Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Weg nach Mariazell

Mein Vater hatte elf Saatfelder, die wir »Kornweiten« nannten und wovon wir alljährlich im Herbst ein neues für den Winterroggenbau eigneten, so daß binnen elf Jahren jeder Acker einmal an die Reihe kam. Ein solcher Jahresbau lieferte beiläufig dreißig Metzen Roggen; für die nächsten drei Jahre wurde dann das Feld für Hafersaat benutzt, und die sieben weiteren Jahre lag es brach, diente als Wiese oder Weide.

Unser vier – mein Vater, ich und die zwei Zugochsen – bestellten im Herbst das Roggenfeld. Hatten wir den Pflug, so führte mein Vater hinten die Pflug- und ich vorn die Ochsenhörner. Hatten wir die Egge mit ihren sechsunddreißig wühlenden Eisenzähnen, so leitete der Vater die Zugtiere, und ich –

Ja, das war ein absonderliches Geschäft. Ich hockte mitten auf der Egge oben und ließ mich über den Acker hin und her vornehm spazierenfahren. Fuhr spazieren und verdiente mein Brot. Der Acker hatte nämlich stellenweise so zähes und filziges Erdreich, daß die Egge nicht eingreifen wollte, sondern nur so ein wenig oben hinkratzte. Trotzdem durfte die Egge nicht zu schwer sein, schon um der Ochsen willen, und auch nicht, weil an anderen Stellen doch wieder eine mürbe Erdschicht lag, in welcher tiefgehende Zähne mehr geschadet als genützt hätten.

So mußte denn stellenweise die Egge beschwert werden, und zwar durch ein lebendiges Gewicht, das zu rechter Zeit aufhocken und zu rechter Zeit abspringen konnte. Und dazu waren meine vierzig Pfunde mit den behendigen Füßlein gerade recht. Gefiel mir baß, wenn die Ochsen gut beim Zug waren und die Egge hübsch emsig dahinkraute und auf und nieder hüpfte, so daß mir der Vater zurief: »Halt dich fest, sonst fliegst abi!«

Da hat sich eines Tages das große Glück zugetragen.

Es war morgens vorher mein zweiter Bruder geboren worden – ein Junge, daß es schon eine helle Freude war. Als wir hierauf das steile Schachenfeld umeggten, war mein Vater etwas übermütig und knallte stark mit der Peitsche. Fuhr- und Ackersleute, die keine Stimme haben zum Jauchzen, lassen die Peitsche knattern und schmettern, daß es hinhallt in das Gebäume und zu anderen Menschen, die sich mitfreuen und, wenn sie wollen und können, mitjauchzen mögen. Wir fuhren gerade an einem mit Büschen bewachsenen Steinhaufen vorüber, als meinem Vater – sicherlich des kleinen Jungen wegen – wieder die helle Lust aufschoß, die Peitsche schwang er und knallte eins herab. In demselben Augenblick rauschte erschreckt eine ganze Familie von Haselhühnern aus dem Gebüsch auf, davor machten unsere Ochsen einen gewaltigen Sprung und schossen wild mit der Egge und mit mir, der darauf saß, quer über das steile Feld hinab. Mein Vater war beiseite geschleudert worden und konnte nun nachsehen, was mit seinem Gespann geschah. Die Rinder rasten dahin, die Egge hüpfte hoch empor, und im nächsten Augenblick war ich unter den Zähnen derselben und wurde hingeschleift.

Mein Vater soll die Augen zugemacht und sich gedacht haben: Jesses, kaum ist der Kleine da, ist der Große schon hin. Dann schlug er die Hände zusammen und rief zu den Wolken empor: »Unsere Liebe Frau Mariazell!«

Mittlerweile waren Ochsen und Egge über den Feldrücken gerast und nicht mehr zu sehen. Dort unten aber auf dem braunen Streifen, den das Fuhrwerk über den Acker hin gezogen hatte, lag ein Häuflein und bewegte sich nicht.

