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Es fängt an, für Klemmesen bedenklich auszusehen

Es gibt etwas, was man als Voreingenommenheit gegen Personen bezeichnen kann; man kann es auch anders nennen, es kommt nicht so übertrieben viel auf Bezeichnungen an, wenn man nur weiß, was sie bezeichnen. Voreingenommenheit würde zum Beispiel entstehen, wenn ein 250 Pfund schweres Fischweib ihren Einzug in die Straßenbahn damit hält, daß sie ihre beiden Füße auf die meinigen pflanzt und darauf ihr Achterkastell auf meine Knie. Wenn nun besagtes Fischweib zufällig auf dem Wege zu meinem Kontor ist, um mich für eine ihr nützliche Transaktion zu interessieren, so darf ohne Übertreibung behauptet werden, daß das Wiedersehen mit ihr eine gewisse Stimmung in mir wecken wird, die ihr nicht günstig ist, auch wenn die Ursache dafür zufällig ist. Bedeutend schlimmer für die Dame ist es, wenn ich Kriminalassessor bin und sie in einer Angelegenheit verhören soll, wobei es sich um unerlaubte Unachtsamkeit handelt.

Dieser Ausdruck, Voreingenommenheit, kann also gebraucht werden von den unfreundlichen und zum Argwohn höchst geneigten Gefühlen, die sich bei dem Kriminalassessor Thomas Klem emporarbeiteten, sobald die Möglichkeit auftauchte, daß sich der Verdacht des Diebstahls auf Klemmesen richten könnte. Er hatte Ursache zu vermuten, daß Klemmesen ein vom Vater begünstigter Bewerber um seine Tine war, und dies konnte ihn nur unfreundlich gegen den ihm sonst unbekannten Mann stimmen. Nun war eine an Gewißheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden, daß dieser selbe Klemmesen in einem früheren Besitzverhältnis zu dem im Fach gefundenen Teil eines Manschettenknopfes von der Aarhusausstellung stand; denn von keinem zivilisierten Menschen war von vornherein anzunehmen, daß er mit so einem Ungeheuer von Gebrauchsgegenstand herumlaufen würde, und ein Verwalter aus Salling mußte Thomas seiner ganzen Anlage nach als etwas Unzivilisiertes erscheinen. Er ergriff den Gedanken und verfolgte ihn weiter.

Als Busgaard aus dem Zimmer war, wandte sich Thomas an den Polizeidiener und fragte scheinbar uninteressiert: »Was halten Sie von Klemmesen, Hansen?«

Hansen gefiel sich in Reservationen: »Tja, sagte er philosophisch, was soll man glauben in unseren Tagen? Es kommt ja vor, daß die anständigsten Menschen, sogar Leute in sehr hohen Stellungen ...«

»Unsinn!« unterbrach ihn Thomas. – »Ja, Verzeihung, Hansen; aber Sie wissen, ich hasse allgemeine Bemerkungen. Ist der Kerl ehrlich?«

Hansen richtete sich auf und fraß seinen Ärger in sich. Bist Du bei Verstand? dachte Hansen. Laut sagte er: »Ich habe nur Gutes über Klemmesen gehört.«

Das würde den anderen ärgern, dachte er, und in diesem Augenblick hätte er selbst einem Bulotti ein Unbescholtenheitszeugnis ausgestellt.

»Kennen Sie ihn genauer?« fragte Thomas.

»Nicht eigentlich!« mußte Hansen einräumen. Durch den Ton des Assessors wurde etwas berührt, was infolge langer Dressur blind reagierte. Der Kreisrichter sah, daß ein kleines Scharmützel heranzog. Er wollte seinen Polizeidiener in Schutz nehmen, den er, ehrlich gesagt, nicht wenig verwöhnte.

»Ich kann die Art nicht leiden, den Verdacht auf einzelne zu richten,« sagte er sehr freundlich, aber doch gleichsam zurechtweisend.

