Max Ring
Lose Vögel
Max Ring

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Gott hat gerichtet.

I.

Um den behaglichen Theetisch saß der Gutsbesitzer Geldern und seine Familie, bestehend aus seiner jungen Frau und seiner Schwester Martha, die seit einigen Tagen bei ihm als gern gesehener Gast verweilte. Sein Vater war noch immer einer der angesehensten Kaufleute in der nahe gelegenen, großen Handelsstadt, obgleich derselbe durch gewagte Unternehmungen in der letzten Zeit manchen schweren Verlust erlitten hatte. Eine bedeutende Erbschaft jedoch, die ihm oder vielmehr seinen Kindern unter eigenthümlichen Umständen zufiel, stützte von Neuem den bereits wankenden Credit des Hauses, so daß die wohlbekannte Firma »Geldern und Compagnie« nach wie vor ihren früheren Ruf behauptete. Gleich nach der 56 drohenden Krisis hatte sich der Sohn von den Geschäften zurückgezogen und das Landgut angekauft, auf dem er mit den Seinigen glücklich und zufrieden in ländlicher Abgeschiedenheit und fern von dem Treiben der großen Stadt lebte. Trotz aller Pietät und kindlichen Liebe stimmte er nicht mit den Grundsätzen und Anschauungen seines Vaters überein, der von jeher einen großen Aufwand machte und ein geräuschvolles Leben liebte, während der Sohn eine stille, bescheidene Existenz vorzog. In seinem Hange zum Luxus wurde der ältere Geldern noch durch den Umstand bestärkt, daß er sich zum zweiten Male mit einer noch jungen, lebenslustigen Frau verheirathet hatte, welche einer alten, adligen und trotz ihrer nichts weniger als glänzenden Vermögensverhältnisse, höchst anspruchsvollen Familie angehörte. Die schöne Fanny übte eine unbeschränkte Herrschaft über den schwachen Mann aus, der ihr keinen Wunsch versagen konnte. Ihr zu Gefallen verschwendete Herr Geldern seine bedeutenden Summen auf den Umbau seines Hauses, das er mit wahrhaft fürstlicher Pracht erst vor Kurzem eingerichtet hatte, auf den Ankauf einer prächtigen Villa, auf Bälle, Feste und große Gesellschaften. Auch die sanfte, aber charakterfeste Tochter Martha theilte diese Neigung 57 zum Luxus nicht und sympathisirte wenig oder gar nicht mit ihrer Stiefmutter. Das junge Mädchen zeigte für ihre Jahre einen auffallenden Ernst, der durch den plötzlichen Tod des ihr bestimmten Bräutigams nur noch gesteigert wurde. Dieser, welcher Hartlieb hieß, war ein edler junger Mann und der beste Freund des jungen Geldern gewesen. Schon längere Zeit leidend, wurde er durch die Nachricht, daß sein Bruder auf der Rückfahrt aus Amerika mit seinem Schiffe untergegangen sei, so sehr erschüttert, daß seine Krankheit eine bedenkliche Wendung nahm und er in einem Anfalle von Brustkrampf starb. Ein Codicill zu seinem bereits vor längerer Zeit niedergelegten Testament ernannte seinen Jugendfreund Heinrich von Geldern und dessen Schwester zu seinen Universalerben, da er außer seinem verunglückten Bruder keinen näheren oder selbst entfernten Verwandten besaß und somit das große Vermögen an den Fiskus gefallen wäre. Die reiche, unerwartete Erbschaft konnte zu keiner gelegeneren Zeit kommen, um den bereits wankenden Credit des durch gewagte Spekulationen und seine Verschwendung halb ruinirten Kaufmanns wieder zu befestigen. Bald stand derselbe an der Börse so hochgeachtet wie früher da, seine Gesellschaften waren 58 glänzender und besuchter als je, nur aufmerksame Beobachter glaubten seit jener Zeit eine gewisse Verstimmung und auffallende Zerstreutheit an dem älteren Geldern wahrzunehmen.