Mein Vater lief hinzu und riß es von der Erde empor, da hub es auch schon ketzermäßig an zu schreien. Der ganze Bub voll Erde über und über; ein Ärmel des Linnenröckleins war in Fetzen gerissen, über die linke Wade hinab rann Blut – sonst gar nichts geschehen. Hinter dem Feldsattel standen unversehrt auch die Ochsen. Mich nahm mein Vater jetzt auf den Arm. Ich hätte zehnmal besser laufen können als er, aber er bildete sich ein, ich müsse getragen sein, aus Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ich noch lebe, und aus Angst, ich möchte mich etwa gar jetzt erst verletzen. Als ich hörte, daß ich eigentlich in Todesgefahr gewesen war und von Rechts wegen jetzt in Stücke gerissen nach Hause getragen werden sollte, hub ich erst recht an zu zetern. Und so kamen wir heim, und wenn die alte Grabentraudel nicht vor der Tür die Antrittsteine sauber kehrt, weil die Godel (Taufpatin) kommen soll, und sie uns solchergestalt nicht den Eingang zur Wöchnerin verwehrt, so geschieht erst jetzt das Unglück: die Mutter springt vor Schreck aus dem Bett, kriegt das Fieber und stirbt.

Auch das hat die Liebe Frau Mariazell verhindern müssen und hat es durch ihre Fürbitte erwirkt, daß es der Grabentraudel eingefallen ist, es wäre draußen der Antrittstein nicht ganz sauber, und die Godel könne leichtlich daran ein Ärgernis nehmen.

Später hat das mein Vater alles erwogen und ist hierauf zum Entschluß gekommen, mit mir zur Danksagung eine Wallfahrt nach Mariazell zu machen.

Ich war glückselig, denn eine Kirchfahrt nach dem eine starke Tagesreise von uns entfernten Wallfahrtsort war mein Verlangen gewesen, seit ich das erstemal die Zeller Bildchen im Gebetbuch meiner Mutter sah. Mariazell schien mir damals nicht allein als der Mittelpunkt aller Herrlichkeit der Erde, sondern auch als der Mittelpunkt des Gnadenreiches Unserer Lieben Frau. Und sooft wir nun nach dem Gelöbnis auf dem Feld oder im Wald arbeiteten, mußte mir mein Vater all das von Zell erzählen, was er wußte, und auch all das, was er nicht wußte. Und so entstand in mir eine ideale Welt voll Sonnenglanz und goldener Zier, voll heiliger Bischöfe, Priester und Jungfrauen, voll musizierender Engel, und inmitten unter ewig lebendigen Rosen die Himmelskönigin Maria. Und diese Welt nannte ich – Mariazell; sie steht noch heute voll zauberhafter Dämmerung in einem Abgrund meines Herzens.

Und eines Tages denn, es war am Tage des heiligen Michael, haben wir vormittags um zehn Uhr Feierabend gemacht.

Wir zogen die Sonntagskleider an und rieben unsere Füße mit Unschlitt ein. Der Vater aß, was uns die Mutter vorgesetzt, ich hatte den Magen voll Freude. Ich ging ruhelos in der Stube auf und ab, sosehr man mir riet, ich würde noch müde genug werden. Rasten und dann müde werden, das schien mir nicht gut gedacht.

Endlich luden wir unsere Reisekost auf und gingen davon, nachdem wir versprochen hatten, für alle daheim und für jedes insbesondere bei der »Zellermutter« zu beten.

Ich wußte nicht, daß meine Füße den Erdboden berührt hätten, so wonnig war mir. Die Sonne hatte ihren Sonntagsschein, und es war doch mitten in der Woche. Mein Vater hatte einen Pilgerstock aus Haselholz, ich auch einen solchen; so wanderten wir aus unserem Alpl davon. Mein Vater trug außer den Nahrungsmitteln etwas in seinem rückwärtigen Rocksack, was, in graues Papier gewickelt, ich ihn zu Hause einstecken gesehen hatte. Er war damit gar heimlich verfahren, aber jetzt beschwerte es den Säckel derart, daß dieser bei jedem Schritt dem guten Vater eins auf den Rücken versetzte. Ich konnte mir nicht denken, was das sein mochte.