Thomas drehte sich auf dem Absatz herum und nahm den Angriff an: »Nein, ich habe darum auch alle im Verdacht; aber Sie haben ja die Leitung. Also!« –

»So war es nicht gemeint.«

In diesem Augenblick trat Klemmesen ein. Draußen auf freier Flur unter den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes war Klemmesen mit seiner kurzen gedrungenen Gestalt und seinem hellen lockigen Haar ein ganzer Kerl. In einer Wirtsstube, wo es einen Handel um einen Ochsen oder eine Fohlenstute galt, war er geradezu eine Macht, und sollte im Stall eine Kuh kalben, so schwang er sich zu einer Art Vorsehung auf. Aber hier in der Wohnstube, vom Scheitel bis zur Sohle bestaubt, in grober Kleidung, ungewiß, was es mit der Audienz für eine Bewandtnis habe, unbekannt mit den Leuten, deren Blicke den seinen begegneten, etwas außer Atem, verschwitzt und sehr verlegen, sah er aus wie ein Kalb, das sich auf einen schmalen Steg gewagt hat und die Wellen unter sich rauschen hört, während die schmale Brücke es von dem festen Grund und dem duftenden Gras trennt.

Thomas Klem betrachtete ihn genau, nahm ihn von Kopf bis zu Füßen in Augenschein und schwieg. Dann plötzlich erstrahlte die Stirn des Assessors in Heiterkeit; er schritt leicht und rasch durchs Zimmer und streckte Klemmesen die rechte Hand entgegen.

»Sind Sie Klemmesen? Gott segne Sie, und der Herr sei gelobt, daß Sie Klemmesen sind. Dabei müssen Sie bleiben.«

Klemmesen gaffte, und der Assessor schüttelte die arbeitsgewohnte Hand, so daß die Manschette des Verwalters über die Hand rutschte.

Es war eine Manschette mit dem Knopf von der Aarhusausstellung!

Der Assessor trat zurück.

Klemmesen machte verdutzt ein paar Schritte weiter ins Zimmer hinein.

Der Kreisrichter nickte ihm freundlich zu. Er hatte sich offenbar vorgenommen, die Partei des Verwalters zu ergreifen. Der Polizeidiener stand da und kaute an dem Bissen von vorhin. In Fällen wie dieser, sind Gerichtsbeamte der Unterklasse Wiederkäuer.

Thomas brach das Schweigen: »Ach, Herr Klemmesen, wollen Sie nicht so freundlich sein Polizeidiener Hansen zu helfen, den Sekretär von der Wand zu rücken.«

Hansen glotzte.

»Ziehen Sie den Rock aus, Hansen, und Sie auch Klemmesen!«

Der Polizeidiener gehorchte und zog den Rock aus. Klemmesen zögerte. »Das ist nicht nötig,« sagte er, »er wird nicht schlechter davon.«

»Tun Sie es nur,« meinte der Assessor, »es ist schade um die guten Kleider.«

Klemmesen warf die Jacke ab.

Der Assessor fuhr fort: »Sie sollten die Manschetten ablegen, sie sind nur im Wege. Geben Sie her und rücken Sie das Möbel ordentlich vor.«

Klemmesen reichte Thomas die Manschetten und machte sich an den Sekretär. Heiden starrte staunend auf die Dinge, die um ihn vorgingen. Er begriff nicht, was das alles bedeuten sollte. Da trat Thomas zu ihm hin.

»Bitte sehn Sie, Herr Kreisrichter, das sind ein paar Manschetten, die offenbar dem Verwalter gehören. Die eine Manschette hat einen Knopf, der dem im Fach gefundenen gleicht, einen Aarhusausstellungsknopf. Die andere hat einen Beinknopf. Was sagen Sie nun?«

»Ja, was sagen Sie?« erwiderte der Kreisrichter und sah ihn unsicher fragend an.

»Ich sage, die Knöpfe sind ungleich, aber das sind die Manschetten auch!« Dann wandte er sich an die Beiden, die sich schwitzend am Sekretär abmühten: »Danke, es ist gut, es war nichts. Die Herren können den Sekretär wieder anrücken.«

Der Sekretär wurde wieder an die Wand gerückt und die Herren schlüpften wieder in ihre Röcke. Thomas spielte mit den Manschettenknöpfen. »Das ist ein schnurriger Knopf, den Sie da haben, Herr Klemmesen!« sagte er.