Um so zufriedener und glücklicher fühlte sich der Sohn im Besitze seiner trefflichen Frau, welche seine Anspruchslosigkeit theilte, und zweier prächtiger Kinder, eines Knaben, der das Ebenbild des Vaters war und zur Erinnerung an den verstorbenen Jugendfreund August hieß, und eines Mädchens, das die Schönheit und die Tugend der Mutter geerbt zu haben schien. Sein Glück wurde, wenn dies noch möglich war, durch die Anwesenheit der geliebten Schwester vermehrt, die an dem Bruder mit gleicher Neigung hing. Man konnte sich kein reizenderes Familienbild denken, als die kleine Gesellschaft um den Theetisch bot. Die Augen des jungen Mannes strahlten von Freude und innerer Seligkeit, wenn er auf seine Frau blickte, welche auf ihrem Schooß das holde Töchterchen hielt, das seine kleinen Arme um den Nacken der Mutter schlang, während der Knabe sich zärtlich an die liebevolle Tante schmiegte und ihr seinen rosigen Mund zum Abschiedskusse bot, da es bereits dunkelte und die Stunde geschlagen hatte, wo die Kinder zu Bette gingen. Nachdem die Kleinen das Zimmer zwar gehorsam, 59 aber nicht ohne Widerstreben verlassen hatten, rückten die Zurückgebliebenen zum traulichen Gespräche am Kamin zusammen. Die alten Erinnerungen tauchten wieder auf, und mit Wehmuth gedachten sie des geschiedenen Freundes. Als die junge Frau, welche Clara hieß, die Thräne in dem Auge ihrer Schwägerin bemerkte, die den Geliebten noch immer tief betrauerte, suchte sie dem Gespräche eine heitere Wendung zu geben, was ihr auch gelang. Bald herrschte wieder in dem Kreise der trefflichen Menschen jene wohlthuende Stimmung, die aus dem innigsten Verständniß und der herzlichen Einigkeit der auch geistig Verwandten hervorging. –

Die Unterhaltung, welche hauptsächlich Familienverhältnisse betraf, wurde durch den Eintritt des Bedienten unterbrochen, der die Ankunft zweier fremden Herren meldete, die den Besitzer des Gutes zu sprechen wünschten.

»Ein Besuch und zu so später Stunde!« rief verwundert die Hausfrau.

»Vielleicht Bekannte aus der Stadt,« entgegnete Heinrich unbefangen, »die uns überraschen wollen.«

»O,« scherzte Clara, »mich sollen sie gerüstet finden. 60 Küche und Keller sind gut versehen, so daß ich mit Ehren zu bestehen hoffe.«

»Haben Ihnen die Herren nicht ihren Namen gesagt?« fragte Heinrich den noch immer wartenden Bedienten.

»Nein, sie erkundigten sich nur, ob die Damen noch wach wären, und als ich es bejahte, trugen sie mir auf, den Herrn um eine geheime Unterredung zu ersuchen.«

»Das ist doch seltsam. Es wird sich wohl nur um ein Geschäft handeln, das bald abgemacht sein wird. Vielleicht sind es die Holzhändler, welche mir früher einmal den Forst abkaufen wollten.«

»Jedenfalls wollen wir uns zurückziehen,« sagte die Hausfrau, indem sie die Hand ihrer Schwägerin ergriff. »Hoffentlich werden die Herren Dich nicht allzulange aufhalten. Auf baldiges Wiedersehen!«

Nachdem sich die Damen entfernt hatten, gab Heinrich dem Bedienten einen Wink, die wartenden Herren eintreten zu lassen. Er war nicht wenig erstaunt, als er den ihm wohlbekannten Kriminalrath aus der benachbarten Stadt in Begleitung einer andern Gerichtsperson erblickte.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres heutigen Besuches?« fragte er verwundert. 61

