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Als ich Bettelbub gewesen

Die schmale Straße, die durch den Wald ging, hatte weißen Sand und dunkles Moos, war zur sonnigen Zeit nicht staubig und an Regentagen nicht lehmig. Sie zog nicht in der Schlucht, sie zog auf der sanften Bergeshöhe hin, wo das kurze, grüne Heidekraut und in dünner Anzahl die alten, verknöcherten Fichtenbäumchen standen. Stellenweise ging der Weg über eitel grünen Rasen, und kein Wagengeleise war gedrückt; behendige Ameisenvölker trieben auf dieser Straße ihren Handel und Wandel.

Und doch erstreckte sich der Weg aus weitem her und war von Menschen getreten. Hie und da stand etwas wie ein Wegweiser, eine hölzerne, wettergraue Hand wies geradeaus oder seitab und sagte nicht, wohin. An anderen Stellen wieder, wo ein alter, flechtenbewachsener Baumstamm hart am Weg ragte, prangte daran ein rot angestrichenes Holzkästchen mit einem Liebfrauenbildnis oder mit einem »Martertaferl«, erzählend von einem Unglücksfall, der sich an der Stelle zugetragen, bittend um ein christlich Gebetlein. Oder es starrte aus dem Sand- und braunen Moosboden ein Kruzifix auf.

Ich habe in der weiten Welt keinen Weg mehr gefunden, der mir so grauenhaft heilig erschienen wäre als diese Straße, die durch unseren Wald strich und von der wir nicht wußten, woher sie kam und wohin sie ging. Denn doch! Erfahrene Leute sagten es ja, sie kam aus dem fernen Ungarland und führte nach Mariazell. 's ist ein ewiges Wandern von Sonnenaufgang her. Auch die wilden Türken vor drei- oder mehr hundert Jahren sollen diesen stillen Weg herangewütet sein; auch kleine Zigeunerbanden trippelten zuweilen auf demselben daher, und dann einmal ein Handwerksbursche oder ein Bettelmann oder ein Schwärzer kam des Weges und verneigte sich vor den Bildnissen und küßte sich vom Kruzifix etliche hundert Tage Ablaß herab.

Im ganzen jedoch war der Weg unsagbar einsam, und die wenigen Häuser standen fernab im Tal oder auf entlegenen Hügeln.

Doch war es alle Jahre einmal, zur Zeit der Bittage, in jener Maienwoche, in welcher unsere Religion das Fest der Himmelfahrt des Herrn feiert, daß auf diesem Waldweg eine förmliche Völkerwanderung ausbrach. Fremdartige Menschen in fremden Kleidern mit seltsamer Gebärde und Sprache wallten scharenweise heran. Sie hatten braune Gesichter, knochige Glieder und struppige Haare. Sie hatten scharfe, glühende Augen, weiße Zähne, lange tiefgebogene oder kühn aufgeworfene Nasen und fremdartige Züge um die Mundwinkel. Die Männer trugen weiße, flatternde, unten befranste Linnenhosen, die so weit waren, daß sie aussahen wie Kittel, und dunkelblaue Übermäntel mit breit zurückgeschlagenen Kragen und kleine Filzhütchen mit schmalen, aufgeringelten Krempen. Auch hatten sie blaue Westen an, besetzt mit einer Reihe von großen Silberknöpfen. Andere trugen wieder so enge weiße Beinkleider, als wären sie über und über an die Glieder gewachsen, und anstatt mit Stiefeln hatten sie die Waden und den Fuß in kreuz und krumm mit Binden umgeben. Auch hatten dieselben Männer schwere Übermäntel aus weißem Filz an ihren Achseln hängen, und diese Mäntel sowie auch die Beinkleider waren ausgeziert mit roten oder blauen Rändern, und allerlei Geschnüre schnörkelte sich um die Wämser.

Die Weiber trugen blauschwarze oder weiße Kittelchen, die kaum ein bißchen übers Knie hinabgingen und bei jedem Schritt keck hin und her schlugen. Bei anderen wieder waren die Kittel so eng und die schwarzen faltenlosen Schürzen so breit, daß bei jedem Schritt die Rundungen der Gestalt hervortraten. Ferner trugen sie hohe und schwere Stiefel, daß unter denselben der Sand knarrte, oder sie gingen gar barfuß und hatten Staubkrusten an den Zehen. Weiters staken die Weiber in kurzen schwarzen Spenserchen, oder sie hatten gar nur ein weites Hemd über Arm und Busen flattern. Die Köpfe hatten sie turbanartig mit einem Tuch umschlungen, unter dem die schwarzen Lockensträhnen hervorquollen.