Wir kamen ins schöne Tal der Mürz und in das große Dorf Krieglach, wo einige Tage zuvor mitten im Ort einige Häuser niedergebrannt waren. Ich hatte in meinem Leben noch keine Brandstätte gesehen. Ich schloß die Augen und ließ es noch einmal nach Herzenslust brennen, so daß mich mein Vater nicht von der Stelle brachte.

Eine Frau sah uns zu und sagte endlich: »Mein, 's ist halt armselig mit so einem Kind, wenn es ein Hascher ist.«

Ich erschrak. Sie hatte mich gemeint, und ich kannte die Ausdrucksweise der Leute gut genug, um zu verstehen, daß sie mich, wie ich so dastand mit offenem Mund und geschlossenen Augen, für ein Trottelchen hielt.

Ich war daher froh, als wir weiterkamen. Nun gingen wir schon fremde Wege. Hinter dem Orte Krieglach steht ein Kreuz mit einem Marienbild und mit einer hölzernen Hand, auf welcher die Worte sind: »Weg nach Mariazell«.

Wir knieten vor dem Kreuz nieder, beteten ein Vaterunser um Schutz und Schirm für unsere Wanderschaft. »Das greift mich frei an«, sagte mein Vater plötzlich und richtete sein feuchtes Auge auf das Bild, »sie schaut soviel freundlich auf uns herab.« Dann küßte er den Stamm des Kreuzes, und ich tat's auch, und dann gingen wir weiter.

Als wir in das Engtal der Veitsch einbogen, begann es schon zu dunkeln. Rechts hatten wir den finsteren Bergwald, links rauschte der Bach, und ich fühlte ein Grauen vor der Majestät und Heiligkeit dieses Zeller Weges. Wir kamen zu einem einschichtigen Wirtshaus, wie solche in den Wäldern der Räubermärchen stehen – doch über der Tür war trotz der Dämmerung noch der Spruch zu lesen: »Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden!« – Aber wir gingen vorüber.

Endlich sahen wir vor uns im Tal mehrere Lichter. »Dort ist schon die Veitsch«, sagte mein Vater, aber wir gingen nicht so weit, sondern bogen links ab und den Bauernhäusern zu, bei welchen es in der Niederaigen heißt. Und wir schritten in eines der Häuser, und mein Vater sagte zur Bäuerin:

»Gelobt sei Jesu Christi, und wir zwei täten halt von Herzen schön bitten um eine Nachtherberg; mit einem Löffel warmer Suppen sind wir rechtschaffen zufrieden, und schlafen täten wir schon auf dem Heu.«

Ich hatte gar nicht gewußt, daß mein Vater so schön betteln konnte. Aber ich hatte auch nicht gewußt, daß er auf Wallfahrtswegen nur ungern in ein Wirtshaus einkehrte, sondern sich Gott zur Ehre freiwillig zum Bettelmann erniedrigte. Das war ein gutes Werk und schonte den Geldbeutel.

Die Leute behielten uns willig und luden uns zu Tisch, daß wir aßen von allem, was sie selber hatten. Dann fragte uns der Bauer, ob wir Feuerzeug bei uns hätten, und als mein Vater versicherte, er wäre kein Raucher und er hätte sein Lebtag keine Pfeife im Munde gehabt, führten sie uns in den Stadl hinaus auf frisches Stroh.

Wir lagen gut, und draußen rauschte das Wasser. Das mutete seltsam an, denn daheim auf dem Berg hörten wir kein Wasser rauschen.

»In Gottes Namen«, seufzte mein Vater auf, »morgen um solch Zeit sind wir in Mariazell.« Dann war er eingeschlafen.

Am andern Morgen, als wir aufstanden, leuchtete auf den Bergen schon die Sonne, aber im Schatten des Tales lag der Reif. Von der Veitscher Kirche nahmen wir eine stille Messe mit; und als wir durch das lange Engtal hineinwanderten, an Wiesen und Waldhängen, Sträuchern und Eschenbäumen hin, über Brücken und Stege, an Wegkreuzen und Bauernhäusern, Mühlen, Brettersägen und Zeugschmieden vorbei, trugen wir jeder den Hut und die Rosenkranzschnur in der Hand und beteten laut einen Psalter. Des schämte ich mich anfangs vor den Vorübergehenden, aber sie lachten uns nicht aus; an der Zeller Straße ist's nichts Neues, daß laut betende Leute daherwandern. Mein Vater betete überhaupt gern mit mir; er wird gewiß immer sehr andächtig dabei gewesen sein, aber mir kamen im Gebet stets so verschiedene und absonderliche Gedanken, die mir sonst sicherlich nicht eingefallen wären. War ich im Beten, so interessierte ich mich für alles, woran wir vorüberkamen, und wenn sonst schon gar nichts da war, so zählte ich die Zaunstecken oder die Wegplanken.