»Sie werden den Grund meines Kommens sogleich erfahren,« entgegnete der Kriminalrath Lauter im ernsten Tone. »Zuvor muß ich Sie ersuchen, mir einige Fragen, die ich im Auftrage des Gerichtes an Sie zu richten habe, der Wahrheit gemäß zu beantworten.«

»Gern, aber ich begreife nicht –«

»Sie kannten einen jungen Mann, Namens August Hartlieb, der vor ungefähr einem Jahre gestorben ist?«

»Er war mein bester Freund.«

»Durch seinen Tod sind Sie in den Besitz eines bedeutenden Legats gelangt. Außerdem hat die Firma Geldern und Kompagnie eine Quittung von der Hand des Verstorbenen unterzeichnet präsentirt, worin der Empfang einer Summe von 80,000 Thalern bescheinigt wird, die das genannte Haus von Herrn Thomas Hartlieb in Amerika zur Aufbewahrung erhalten hat.«

»Allerdings! So verhält es sich. Der Bruder meines verstorbenen Freundes hat uns dieses Geld anvertraut, um es in inländischen Staatspapieren anzulegen. Da er bekanntlich auf seiner Rückkehr nach Europa den Tod im Meere fand, war Herr August Hartlieb sein natürlicher Erbe. Er hat die uns übergebene Summe quittirt und 62 mir und meiner Schwester in seinem Testamente sein ganzes übriges Vermögen hinterlassen. Doch erklären Sie mir, was das Alles zu bedeuten hat, da ich nicht begreife, wozu Sie diese Fragen an mich richten.«

»Sie werden die nöthige Aufklärung bald genug erhalten,« antwortete der Kriminalrath, indem er einen prüfenden Blick auf Heinrich warf, der sich unter solchen Umständen einer leichten Verwirrung nicht erwehren konnte.

»Aber mein Gott!« rief er bestürzt, »was ist denn vorgefallen? Das sieht ja wie eine gerichtliche Untersuchung aus!«

»Ich thue nur, was mein Amt von mir fordert, und muß Sie nochmals ersuchen, meine Fragen offen zu beantworten. – Kurz vor dem Ableben des verstorbenen Hartlieb sind Sie in seiner Wohnung gesehen worden.«

»Ich begab mich sogleich an das Lager meines Freundes, sobald ich erfahren hatte, daß er in Gefahr schwebte.«

»Der alte Bediente, der ihn pflegte, entfernte sich, um ein Rezept in die Apotheke zu tragen. Sie blieben allein in dem Zimmer des Kranken, der in seinem Schlafkabinette ohne Besinnung lag. In dem Zimmer befand sich ein offener Schreibsekretair mit verschiedenen wichtigen Papieren.« 63

»Ich wunderte mich damals über die Nachlässigkeit meines Freundes und noch mehr über die Sorglosigkeit des Bedienten, mit dem ich darüber sprechen wollte.«

»Sie geben also zu, daß Sie allein in der Wohnung des ohnmächtigen Kranken waren?«

Einen Augenblick nur stockte Heinrich, ehe er die bejahende Antwort auf die Frage gab, deren Wichtigkeit er vollkommen zu begreifen schien. Es war, als ob er einen inneren Kampf zu bestehen hätte, ehe er dies gravirende Geständniß ablegte. Seine Bewegung war dem scharfen Blicke des Kriminalraths nicht entgangen, dessen Verdacht dadurch nur noch bestärkt werden mußte.