Klemmesen warf einen Blick auf den Knopf. »Ja,« sagte er, »den habe ich auf der Aarhusausstellung vor 2 Jahren gekauft. Ich hatte zwei, aber der eine ist weg. Es ist wohl ein paar Tage her.«

Die 3 Polizeimänner wechselten Blicke, aber Thomas wehrte eine Diskussion ab. »Danke, Herr Klemmesen,« sagte er. »Es ist gut. Sagen Sie mir, wußten Sie, daß Geld mit der Post am Sonnabend gekommen war?«

»Ja,« antwortete der Verwalter sofort. »Ich stand hier, als die Post kam und außerdem sprachen ich und der Gutsbesitzer darüber, da ich die Leute abzulohnen hatte. Es waren ein paar, die Vorschuß haben wollten, aber der Gutsbesitzer wollte das Geld nicht holen.«

»Hm,« sagte Thomas, »Sie wußten also, daß das Geld im Sekretär lag.«

»Wußte,« erwiderte Klemmesen, »ich konnte es mir denken, denn da pflegt der Gutsbesitzer sein überflüssiges Geld aufzubewahren. Er legt es nie in den Schreibtisch aus Angst vor Dieben. Das habe ich oft gesehen. Da liegt es also nahe, an den Sekretär zu denken, und soviel ich mich erinnere, hat der Gutsbesitzer es mir selber erzählt.«

»Aus Furcht vor Dieben?« wiederholte der Kreisrichter und sah den Verwalter freundlich an.

»Ja,« fuhr dieser fort, – er war jetzt mit der Situation ganz vertraut – »es ist ja schrecklich mit dem Diebsgesindel, es breitet sich über das ganze Land aus. Ich kriegte selber so Angst bei der Geschichte hier, daß ich in die Stadt ritt und mein Geld auf die Sparkasse trug.«

»Sie hatten Geld?« fragte Thomas und sah ihn fest an. »Wieviel?«

Klemmesen schüttelte sich ein bißchen.

»Wieviel?« fragte der Assessor, wie einer der gewohnt ist zu fragen und Antwort zu fordern.

»Es waren wohl so zwanzig und einige Hundert,« sagte der Verwalter, wobei die Worte sich ihm entwandten, wie aus einem Schraubengewinde. »Seit dem Bankkrach traute ich den Sparkassen nicht recht; aber nach dem Diebstahl dachte ich bei mir, das, was die kleinen Diebe einem abnehmen, ist man los, während es der Regierung obliegt, einem das zu erstatten, was die großen Diebe an sich raffen.«

Der Kreisrichter lächelte: »Glauben Sie das, Klemmesen?«

»Das weiß ich,« erwiderte der Verwalter bestimmt; »dafür gibt es sicher ein Gesetz. Und so dachte ich, es wäre das Beste, meine Sparpfennige auf die Bank zu legen.«

»Zwanzig und einige Hundert?« fragte Thomas.

»Vielleicht etwas weniger, vielleicht etwas mehr. Ich erinnere mich nicht so genau,« sagte Klemmesen, der offenbar keine Lust hatte, die genaue Summe zu nennen.

Der Kreisrichter blickte Thomas an, der dastand und überlegte.

»Ach, Klemmesen,« fuhr er fort, »wollen Sie die Güte haben, den Gutsbesitzer zu bitten hereinzukommen. – Ja, danke, weiter war es nichts.«

Klemmesen ging.

»Hören Sie, Herr Assessor,« sagte der Kreisrichter, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, »finden Sie eigentlich nicht, daß wir allen Grund hätten, den Mann etwas näher zu verhören. Er ist im Besitz eines Manschettenknopfes, der unserem vorläufig einzigen Corpus delicti gleicht. Ich hatte den Eindruck, der Mann wußte, daß Geld im Sekretär lag, und dann hat er obendrein Geld auf die Bank gebracht.«

Thomas nickte. »Es freut mich, Herr Kreisrichter, daß Sie sich dieses vollkommen richtige Wissen angeeignet haben. Wir wissen jetzt diese Dinge, aber da ich davon ausgehe, daß der Mann eine Frage von unserer Seite, die mit Fug als unhöflich betrachtet werden kann, nicht ohne weiteres beantworten wird, und da er wohl kaum sofort sich davonmacht, so möchte ich vorziehen zu untersuchen, was mein gestrenger Onkel zu diesen uns vorliegenden Aufklärungen zu bemerken hat.«

»Das kann man auch tun.« antwortete der Kreisrichter.