Heute gab mir vor allem das Ding zu sinnen, das mein Vater in seinem Sack hatte und das im Rockschoß geradeso hin und her schlug wie gestern. Für einen Wecken ist's viel zu schwer. Für eine Wurst ist's zu groß. –

Ich war noch in meinen Erwägungen, da blieb mein Vater jählings stehen, und, das Gebet unterbrechend, rief er aus: »Du verhöllte Sau!«

Ich erschrak, denn das war meines Vaters Leibfluch. Er hatte sich ihn selbst erdichtet, weil die anderen ja alle sündhaft sind. »Jetzt kann ich schnurgerade zurückgehen auf die Niederaigen«, sagte er.

»Habt Ihr denn was vergessen?«

»Das wär mir ein sauberes Kirchfahrtengehen«, fuhr er fort, »wenn man unterwegs die Leut anlugt! – Hast es ja gehört, wie ich gestern erzählt hab, ich hätt mein Lebtag keine Pfeifen im Maul g'habt. Jetzt beim Beten ist's mir eingefallen, dort bei dem Holzapfelbaum, daß wir daheim auch einen alten Holzapfelbaum gehabt haben und daß ich unter dem Holzapfelbaum einmal 'glaubt hab, 's ist mein letztes End. Totenübel ist mir gewesen, weil ich mit dem Riegelberger-Peter das Tabakrauchen hab wollen lernen. – Das ist mir gestern nicht eingefallen, und so hab ich unseren Herbergvater eine breite Lug geschenkt, und desweg will ich jetzt frei wieder zurückgehen und die Sach in Richtigkeit bringen.«

»Nein, zurückgehen tun wir nicht«, sagte ich, und in meinen Augen wird Wasser zu sehen gewesen sein.

»Ja«, rief der Vater, »was wirst denn sagen, wenn du Unsere Liebe Frau bist und einer kommt von weither zu dir, daß er dich verehren möcht, und bringt dir eine großmächtige Lug mit?!«

»Gar so groß wird sie wohl nicht sein«, meinte ich und sann auf Mittel, das Gewissen meines Vaters zu beruhigen. Da fiel mir was ein, und ich sagte folgendes: »Ihr habt nur erzählt, daß Ihr Euer Lebtag keine Pfeife im Mund gehabt hättet. Das kann ja wohl wahr sein. Ihr habt bloß das Rohr und von dem nur die Spitze im Mund gehabt.«

Darauf schwieg er eine Zeitlang, und dann sagte er: »Du bist ein verdammt hinterlistiger Kampel. Aber verstehst, das Redenverdrehen laß ich dir nicht gelten, und auf dem Kirchfahrtweg schon gar nicht. Ich hab's so gemeint, wie ich's gesagt hab, und der Bauer hat's so verstanden.«

»So müsset es halt gleich beichten, wenn wir nach Zell kommen«, riet ich – darauf ging er ein, und wir zogen und beteten weiter.

Beim Radwirt hielten wir an, mußten uns stärken. Wir hatten nun die Radsohl zu übersteigen, den Sattel der Veitschalpe, die mit ihren Wänden schon lange auf uns hergestarrt hatte. Die Wirtin schlug die Hände zusammen, als sie den kleinwinzigen Wallfahrer vor sich sah, und meinte, der Vater werde mich wohl müssen auf den Buckel nehmen und über den Berg tragen, wenn ich nicht brav Wein trinke und Semmel esse.