»Auf dem Schreibsekretair,« fuhr dieser fort, »wurde bei späteren Nachsuchungen ein Blatt Papier gefunden. Dasselbe enthält den mit verstellter Hand geschriebenen Entwurf zu dem Testaments-Codicill Ihres verstorbenen Freundes. Wissen Sie vielleicht, wer diese augenscheinlichen Fälschungs-Versuche angestellt hat?«

Beim Anblick dieses verrätherischen Dokuments, das der Kriminalrath Heinrich mit einer gewissen Vorsicht vorhielt, ohne ihn aus den Augen zu lassen, verlor der Angeschuldigte seine bisherige Fassung. Als er einen 64 erschrockenen Blick auf das gefährliche Blatt warf, stieß er unwillkürlich einen Schrei der Ueberraschung aus; seine Wangen verfärbten sich und seine Glieder zitterten, so daß er sich an dem nächsten Stuhle festhalten mußte, um nicht umzusinken. Der Kriminalrath selbst hatte eine solche Wirkung kaum gehofft, und wenn er noch bisher an der Schuld des jungen Geldern gezweifelt, so konnte er nach solch sprechenden Beweisen nicht länger anstehn, seine Pflicht zu thun.

»Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie,« rief er jetzt mit lauter Stimme, »wegen Fälschung von Urkunden und eines Testamentes.«

»O, das muß ein Irrthum sein. Ich ein Gefangener! Bedenken Sie, Herr Kriminalrath, was Sie thun! Ich bin unschuldig, bei Gott, vollkommen unschuldig.«

In dem Ton des so unerwartet Angeklagten lag eine eigenthümliche Kraft der Ueberzeugung, so daß der erfahrene Kriminalrath einen Moment irre wurde und unwillkürlich schwankte; aber die Beweise waren zu dringend, um nicht bei seiner ersten Meinung zu verharren.

»Es thut mir leid, aber ich kann nicht anders handeln, wie es meine Pflicht fordert. Sie selbst haben meinen Verdacht nur bestätigt.« 65

»Wer würde nicht erschrecken vor einer solchen Beschuldigung? Doch werden Sie selbst einsehen, daß die vorhandenen Beweise nicht hinreichen, um meine Verhaftung zu rechtfertigen. Ich fordre, meinem Ankläger gegenübergestellt zu werden. Wer hat es gewagt, mich eines so schweren Verbrechens zu beschuldigen, dem mein ganzes bisheriges Leben widerspricht.«

»Ich habe keinen Grund, Ihnen den Namen Ihres Anklägers zu verschweigen. Die gerichtliche Anzeige einer Testamentsfälschung hat Herr Thomas Hartlieb selbst gemacht.«

»Thomas, Thomas Hartlieb!« rief Heinrich verwundert aus, »der Bruder meines verstorbenen Freundes! Hier muß ein Mißverständniß obwalten, da der einzige Mann, der diesen Namen führte, in den Wellen des Meeres umgekommen ist.«

»Haben Sie wirklich diese wohlerfundene Fabel geglaubt?« fragte der Kriminalrath ironisch. »Das Gerücht war falsch. Herr Hartlieb hat allerdings Schiffbruch gelitten, aber er ist glücklich gerettet worden und in die Heimath zurückgekehrt, um sein Vermögen und seine Rechte zurückzufordern.« 66

»Die wird ihm Niemand vorenthalten, wenn er wirklich am Leben ist, was mir aber wie ein Mährchen klingt. Warum hat er sich nicht an mich oder meinen Vater gewendet? Wir hätten uns sicher nicht geweigert, ihm sein rechtmäßiges Eigenthum zurückzugeben.«

»Er hat es gethan, sich Ihrem Vater vorgestellt und wurde als Betrüger schimpflich von ihm fortgejagt.«

»Unmöglich, Herr Kriminalrath! Verzeihen Sie, aber ich kann es nicht glauben.«

»So überzeugen Sie sich selbst, da Herr Thomas Hartlieb im Vorzimmer wartet, um mit Ihnen confrontirt zu werden, wenn es nöthig ist.«

»O, lassen Sie mich ihn sehen, ihn sprechen, und ich bin fest überzeugt, daß er seine ungerechtfertigte Anklage zurücknehmen, seine Beschuldigungen widerrufen wird. Er kennt mich, wir sind mitsammen aufgewachsen, ich war sein Freund, der Freund seines Bruders.«

Der Kriminalrath gab dem Beamten den Auftrag, den Zeugen Thomas Hartlieb zu rufen. Derselbe war noch ein junger Mann mit finsteren Zügen, obgleich er seinem verstorbenen Bruder sehr ähnlich sah. Bei seinem Anblick konnte sich Heinrich der Erinnerung nicht erwehren, 67 er vergaß, daß er seinem Ankläger gegenüberstand und eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, um ihn an sein Herz zu drücken.