So wogten sie lärmend und heulend heran, und jede Gestalt hatte ein weißes Bündel auf den Rücken gebunden und trug in der Hand einen weißen, glattgeschälten Stock. Diese Stöcke waren meist frisch in unseren Wäldern geschnitten, es waren Lärchenstäbe; auch an den Hüten trugen die Männer frisch geschnittene Lärchenzweige und Lärchenkränze; dieser herrliche Baum mit seinem weichen Genadel, wie er mit dem vielgestaltigen Hochrelief der Rinde seines Schaftes in der Form einer hellgrünen Pyramide unsere Alpenwälder schmückt, ist in jenen fernen, flachen Gegenden, aus denen die Scharen kamen, nimmer zu finden.

Die fremden Gestalten, welche in kleineren Rotten und großen Haufen einen ganzen Nachmittag lang heranströmten, kamen aus dem Ungarland und waren Madjaren und Slowaken. Es waren die Volksmassen, die alljährlich einmal aus ihren Heimatgemeinden davonwandern, um den weiten Weg von sechs bis acht Tagen bis zu dem weltberühmten Wallfahrtsort Mariazell zu wallen. Ungarische Herren und slawische Fürsten hatten einst viel zum Ruhme und zur Verherrlichung der Gnadenstätte zu Zell getan, und so wogt heute noch der Strom jener Völker dem berufenen Alpental zu und macht einen Hauptteil der gesamten Wallfahrer aus, die alljährlich in Zell erscheinen.

Es waren also fromme Wallfahrerscharen, die betend und singend unseren stillen Wald durchzogen. Jedes Häuflein trug eine lange rote Stange mit sich, auf welcher ein Kreuz mit bunten Bändern oder ein wallendes Fähnlein war. Vor jedem Kruzifix oder anderen Bildnissen, wie sie am Wege standen, verneigten sie tief diese Stange; und wenn sie zu jener Höhung herangestiegen waren, auf welcher dem Wanderer das erstemal die zackige Hochkette des Schwaben und der gewaltige Felskoloß der Hohen Veitsch sichtbar wird, standen sie still und senkten dreimal fast bis zur Erde ihren Fahnenstab. Begrüßten die Menschen aus dem Flachland die wild-erhabene Alpennatur? Nein. In der Felsenkrone jener Berge lag ihr heiliges Ziel, und das begrüßten sie mit Herz und Gebärden.

An diesem Punkt waren sie nur noch eine Tagreise entfernt von Zell; manche empfanden in solchem Gedanken zum Wandern neue Kraft, anderen sank der Mut im Anblick der blauenden Alpenwände, die zu übersteigen waren. Bisweilen schleppten die Fremdlinge einen Genossen mit sich, der unterwegs erkrankt war. Einmal trugen sie auf frischer Lärchenbaumtrage die Leiche eines auf der Straße verstorbenen Wandergenossen, um sie im nächsten Friedhof zu bestatten.

So hallten am ersten Tag der Bittwoche die grellstimmigen Gebete der Ungarn und die melancholischen Lieder der Slawen durch unsere Gegend. Die Leute traten aus den Häusern und horchten den seltsamen Stimmen; wir Kinder aber pflegten eine andere Sitte. Wir zogen unsere zerfahrensten Kleidchen an, und mit fliegenden Lumpen hüpften wir der Straße zu. Dort knieten wir nieder auf den Sand, aber so, daß wir auf unsere eigenen Fersen zu hocken kamen, und wenn eine der Kreuzscharen nahte, so rissen wir die Hauben vom Kopf, stellten dieselben als Gefäß vor uns hin und schlugen zuerst mit zagender, bald mit kecker Stimme zahlreiche Vaterunser los.

Die Früchte blieben nicht aus. Männer schossen Kreuzer in unsere Hauben, Weiber warfen uns Brot und Kuchen zu, welche sie, wie die Spuren ihrer Zähne daran bewiesen, ihrem eigenen Munde entzogen hatten. Andere hielten gar an und öffneten ihre Bündel und kramten drin herum und reichten uns Backwerk, und manch alt Mütterlein, das unsertwegen auf ein paar Minuten zurückgeblieben war, konnte die Schar wohl oft stundenlang nicht mehr erreichen.