Hinter dem Wirtshaus zeigte eine Hand schnurgerade den steilen Berg hinan: »Weg nach Mariazell«. Aber ein paar hundert Schritt weiter oben am Waldschachen stand ein Kruzifix mit der Inschrift: »Hundert Tag Ablaß, wer das Kruzifix mit Andacht küsset, und fünfhundert Tag vollkommenen Ablaß, wer Gelobt sei Jesus Christus sagt.«

Auf der Stelle erwarben wir uns sechshundert Tage Ablaß.

Dann gingen wir weiter, durch Wald, über Blößen und Geschläge, bald auf Fahrwegen, bald auf Fußsteigen, und nach einer Stunde waren wir oben.

Wir setzten uns auf den weichen Rasen und blickten zurück in das weite Waldland, über die grünen Berge hin bis in die fernen blauen. Und zwischen den blauen heraus erkannte mein Vater jenen, auf welchem unser Haus steht. Dort ist die Mutter mit dem kleinen Brüderlein, dort sind sie alle, die uns nachdenken nach Zell. Wie müssen die Leute jetzt winzig klein sein, wenn schon der Berg so klein ist wie ein Ameisenhaufen! –

Es war die Mittagsstunde. Wir vermeinten vom Veitschtal herauf das Klingen der Glocke zu hören.

»Ja«, sagte dann mein Vater, »wenn man's betrachtet, die Leut sind wohl recht klein gegen die große Welt. Aber schau, mein Büberl, wenn schon die Welt so groß und schön ist, wie muß es erst im Himmel sein?«

Ich habe die Frage nicht beantwortet.

Wir erhoben uns und gingen den ebenen Weg, der hoch auf dem Berg dahinführt, und ich sah schaudernd zum schroffen Gewände der Veitsch empor, das schier drohend, als wollte es niederstürzen, auf uns herabstarrte. Endlich standen wir vor einem gemauerten Kreuz, in dessen vergitterter Nische ein lieber, guter Bekannter war. Der heilige Nikolaus, der mich alljährlich zu seinem Namenstag mit Nüssen, Äpfeln und Lebzelten beschenkte, anstatt daß ich es ihm tat. Und von diesem Kreuz sahen wir hinab auf die Zeller Seite. Doch wir sahen noch lange nicht Zell; wohl aber ein so wildes, steinernes Gebirge, wie ich es früher meiner Tage nicht gesehen hatte. Ein Gebet beim Nikolo, und wir stiegen hinab in die fremde, schauerliche Gegend.

Wir kamen durch einen finsteren Wald, der so hoch und dicht war, daß kein Gräslein wuchs zwischen seinen Stämmen. Mein Vater erzählte mir Raub- und Mordgeschichten, welche sich hier zugetragen haben sollen, und ein paar Tafeln an den Bäumen bestätigten die Erzählungen. Ich war daher froh, als wir in das Tal kamen, wo wieder Wiesen und Felder waren und an der Straße wieder Häuser standen.

Wir waren bald in der Wegscheide, wo sich drei Wege teilen, der eine geht nach Veitsch und auch nach Neuberg, der andere nach Seewiesen, und den dritten weist eine Hand: »Weg nach Mariazell«.

»Wenn du nach Zell gehst, so wirst du die größte Kirche und die kleinste Kirche sehen«, sagte mein Vater, »die größte finden wir heut auf den Abend, zur kleinsten kommen wir jetzt. Schau, dort unter der Steinwand ist schon das rote Türmlein.«

Das Wirtshaus war freilich viel größer als die Kirche; in demselben stärkten wir uns für den noch dreistündigen Marsch, der vor uns lag.

Dann kamen wir an der gezackten Felswand vorüber, die hoch oben am Berg steht und »die Spieler« genannt wird. Drei Männlein sitzen dort oben, die einst in der Christnacht hinaufgestiegen waren, um Karten zu spielen. Zur Strafe sind sie in Stein verwandelt worden, und sie spielen heute noch.

Die Straße ist hin und hin besät mit Wegkreuzen und Marienbildern; wir verrichteten vor jedem unsere Andacht, und dann schritten wir wieder vorwärts, wohl etwas schwerfälliger als gestern, und im Rockschoß meines Vaters schlug fort und fort das unbekannte Ding hin und her.