»Was soll die Komödie?« fragte Thomas ironisch, indem er ihm auswich.

»Wie, Du kennst mich nicht? Bin ich nicht Dein Freund?«

»Zum Teufel! ich habe keinen Freund. Was soll ich hier?«

»Ich wollte Dich nur sehen,« stammelte Heinrich, bestürzt über den kalten Empfang. »Du kannst mich nicht für schuldig halten. Nimm Dein Geld zurück und laß Deine Anklage schwinden, die Dir nur der augenblickliche Zorn eingegeben haben kann.«

»Meine Rache ist mir nicht feil, und wenn mir Millionen jetzt geboten würden. Ich will die ganze Heuchlerbrut entlarven.«

»Träume ich denn? Redet so mein Freund, der Bruder meines unvergeßlichen Hartlieb?«

»Zur Hölle mit Eurer Freundschaft! Ihr Vater hat mir die Augen geöffnet, als er mich wie einen räudigen Hund von seiner Schwelle jagte. Als ein armer Schiffbrüchiger kam ich in sein Haus, ohne Obdach, ohne Geld, 68 als ein Bettler, der verhungern mußte. Ich bat um Hülfe, ich streckte meine abgezehrten Hände ihm entgegen, und er – er kannte mich nicht, oder wollte mich vielmehr nicht kennen. Ich nannte ihm meinen Namen, ich erinnerte ihn an die alte Freundschaft unserer Häuser, und er schimpfte mich einen Abenteurer, einen Betrüger, dem er durch seine Lakaien die Thüre weisen ließ.«

»Ich kann es noch immer nicht glauben. Er selbst muß getäuscht, hintergangen worden sein.«

»Das ist wahr. Einen Augenblick schien es, als wenn er sich besinnen wollte, aber da näherte sich ihm die Schlange, Ihre Stiefmutter, und warf ihm einen Blick zu. O! ich hab' es wohl bemerkt, wie er zusammenfuhr und wie das Gewissen sich in ihm regte, aber das Weib beherrschte ihn mit ihren höllischen Augen. Er rang mit sich selbst; da zog sie ihn fort und er war schwach genug, seinem bösen Dämon zu folgen.«

»Vergeben Sie meinem Vater, wenn er Sie gekränkt hat. Ich aber habe Ihnen nie ein Leids gethan, Sie stets wie einen Bruder geliebt und aufrichtig Ihren vermeintlichen Tod beweint. Nie habe ich den Gedanken gehabt, Sie zu hintergehen oder zu benachtheiligen. Hätten Sie zuerst an 69 meine Thüre geklopft, ich hätte Sie wie meinen nächsten Verwandten empfangen und keinen Augenblick mich geweigert, Ihre Ansprüche anzuerkennen.«

»Ich wollte es nicht auf einen zweiten Versuch ankommen lassen; ich hatte an dem ersten zur Genüge.«

»Bedenken Sie, was Sie thun. Sie beschuldigen mich eines unerhörten Verbrechens und vernichten mein Lebensglück, indem Sie Schmach und Schande auf mich häufen. Sie trifft mich leider nicht allein; ich bin seit längerer Zeit verheirathet, der Gatte eines geliebten Weibes, Vater zweier Kinder. Meine arme Clara wird den Schlag nicht überleben.«

»Es thut mir leid, aber ich kann es nicht ändern,« entgegnete Thomas hart und ungerührt von Heinrichs Schmerz.

