wir sind furchtbar vorsichtig gewesen. Arthur wohnte beim Waldhüter und Du weißt schon, Stine Steiffinger!«

Thomas lächelte. »Stine Steiffinger, lebt sie noch?«

»Ja, das tut sie,« fuhr Monny fort, »und sie macht oben beim Waldhüter rein und geht außerdem hier auf dem Hofe bei verschiedenen Arbeiten zur Hand. Nun hatten Arthur und ich ausgemacht, daß es das bequemste wäre, die Briefe zwischen uns durch Stine besorgen zu lassen. Es paßte so gut, weil Stine jeden Morgen zeitig hierher kommt. Sie besorgte auch früher meine Briefe an Arthur, weil ich Niels nicht traue, der sich immer bei Vater und allen einschmeicheln will. Und jetzt, wo Arthur beim Waldhüter wohnte, machten wir aus, uns jeden Tag zu schreiben, wo und wann wir uns treffen wollten. Jeden Abend legte ich den Brief an Arthur in das oberste Fach des Sekretärs.

Thomas stand auf. »Das Fach über dem, worin das Geld lag?«

Monny nickte. »Ja, das war es. Dort nahm Stine jeden Morgen meine Briefe heraus und legte Arthurs Briefe an mich hinein. Wir ahnten ja nicht im entferntesten, daß Vater den Sekretär zur Aufbewahrung seines Geldes benutzte.«

Thomas war aufgestanden und an den Sekretär gegangen. Er betrachtete das oberste Fach, es war kein Schlüssel daran. Er wandte sich an Monny.

»Wie bekamst Du das Fach auf – gibt es einen besonderen Schlüssel dazu?«

»Nein,« erwiderte Monny, »wir benutzten einen krummen Nagel.«

Thomas drehte sich herum. »Einen krummen Nagel – Aha! – das Fach kann also nicht verschlossen werden?«

Und mit seinem Taschenmesser zog er jetzt das Fach auf. Es war ein breiter Spalt darin, sodaß man in das Fach darunter hinabsehen konnte, es waren keine Holzböden zwischen den Fächern des Sekretärs. Thomas wandte sich wieder Monny zu.

»Weißt Du, daß in dem Fach ein breiter Spalt ist, so daß man deutlich sehen kann, was in dem Fach darunter, wo Onkel das Geld hineineingelegt hatte, drin ist, ja, daß man mit einiger Geschicklichkeit sogar den Inhalt des mittelsten Faches durch diesen Spalt herausnehmen kann, wenn man nicht vorziehen will, das Fach ganz herauszuziehen; das vereinfacht die Sache ganz wesentlich.«

Monny nickte.

»Sowohl Du wie Arthur habt also gewußt, daß das oberste Fach herausgezogen werden konnte, und daß es die leichteste Sache von der Welt war, sich in den Besitz des Geldes, das im Mittelfach lag, zu setzen? Das habt Ihr am Sonnabend Nachmittag gewußt, und in dem Zeitraum von Sonnabend bis Montag ist das Geld gestohlen worden.

Nicht wahr, Monny, das ist eine sehr bedenkliche Sache, das mußt Du mir zugeben? Du hast das Geld nicht genommen, denn was solltest Du damit, und Du könntest nie darauf verfallen, Deinen Vater zu bestehlen – aber –«

Monny saß mit gesenktem Kopf da und war nahe am Weinen.

Thomas fuhr fort:

»Ich will indes von Arthur Franck nicht annehmen, daß er das Geld genommen hat. Er muß sich in einen gewissen Verdacht finden, und wir müssen absolut die Sache gründlich untersuchen. Doch jetzt gilt es zuerst und vor allem herauszubringen, ob noch irgend jemand anders Kenntnis von diesem Versteck gehabt haben kann. Wenn nicht, so bleibt der Verdacht ernstlich an Franck haften. Wann holtest Du den letzten Brief von ihm dorther?«

Monny trocknete die Augen. »Am Sonnabend Morgen; wir hatten verabredet, daß er zum Haus kommen sollte; es war furchtbar unvorsichtig, und wenn wirs nicht getan hätten, könnte keiner jetzt wagen zu behaupten ...«

Thomas unterbrach sie:

»Und seit dem Nachmittag, wo Onkel Euch überraschte, habt Ihr den Sekretär nicht mehr als Aufbewahrungsort für Eure Briefe benutzt?«

»Nein,« antwortete Monny. »Wir waren beide der Meinung, daß es zu gefährlich wäre. Wir haben uns seitdem nicht mehr geschrieben und nur zweimal gesprochen.«

»Wann zuletzt?« fragte Thomas.