Neben uns rauschte ein großer Bach, der aus verschiedenen Schluchten, zwischen hohen Bergen, hervorgekommen war. Die Berge waren hier gar erschrecklich hoch und hatten auch Gemsen.

»Jetzt rinnt das Wasser noch mit uns hinaus«, sagte mein Vater, »paß auf, wenn es gegen uns rinnt, nachher haben wir nicht mehr weit nach Zell.«

Wir kamen nach Gußwerk. Das hatte wunderprächtige Häuser, die waren schön ausgemeißelt um Türen und Fenster herum, als ob sich die Steine schnitzen ließen wie Lindenholz. – Und da waren ungeheure Schmieden, aus deren finsterem Innern viel Lärm und Feuerschein herausdrang. Wir eilten hastig vorbei, und nur bei der damals neuen Kirche kehrten wir zu. Das war wunderlich mit dieser Kirche, nur ein einzig Christuskind war darin und sonst gar nichts, nicht einmal Unsere Liebe Frau. Und so nahe bei Mariazell! Die Lutherischen sollen es geradeso haben. Wir gingen bald davon.

Und als wir hinter dem letzten Hammerwerk hinaus waren und sich die Waldschlucht engte, daß kaum Straße und Wasser nebeneinanderlaufen konnten, siehe, da war das Wasser so klar und still, daß man in der Tiefe die braunen Kieselsteine sah und die Forellen – und das Wasser rann gegen uns.

»Jetzt, mein Bübel, jetzt werden wir bald beim Urlaubkreuz sein«, sagte der Vater, »bei demselben siehst den zellerischen Turm.«

Wir beschleunigten unsere Schritte. Wir sahen die Kapelle, die gerade vor uns auf dem Berge stand und die Sigmundskapelle heißt. Da oben hat vor noch nicht lange ein Einsiedler gelebt, der sich nicht für würdig gehalten, bei der Mutter Gottes in Zell zu sein, und der doch ihr heiliges Haus hat sehen wollen jede Stund. Ein Vöglein hätte ich mögen sein, daß ich hätte hinauffliegen können zum Kirchlein und von dort aus Zell etliche Minuten früher schauen als von der Straße aus.

An der Wegbiegung sah ich an einem Baumstamm ein Heiligenbild.

»Ist das schon das Urlaubkreuz?«

»Das kleine«, sagte mein Vater, »das ist erst vom Urlaubkreuz das Urlaubkreuz. Schau, dort steht das große.«

Auf einem roten Pfahl ragte ein roter Kasten, der hatte ein grün angestrichenes Eisengitter, hinter welchem ein Bildnis war. Wir eilten ihm zu; ich hätte laufen mögen, aber mein Vater war ernsthaft. Als wir vor dem roten Kreuz standen, zog er seinen Hut vom Kopf, sah aber nicht auf das Bild hin, sondern in das neu hervorgetretene Tal hinaus und sagte mit halblauter Stimme: »Gott grüß dich, Maria!«

Ich folgte seinem Auge und sah nun durch die Talenge her und durch die Scharte einiger Bäume eine schwarzglänzende Nadel aufragen, an welcher kleine Zacken und ein goldener Knauf funkelten.

»Das ist der Zellerische Turm.«

Ein klein wenig haben wir alle beide geschluchzt. Dann gingen wir wieder – einen Schritt vorgetreten, und wir haben den Turm nicht mehr gesehen. Wir sollten ja bald an seinem Fuße sein.

Wir stiegen die letzte Höhe hinan und hatten nun auf einmal den großen Markt vor uns liegen und inmitten, hoch über alles ragend und von der abendlichen Sonne beschienen, die Wallfahrtskirche.

Die Stimmung, welche zu jener Stunde in meiner Kindesseele lag, könnte ich nicht schildern. So, wie mir damals, muß den Auserwählten zumute sein, wenn sie in Zion eingehen.

Wir taten wie alle andern auch: auf den Knien rutschten wir zum Gnadenbilde hin, und ich wunderte mich nur darüber, daß der Mensch auf den Knien so gut gehen kann, ohne daß er es gelernt hat.