»So verzeihe Ihnen Gott, und mögen Sie in Ihrer letzten Stunde nicht zu bereuen brauchen, was Sie an mir aus blinder Rachsucht sündigten.«

Mit diesen Worten wendete sich der Unglückliche von seinem Ankläger, zu stolz, um ihn noch ferner mit seinen Bitten zu belästigen. Dagegen ersuchte er den Kriminalrath um die Erlaubniß, von seiner Gattin und Schwester 70 sich verabschieden zu dürfen, was ihm dieser auch gestattete, nachdem sich Hartlieb zurückgezogen hatte. Vorsichtig bereitete Heinrich die arme Frau auf den furchtbaren Schlag vor, von dem sie so wenig wie seine Schwester eine Ahnung hatte.

»Komm,« sagte er mit mühsamer Fassung. »Wir müssen Abschied nehmen, vielleicht nur auf wenige Tage, vielleicht auf längere Zeit.«

»Was soll das heißen? Du willst doch nicht verreisen?«

»Ich muß wohl,« seufzte Heinrich, mit schmerzlichem Lächeln, auf den anwesenden Kriminalrath deutend. »Der Herr dort wünscht meine Begleitung.«

»Um des Himmels Willen! was ist hier vorgefallen? Diese Blässe, Deine zitternde Stimme! Heinrich, ich will und muß die Wahrheit wissen.«

»Du sollst sie erfahren, doch zuvor beantworte mir eine Frage. Clara, hältst Du mich fähig, eine That zu begehen, deren ich mich schämen müßte? Kannst Du jemals glauben, daß ich ein Verbrecher sei?«

»Der leiseste Zweifel wäre selbst ein Verbrechen an unserer Liebe und gegenseitigem Vertrauen!« 71

»Ich danke Dir für Deinen Glauben. Halte fest daran, und er wird Dir eine Stütze sein. So wisse denn, daß ich verhaftet bin, angeklagt eines schweren Verbrechens.«

Clara stieß einen Schrei aus und klammerte sich fest an den geliebten Mann, als wollte sie ihn einer Welt gegenüber vertheidigen.

»Du verhaftet?« fragte die erschrockene Schwester erbleichend. »Wer kann Dich anklagen und weshalb?«

»Man beschuldigt mich der Testamentsfälschung und der Unterschlagung fremder Gelder.«

»O meine Ahnung!« rief Martha, hingerissen von ihren schmerzlichen Gefühlen.

Der Kriminalrath, welcher bei der ganzen Unterredung zugegen war, wechselte einen Blick des Einverständnisses mit seinem Begleiter, indem er den Worten der Schwester eine keineswegs für den Angeklagten günstige Bedeutung beilegte.

»Das Ganze,« sagte Clara, wie aus einem schweren Traum erwachend, »ist wohl nur ein Scherz. Gesteh' es nur, Du willst uns leichtgläubige Frauen mystificiren.«

Dabei lachte sie krampfhaft immer lauter und heftiger, so daß die Anwesenden eines Schauers sich nicht erwehren konnten. 72

»Dein Lachen schneidet mir ins Herz,« sagte Heinrich tief bewegt. »Ich habe nur die Wahrheit gesprochen.«

»Du ein Verbrecher – O, dann giebt es keinen Unschuldigen mehr auf dieser Welt, dann ist der Reinste nur ein schwerer Sünder, dann müßte man an Gottes Dasein zweifeln.«

»Du betrübst mich. Wenn ich stark bleiben soll, so darfst Du Dich nicht so maßlos Deinem Schmerze überlassen.«

»Du hast Recht. Ich will mich zu fassen suchen, aber sage mir nur, wie das Alles so plötzlich gekommen ist und worauf sich diese abscheuliche Anklage gründet? Ein Wort aus Deinem Munde, ein Blick aus Deinen Augen müßte ja hinreichen, das ganze schändliche Lügengewebe zu zerreißen.«