Manchmal stellten die Fremden Fragen an uns, die wir nur mit glotzenden Augen zu beantworten wußten. Je seltsamer ihr Wesen und ihre Sprache war, desto feiner und liebreicher zeigte sich die Gabe; vielleicht dachten die Geber an ihre Angehörigen in ferner Heimat, denen die Liebe galt, die uns fremden Kindern erwiesen wurde. Je brauner die Gesichter, desto weißer war das Brot – wir hatten die Erfahrung bald gemacht.

Bisweilen wurden wir auch in deutscher Sprache angeredet: wie wir hießen, wem wir gehörten, wieviel unser Vater Ochsen hätte und ob wir auch Kornfelder besäßen. Des Grabenbergers Natzelein war unter uns, das gab stets die Antwort und log fürchterlich dabei: Wir gehörten armen Holzhauerleuten an, der Vater wäre vom Baum gefallen, und die Mutter läge krank schon seit Jahr und Tag; Ochsen hätten wir nicht, aber zwei Ziegen hätten wir gehabt, und die hätte der Wolf gefressen. Mit einem Kornacker wär's schon gar nichts, aber Pilze äßen wir, und die wären heuer noch nicht gewachsen. – Ich bohrte vor heimlicher Wut über derlei unwahre Darstellungen die Zehen hinter mir in die Erde. Ja, das Natzelein verfing sich derart in das Lügen, daß es schließlich selbst unsere ehrenhaften Taufnamen falsch angab.

Die guten Ungarn schlugen hell die Hände zusammen über so arme Würmer, dann blickten sie in die Waldgegend hinaus und meinten, es wäre leicht zu glauben, es wäre eine elende Gegend; gar der Schnee lag noch hie und da in den Gruben, zu einer Zeit, da auf den weiten Ebenen draußen längst das Korn in Ähren stand. Sie griffen dann tief in den Sack.

Das Natzelein war mir seiner Aufschneidereien wegen eigentlich redet verleidet, aber ich getraute mich vor den Fremden kein Wort zu sagen; und wenn sie mich zuweilen doch dahin brachten, daß ich den Mund aufmachte, so ward das Wort so ängstlich und leise herausgemurmelt, daß sie mich nicht verstanden. Die anderen, besonders das Natzelein, kriegten daher immer mehr in ihre Hauben als ich; nur dann und wann ein mildherziges Weiblein legte mir, dem »Hascherl«, was bei.

Einmal – ich und des Grabenbergers Natzelein waren allein – gerade vor dem Herannahen einer größeren Schar, nahm ich eine Stellung ein, die vorteilhafter war als der Platz, auf welchem das Natzelein hockte. Das Natzelein war darüber erbost, und als die Gaben wirklich in größeren Mengen mir zuflogen, rief er aus: »Der da ist eh reich, sein Vater hat vier Ochsen und einen großen Grund! Vater unser, der du bist usw.«

Auf der Stelle wendete sich das Glück, und alles Brot und Geld wäre in den Hut des Natzelein geflogen; da erhob ein Mann, der mitten unter den Wallfahrern stand, das Wort: »Schaut einmal den neidischen Schlingel an! Ihr seid beide nicht so arm, als daß ihr ohne unser Brot verhungern müßtet, und auch nicht so reich, als daß wir euch die kleinen Gaben versagen wollten. Ihr seid Waldbauernkinder, aber ich gebe meinen Sechser diesmal dem da, dessen Vater vier Ochsen hat!«

Mein Lebtag vergeß ich's nimmer, wie jetzt die Batzen in mein Häublein klangen – hell zu Dutzenden, und ich konnte nachgerade nicht schnell genug die »Vergeltsgott« sagen, daß auf jeden eins kam. Und da dieser wundersame Hagel, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, gar nicht wollte aufhören, konnte ich die Lust in meinem Herzen nimmer verhalten, in ein helles Wiehern und Lachen brach ich aus; das Natzelein aber schleuderte seine fast leer gebliebene Haube auf die Straße und schoß wütend in den Wald hinein.