Wir besahen an demselben Abend noch die Kirche und auch die Schatzkammer. An den gold- und silberstrotzenden Schreinen hatte ich lange nicht die Freude wie an den unzähligen Opferbildern, welche draußen in den langen Gängen hingen. Da gab es Feuersbrünste, Überschwemmungen, Blitzschläge, Türkenmetzeleien, daß es ein Schreck war. Es ist kaum eine Not, ein menschliches Unglück denkbar, das in der Zellerkirche nicht zur bildlichen Darstellung gekommen wäre. Wer hat diesen Volksbildersälen eine nähere Betrachtung gewidmet?

Wir stiegen auch auf den Turm; das war unerhört weit hinauf in den finsteren Mauern, und wie oft mochte der Rockschoß meines Vaters hin und her geschlagen haben, bis wir oben waren! Und endlich standen wir in einer großen Stube, in welcher zwischen schweren Holzgerüsten riesige Glocken hingen. Ich ging zu einem Fenster und blickte hinaus – was war das für ein Ungeheuer? Eine Kuppel der Nebentürme hatte ich vor Augen. Und, du heiliger Josef, wo waren die Hausdächer? Die lagen unten auf dem Erdboden. Dort auf dem weißen Streifen krabbelte eine Kreuzschar heran. Als der Türmer dieselbe gewahrte, hub er und noch ein zweiter an, den Riemen einer Glocke zu ziehen. Diese kam langsam in Bewegung, der Schwengel desgleichen, und als derselbe den Reifen berührte, da gab es einen so gewaltigen Schall, daß ich meinte, mein Kopf springe mitten auseinander. Ich verbarg mich wimmernd unter meinen Vater hinein, der war so gut und hielt mir die Ohren zu, bis die Kreuzschar einzog und das Läuten zu Ende war. Nun sah ich, wie die beiden Männer vergeblich an den Riemen zurückhielten, um die Glocken zum Stillstand zu bringen; hilfsbereit sprang ich herbei, um solches auch an einem dritten niederschlängelnden Riemen zu tun – da wurde ich schier bis zu dem Gebälk emporgerissen.

»Festhalten, festhalten!« rief der Türmer mir zu. Und endlich, als die Glocke in Ruhe und ich wieder auf dem Boden war, sagte er: »Kleiner, kannst wohl von Glück sagen, daß du nicht beim Fenster hinausgeflogen bist!«

»Ja«, meinte mein Vater, »kunnt denn da in der Zellerkirchen auch ein Unglück sein?«

Abends waren wir noch spät in der Kirche; und selbst als sich die meisten Wallfahrer schon verloren hatten und es auch an dem Gnadenaltar dunkel war bis auf die drei Ewigen Ampeln, wollte mein Vater nicht weichen. Gar seltsam aber war's, wie er sich endlich von seinen Knien erhob und in die Gnadenkapelle hineinschlich. Dort griff er in seine Rocktasche, langte den von mir unerforschten Gegenstand hervor, wickelte das graue Papier ab und legte ihn mit zitternder Hand auf den Altar.

Jetzt sah ich, was es war – ein Eisenzahn von unserer Egge war es.

Und am anderen Tag gegen Abend, als wir meinten, unsere Kirchfahrt so verrichtet zu haben, daß Maria und unser Gewissen zufrieden sein konnten, gingen wir wieder davon. Beim Urlaubkreuz blickten wir noch einmal zurück auf die schwarze, funkelnde Nadel, die zwischen zwei Bäumen hervorglänzte.

»Behüt dich Gott, Mariazell«, sagte mein Vater, »und wenn es Gottes Will, so möchten wir noch einmal kommen, ehvor wir sterben.« –

Dann gingen wir bis Wegscheid, dort hielten wir nächtliche Rast. Und am nächsten Tag überstiegen wir wieder den Berg und wanderten durch das Veitschtal. Als wir zu den Bauernhäusern der Niederaigen kamen, sprach mein Vater dort zu, wo wir auf dem Hinweg zur Nacht geschlafen hatten, und überreichte der Bäuerin ein schönbemaltes Bildchen von Mariazell.

Als wir am Abend desselben Tages heimgekommen waren und uns zur Suppe gesetzt hatten, soll ich, den Löffel in der Hand, eingeschlafen sein.


 << zurück weiter >>