»Wenn Du mein Richter wärst, aber ich fürchte, daß der Gegenbeweis nicht so leicht zu führen ist. Die Anklage gründet sich auf ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen, die allerdings gegen mich sprechen.«

»Und doch bist Du unschuldig, ich weiß es.«

»Halte fest an diesem Glauben, und jetzt reiche mir noch einmal Deine Hand. Wir müssen scheiden.« 73

»Scheiden! Nimmermehr! ich gehe mit Dir.«

»Das kannst, das darfst Du nicht.«

»Wer will mich hindern? So grausam kann kein Richter sein, um die Gattin von dem Gatten zu trennen.«

»Das Gesetz will es, und wir müssen uns fügen. Denk an unsere Kinder!«

Innig umschlang Clara den geliebten Mann; sie hielt ihn mit ihren Armen fest, daß er sich nur gewaltsam von ihr losreißen konnte. Eine wohlthätige Ohnmacht, von der die Unglückliche befallen wurde, endete den schmerzlichen Kampf. Als sie wieder zum Leben erwachte, war Heinrich bereits dem Kriminalrath gefolgt. Weinend sank die arme Frau an die Brust der treuen Martha, welche selbst des Trostes mehr als je bedurfte.

 
II.

In dem eleganten Salon des reichen Kaufmanns Geldern senior herrschte eine tiefe Stille. Die Nachricht von der plötzlichen Verhaftung seines Sohnes hatte den noch rüstigen Mann auf das Lager geworfen. Nach der Aussage des ihn behandelnden Arztes hatte ihn ein leichter Schlaganfall getroffen, von dem er sich zwar allmählich wieder erholte, ohne jedoch seine frühere Gesundheit und 74 Energie wieder zu erlangen. Fortwährend kränkelnd, durfte er nicht das Zimmer verlassen; zu schwach, um auszugehen, saß er meist in dem weich gepolsterten Lehnstuhl, bleich und abgezehrt, von körperlichen und geistigen Leiden schwer heimgesucht. Das noch vor wenigen Monaten dunkle Haar war schnell ergraut, seine Wangen eingefallen, während ein düsteres Feuer in den unstäten Augen loderte. An seiner Seite saß Fanny, seine zweite Frau, eine hohe, stolze Gestalt, deren Züge noch immer die Spuren großer Schönheit zeigten, obgleich ihr regelmäßiges Gesicht durch eine gewisse Kälte und Härte eher abstieß als anzog. Um so mehr mußte man die Aufopferung und Hingebung anerkennen, mit der sich die sonst so lebenslustige Frau der Pflege ihres kranken, launenhaften Mannes widmete. Sie wich nicht von seiner Seite und bewachte ihn bei Tag und Nacht; ja, ihre Vorsicht ging so weit, daß sie selbst den nächsten Verwandten und Freunden des Patienten nicht gestatten wollte, sie abzulösen oder ihr beizustehen. Deshalb war auch die ganze Stadt voll von ihrem Lobe, und Jedermann bewunderte die Selbstverleugnung der edlen Gattin und die Seelenstärke, womit sie ihr Schicksal ertrug.

Während sie eben beschäftigt war, für den Kranken 75 ein Glas Limonade zu bereiten, erschien der Diener des Hauses mit der Meldung, daß der Justizrath Berger den Herrn zu sprechen wünschte.

»Habe ich Ihnen,« fuhr die Dame mit scharfem Tone den Diener an, »nicht ein für alle Mal gesagt, daß Niemand vorgelassen werden soll. Mein Mann ist krank, und wer Etwas von ihm will, der kann sich an mich wenden.«

»Ich weiß nicht,« entschuldigte sich der Lakai, »was ich thun soll. Der gnädige Herr haben mir ausdrücklich befohlen, den Justizrath hereinzuführen, sobald er kommt.«

»Geldern! das hast Du wirklich hinter meinem Rücken angeordnet? Du wirst Dir noch einen Rückfall zuziehen. Der Arzt hat Dir die größte Schonung anempfohlen und ausdrücklich jeden Besuch verboten. Wenn Du es so forttreibst, so stehe ich für nichts.«

»Sterben ist nicht das Aergste,« seufzte der Kranke.