Mit Gelächter zog die Kreuzschar ab. Und ich hub an, meine Schätze zu zählen; in der Kappe und um dieselbe, im Sand und auf dem Moos und im Heidekraut lagen die Kreuzer und Groschen und Sechser zerstreut. Und als ich sie alle versammelt hatte, wollte ich wohl verzichten auf alle weiteren Wallfahrertruppen, die heute noch kommen konnten, wollte schnurstracks heim zu meinen Eltern laufen, um ihnen das unermeßliche Glück zu verkünden. Da bin ich plötzlich angepackt von rückwärts, zu Boden geworfen, und auf meiner Brust reitet das Natzelein. Mit seinen strammen Händen preßt er meine Arme tief in das Heidekraut hinein, und so grinst er mir ins Gesicht.

Stärker bin ich nicht als er, dachte ich bei mir, wenn ich jetzt nicht gescheiter bin, so ist's um mich gefehlt.

»Du!« murmelte das Bürschlein zwischen den Zähnen hervor, »gib mir die Hälfte vom Geld!«

»Nein«, sagte ich trocken.

»So nehm ich mir's selber!«

»Dann spring ich auf.«

»Aber ich laß dich nicht los!«

»Dann kannst du das Geld nicht nehmen.«

»Ich setz dir meine Knie auf die Gurgel!«

»Ich laß mich umbringen.«

Zum Glück hallte jetzt der Gesang einer neuen Kreuzschar. Wir beide sprangen auf, stürzten zur Straße hin und lallten unser Gebet.

Das von den vielen Abenteuern an der Straße nur als einzig Stücklein.

Und wenn das Tagwerk vorbei war, so versammelten wir Kinder uns auf der Au, wo die Schafe noch grasten, und tauschten unsere Gaben um, wie sie jedem eben entsprachen. Geld war stets der gesuchteste Artikel; nur die Kinder armer Kleinhäusler und Köhlersleute gaben feine Leckerbissen und Kreuzerchen für ein schwarzes Stück Brot, wenn es nur groß war.

Am fünften Tag kehrten die Scharen stets auf demselben Wege wieder zurück. Und jeder von den Wallfahrern hatte an seiner Brust einen oder mehrere Rosenkränze hängen oder Amulette, Frauenbildchen und funkelnde Kreuzlein und Herzen. Die Mädchen trugen rote und grüne Krönlein von Wachs auf ihrem Haupt. Die Bündel auf den Rücken hatten sich sehr bedeutend verkleinert, und die Brote, die wir bekamen, waren hart, und Geldstücke sprangen spärlich hervor aus den Taschen. Doch lohnte sich das Hocken immer noch, und die Erwartung der Gabe war mindestens so anziehend als die Gabe selbst.

Einmal, ich war schon an die zehn Jahre alt geworden, kniete ich ganz allein am Stamm eines Kruzifixes, und recht zungenfertig im Vaterunserhersagen, wie ich endlich geworden war, kehrte ich alle Vorteile des Absammlers heraus und hoffte reichlichen Gewinn. Da kam eine Kreuzschar; ein paar Brötchen wurden mir zugeworfen, und sie war vorüber. Nur ein schon betagter, gutmütig aussehender Mann war zurückgeblieben, schritt ganz nahe an mich heran, neigte ein wenig sein Haupt zu mir nieder und sagte: »Bettelbub!« Dann ging er den anderen nach.

Mir war das halbe Vaterunser im Mund steckengeblieben. Ich glotzte eine Weile um mich, dann stand ich langsam auf und schlich davon. Das war mein letztes Hocken gewesen an unserer Waldstraße.

Bettelbub! – Das Wort hat mich aufgeweckt. Ein junger, gesunder Bursche, der stolz ist, daß sein Vater Haus und Hof besitzt, ein sonst gar etwas hoffärtiger Bursche, der mit seinem neuen grünen Hut sonntags schon etlichemal gleich den Knechten ins Wirtshaus gegangen ist, der es demnächst mit dem Tabakrauchen probieren wird und der nicht allzu selten ins Fensterglas guckt, wie es mit dem Bart steht – ein solcher Bursche betteln!

Auch das Natzelein tut's nimmer. Das Natzelein ist ein reicher Bauer geworden, und er gibt, wenn man ihm glauben darf, jeden Tag erklecklich Almosen an wahrhaft dürftige Bettelleute.

Und die Madjaren und die Slowaken kommen noch heute jenen einsamen Waldweg gezogen, immer an Kinder, die am Wege kauern, Gaben spendend, in ihrem Beten und Flehen selbst Bettelleute vor der Gnadenmutter zu Zell.


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