»Heute,« lautete die Antwort.

»Franck ist noch hier?« fragte Thomas rasch.

Monny hoffte, daß der Geliebte bereits in Sicherheit wäre, sie wollte um keinen Preis verraten, daß sie ausgemacht hatten, er sollte flüchten. Darum antwortete sie nicht direkt auf die Frage. Sie gehörte zu den gefährlichen Menschen, deren Unwahrheiten im Verschweigen, nicht in den Aussagen, bestehen.

Thomas wiederholte ganz freundlich seine Frage, er kannte Monny und war vorsichtig.

»Ich glaube schon,« erwiderte Monny ebenso vorsichtig.

»Hm,« sagte Thomas, »ist der gute Arthur Franck nicht recht geckenhaft in seiner Kleidung?«

»Was meinst Du?« fragte Monny – das verstand sie nicht.

»Ich meine, glaubst Du nicht, daß er feste Manschetten trägt?« fragte Thomas. Es war ja der interessante Punkt mit den Manschetten, der von äußerster Wichtigkeit war.

»Darauf habe ich nicht geachtet,« sagte Monny.

»Nein, natürlich,« antwortete Thomas. »Hier draußen lebt Ihr ja in einem ländlichen Unschuldszustand. Ich möchte doch annehmen, daß ein junger Mensch wie Franck soviel Selbstgefühl besitzt, daß er keine Röllchen trägt.«

Monny begriff immer noch nicht – das war ja auch kein Wunder, da sie nichts von dem Aarhusausstellungsknopf wußte und von der bedeutenden Rolle, die dieser an und für sich unbedeutende Gegenstand für die Aufklärung des begangenen Verbrechens spielte.

»Trägt er städtische Kleidung?« fragte Thomas weiter.

»Nein,« erwiderte Monny, »ich glaube er hat sich als reisender Handwerksbursche verkleidet.«

»Aha,« sagte Thomas. So gab es doch eine Möglichkeit, was die losen Manschetten anlangte.

Thomas nahm noch eine gründliche abschließende Untersuchung des Faches, des Nagels und der übrigen Corpora delicti vor. Es war jetzt kaum zweifelhaft, daß das Geld auf die Weise entfernt worden war, daß das oberste Fach aufgezogen und das mittelste seines kostbaren Inhaltes beraubt worden war von jemand, der wußte, daß Geld in dem Fach lag.

Aber auf der andern Seite war es nicht notwendig, daß der Betreffende sich sein Wissen dadurch erworben hatte, daß er Augenzeuge gewesen war oder von andern unterrichtet worden war, daß Busgaard sein Geld in dem Mittelfach untergebracht hatte.

Es war auch möglich, daß der Dieb rein zufällig beim Öffnen des obersten Faches das Geld gesehen und es dann genommen hatte.

Und zu gleicher Zeit, wie der Verdacht gegen Franck ernster wurde, erweiterte sich auch der Kreis der verdächtigen Personen.

Da war zunächst Stine Steiffinger. Sie mußte verhört werden, und es war am besten, daß Monny sie aufsuchte und herbrachte. Aber gleichzeitig galt es freilich auch, sich Francks zu versichern, und Thomas bereute jetzt, daß er Klemmesen und Niels auf die Expedition geschickt hatte.

Da der Verdächtige einer von seinen Schülern war, und da somit der Fall viel komplizierter war, als er geahnt oder vorausgesehen hatte, wäre es ungleich besser gewesen, wenn er die Expedition selbst unternommen und die Sache ausschließlich in seiner eignen Hand behalten hätte.