»Das tut man,« sagte Thomas kurz und unterdessen trat Busgaard ins Zimmer. Er sah den Neffen höhnisch an und ging direkt auf seinen Stuhl los. Dort nahm er Platz mit gefalteten Händen, von Kopf bis zu Füßen ein stummer und unwilliger Protest.

Thomas setzte sich auf einen Stuhl gerade gegenüber und sah ihn eindringlich und wohlwollend an. Busgaard rutschte auf dem Sitz und brummte.

»Onkel,« sagte Thomas mildwehmütig. »Ich bin genötigt eine Frage an Dich zu richten, die Dich vielleicht betrüben wird. Ich weiß, Du hast eine gewisse Vorliebe für Deinen Verwalter Klemmesen ...«

»Klemmesen ist meine rechte Hand!« brauste Busgaard auf. »Ich verbitte mir jeden schnöden Verdacht gegen einen Mann, dem ich voll vertraue und der ...«

»Verzeihung,« unterbrach ihn Thomas, »ich möchte Dich nicht verletzen; aber sage mir, hältst Du es für möglich, daß Klemmesen ehrlich in diesen Tagen zu 2500 Kronen gekommen sein kann.«

Busgaard sperrte den Mund auf: »Ein Verwalter ehrlich zu 2500 Kronen. – Mein Verwalter ehrlich zu 2500 Kronen – – –!«

Thomas nickte. »Also. Du hältst es nicht für möglich? Gut. Klemmesen steht im Verdacht.«

Busgaard rückte unruhig auf dem Stuhl hin und her.

Der Kreisrichter mischte sich ins Gespräch. »Ja, er steht im Verdacht, den Ausdruck kann man wohl brauchen.«

Da fuhr Busgaard mit einem Ruck in die Höhe und schlug auf den Tisch, daß Vasen und Nippsachen tanzten: »Das sind, hol mich der Teufel, Lügen!«

Thomas erhob sich mit einem Krach. »Und ich sage nicht hol mich der Teufel, weil es so einen verwünschten Klang hat, aber es ist trotzdem wahr! Klemmesen hat vorgestern zwanzig und einige hundert Kronen auf die Bank gelegt, und da Du selber sagst, es sei undenkbar, daß Dein Verwalter ehrlich zu dem Geld gekommen ist, so dürfen wir wohl davon ausgehen, daß er es gestohlen hat.«

Busgaard sank fassungslos in den Stuhl zurück.

Doch bald erholte er sich und die Oppositionslust erwachte in ihm. »Das soll mir keiner einbilden, daß es so leicht ist für ein paar Herren wie die Herren einen Dieb zu finden!«

Thomas kniff das Monokel fest ins linke Auge.

»Ich beuge mich in Ehrfurcht vor Dir, mein weiser Onkel! Das ist der einzige Grund, warum ich nicht gleich im Namen der Gerechtigkeit die Hand auf Deine rechte Hand lege. Außer den Fällen, wo der Verbrecher sich selber meldet, was diese geehrten Mitbürger ja bisweilen so wohlwollend sind zu tun, ist es geradezu eine Seltenheit, daß es so leicht geht, wie es hier zu gehen scheint. Ich wage also nicht zu hoffen, daß die Vorsehung so gnädig gegen uns gewesen ist, wenngleich ich das Beste hoffen will. Es wird indessen von uns verlangt, daß wir etwas unternehmen, und da wir leicht, indem wir einseitig eine Spur verfolgen, die falsch sein kann, an der richtigen vorbeigehen, so schlage ich vor, Klemmesen, der offenbar nicht ahnt, daß er in Verdacht steht, unter Aufsicht frei herumgehen zu lassen, während wir uns zu der Gewißheit emporarbeiten, die nötig ist, wenn ein Resultat erreicht werden soll. Ich erbitte mir daher die Erlaubnis, Klemmesen unter meine Obhut nehmen zu dürfen, und ich werde meine Arbeit sehr diskret verrichten.«

»Die Erlaubnis haben Sie,« antwortete der Kreisrichter. »Ich bin ebenfalls meiner Sache nicht sicher.«

»Und Sie, Hansen?« fragte Thomas.

Hansen schüttelte den Kopf.

Und so schüttelten sie alle vier die Köpfe, was der scharfsinnige Leser vermutlich auch tut! Nur Geduld!


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