Er durfte Franck nicht von vornherein freisprechen, aber nach den erhaltenen Aufklärungen war es ihm beinahe unmöglich, den Verdacht festzuhalten, und wahrhaftig, es fehlte nicht viel, daß der erste Verdacht gegen Klemmesen im Begriff war zurückzukehren.

Der auffallende Eifer des Verwalters konnte verdächtig sein – aber auch Niels war unter den vorliegenden Umständen auch nicht ganz frei von Verdacht, und Stine Steiffinger war am meisten dem Verdacht ausgesetzt. Von ihr wußte man sogar positiv, daß sie das Fach geöffnet hatte, um Briefe herauszunehmen. Das heißt, Monny hatte allerdings behauptet, seit Sonnabend hätte sie keine Briefe mehr in das Fach gelegt, aber wußte Stine das?

Darüber konnte Monny keine Auskunft geben.

Thomas war sehr bedenklich.

Monny war nicht minder bedenklich; sie traute dem Vetter doch nicht recht.

»Was willst Du tun, Thomas?« fragte sie.

»Ja,« lautete die Antwort, »das ist schwer zu sagen. Dein Freund Arthur Franck ist also hier am Ort. Vermutlich unter diesem oder jenem Pseudonym und als wandernder Handwerksbursche verkleidet.

Wir halten Diebsjagd. Er hat einen Einbruch hier verübt – der Einbruch eines Liebhabers – aber es trifft sich verwünscht unglücklich, daß er der einzige Zeuge war, der sah, wie Dein Vater das Geld in das Fach legte. Leichtsinnig ist er, ich kenne ihn, und ganz sicher bin ich seiner nicht.

Die Sache steht ernst, und am ernstesten für Mosjö Franck. In diesen bewegten Tagen sind alle mehr oder weniger Sherlock Holmse. Niels hat Franck auf dem Korn, Klemmesen ist hinter ihm her, Willumsen beschuldigt ihn des Diebstahls – dies kann aus eigennützigen und darum unedlen Beweggründen geschehen, und der Nick Carter Hansen, der Polizeidiener aus der Stadt, ist nicht weniger durchtrieben als die andern, wenn ich ihn auch im Augenblick auf eine andre Spur gehetzt habe. Jeden Augenblick riskieren wir, ihn arretiert zu sehen.«

»Dann sterbe ich vor Scham,« rief Monny schreckensstarr.

»Das tust Du nicht,« sagte Thomas trocken mit einem Anflug seines gewohnten Humors, »das soll eine sehr seltene Todesursache sein.«

»Ich muß ihn retten, Du mußt ihn retten,« fuhr Monny fort, ohne die witzige Bemerkung zu beachten.

»Das ist unmöglich,« bemerkte Thomas ruhig. »Ich erzähle Dir alles dies um Dich zu warnen. Er ist vermutlich so nobel, Stand und Namen zu verbergen, ich verleugne ihn blind wie ein zweiter Simon Petrus. Du wirst dasselbe tun.«

»Ich Franck verleugnen?« sagte Monny. »Nie!« fügte sie trotzig hinzu.

»Das ist Deine Sache,« fuhr Thomas fort. »Ich gebe Dir nur einen freundlichen Rat. Entweder ist er der Dieb – junge Leute können verflucht leichtsinnig sein – und dann ist er unmöglich, denn es steht in der Schrift: Du sollst nicht stehlen, und diese Bestimmung wird mit großem Gewicht im allgemeinen bürgerlichen Strafgesetz kommentiert.

Ich sage das nicht um Dich zu verletzen, Monnychen, aber es ist doch eine Möglichkeit, mit der wir rechnen müssen. Nun, wir werden es schon herauskriegen! Praktisch ist es dagegen jetzt, daß ich Klemmesen und Niels gebeten habe, sich des jungen Menschen, der beim Waldhüter logiert, zu versichern, ohne zu wissen, daß es Herr Franck war. Hätte ich es gewußt, was ich von Dir hätte erfahren können, wenn ich zuerst mit Dir gesprochen hätte, so würde ich die Sache vielleicht anders eingefädelt haben.

Doch dagegen ist jetzt nichts zu machen. Allen Anzeichen nach wird Franck von Klemmesen und Niels hierhergebracht werden, und da mag er sich verantworten.«

Monny rang die Hände, sie konnte keine Worte finden.

Thomas strich ihr übers Haar. »Du mußt nicht verzweifeln, Monnychen! Recht betrachtet ist es vielleicht so am allerbesten.

Kreisrichter Heiden ist ein milder und friedfertiger Mann, der keinem Menschen etwas zu leide tut, kaum den Verbrechern. Und sollte Dein Arthur, was wir hoffen wollen, lebendig und weißgewaschen aus diesem Fegefeuer, das sich unleugbar jetzt für ihn vorbereitet, hervorgehen, so ist er auf eine so romantische Weise hier ins Haus eingeführt, daß, soweit ich Onkel Bus kenne, alles mögliche daraus werden kann.

Trockne Deine Augen, Mädchen, und sei mutig! Verrate Dich nicht selber, tue als ob Du ihn nicht kenntest, und überlaß alles mir. Ich verspreche Dir, hat Arthur etwas Häßliches und Gemeines begangen, so soll er still und unbemerkt aus diesem Kreise verschwinden, und dann mußt Du ihn verschwinden lassen; Du kannst keinen Einbruchsdieb lieben, das ist naturwidrig und absolut nicht ladylike!

Hat er nichts anderes getan, als Dein Herz und Deinen Frieden gestohlen, so müssen wir versuchen, ihn nach Verdienst zu bestrafen, indem wir ihn Dir überlassen, eine Art lebenslängliches Zuchthaus, das ich nicht für ihn übernehmen möchte.

Geh nun, Monny und schaff mir Stine Steiffinger herbei.«

Monny erhob sich. Auf ihrem Gesicht stand ein unsicheres Lächeln. Sie traute Thomas nicht, sie war nicht völlig von Francks Unschuld überzeugt, aber sie hatte keine Wahl, sie mußte das Unvermeidliche tragen.

Doch in ihrem innersten Herzen gelobte sie sich, daß sie Arthur, selbst wenn er ein Dieb, ja ein Mörder wäre, von ganzem Herzen, von ganzer Seele lieben, ihm ins Zuchthaus folgen und seine Schande mit ihm teilen würde, denn die rechte Liebe kennt weder Sitte, Gesetz noch Macht.

So dachte Monny, sie war also in gewisser Weise eine staatsgefährliche Anarchistin. Aber sie liebte ihren Arthur so glühend. Sie erhob sich und verließ das Zimmer mit demselben Gefühl, wie es die Räuberbraut auf Vernets berühmten Bild »Der gefangene Räuber« beseelt haben muß. Der Räuber liegt sterbend auf einem Karren und wird von einem Priester mit den Sakramenten versehen, – die Räuberbraut kniet gebunden zwischen seinen Wächtern und heftet ihren Blick zärtlich und doch trotzig auf ihn, der nur der irdischen Gerechtigkeit entgeht, um vor die himmlische gefordert zu werden.

So eine Räuberbraut war Monny und als sie Thomas verließ, schwor sie fest und bestimmt, daß sie Arthur retten, vielleicht mit ihm fliehen wollte, koste es, was es wolle.

Aber da sie zufällig Stine Steiffinger im Hof traf, schickte sie sie zu Thomas hinein; Thomas machte sich wieder an dem merkwürdigen Sekretär zu schaffen, der einen ganzen Roman voll von eigentümlichen Zufällen und Ereignissen zu beherbergen schien.

Selber eilte Monny in den Wald nach dem Waldhüterhaus hinaus.

Der Leser wird gebeten festzuhalten, daß drei von einander unabhängige Expeditionen nach der Richtung unterwegs sind. Klemmesen und Niels, die vom Kriminalassessor ausgesandt sind, Willumsen, den seine reellen Absichten auf Monny hinausführten, und jetzt schließlich Monny selbst, die leichtfüßig, von ihrer Liebe gejagt, hinauseilt.

Das kann spannend genug werden – aber der Leser muß Geduld haben, wir machen jetzt einen kleinen Sprung, der uns um ein Beträchtliches in unserm Verständnis fördern wird.

Nur Geduld.


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