»Was soll das wieder heißen?« flüsterte die zärtliche Fanny mit gedämpfter Stimme. »Ich bitte Dich, nimm Dich wenigstens vor Deinen Leuten zusammen.«

»Das will ich auch,« entgegnete der Kranke mit ungewohnter Energie, indem er sich zu dem Diener wendete. »Lassen Sie sogleich den Justizrath eintreten.« 76

»Meinetwegen,« sagte die Frau, nachdem der Bediente gegangen war. »Thu, was Du willst. Ich werde aber wenigstens der Unterredung beiwohnen dürfen.«

»Geh! Ich befehle Dir, zu gehen,« rief Geldern mit dem ganzen Aufwande seiner Kraft. »Ich will den Justizrath allein sprechen.«

Mit einem Schlangenblick entfernte sich die Frau, welche den Kranken nicht noch mehr zu reizen wagte, indem sie jedoch an der geschlossenen Thüre stehen blieb, um die stattfindende Unterhaltung ihres Mannes mit dem Justizrath, der des angeklagten Heinrichs Vertheidiger war, zu belauschen. – Unterdeß war der Letztere, ein würdiger Herr in vorgerückten Jahren, mit einem wohlwollenden, intelligenten und Vertrauen einflößenden Gesichte, eingetreten. Der Kranke erhob sich mühsam, um ihn zu begrüßen, und deutete auf den leer stehenden Stuhl an seiner Seite.

»Ich danke Ihnen,« sagte er mit leiser Stimme, »daß Sie gekommen sind. Haben Sie die Güte, sich zu setzen, wenn ich bitten darf, noch näher. Das Sprechen fällt mir schwer; ich fühle mich sehr leidend.«

»Sie scheinen in der That so angegriffen, daß ich Anstand nehmen muß –« 77

»Lassen Sie sich durchaus nicht abhalten. Sie kommen von meinem Sohne?«

»Auf Ihren Wunsch habe ich eine längere Unterredung mit ihm gehabt und seine Vertheidigung übernommen.«

»Und Sie hoffen, die Anklage zu entkräften. Sie glauben doch, daß er freigesprochen werden muß?«

»Ich möchte nicht gerne Hoffnungen erwecken, deren Erfüllung nicht in meiner Macht steht. Die ganze Angelegenheit steht keineswegs so günstig, wie ich wünsche.«

»Mein Sohn ist unschuldig. Ich kann es beschwören, daß er unschuldig ist. Die Geschworenen können ihn nicht verurtheilen.«

»Sie sprechen als Vater, und ich finde es natürlich, daß Sie ihn für schuldlos halten. Auch ich bin geneigt, Ihre Ueberzeugung zu theilen. Ich kann wohl sagen, daß mir selten in meiner langjährigen Praxis ein Angeklagter vorgekommen ist, der einen so günstigen Eindruck auf mich gemacht hat. Die Würde und Ruhe, mit der er sein Schicksal trägt, die Redlichkeit, welche aus seinem früheren Leben und seinem ganzen Wesen hervorleuchtet, der ganze physiognomische Eindruck, der mich noch selten getäuscht hat, sprechen zu seinen Gunsten, und ich wenigstens zweifle nicht 78 einen Augenblick an seiner Unschuld. Das Alles kann zwar dem Vertheidiger genügen, aber nicht dem Richter, den Geschworenen.«

»Heinrich hat die besten Zeugnisse über seinen Leumund und sein bisheriges Betragen beigebracht. Ist es denkbar, daß ein solcher Mann plötzlich zum Verbrecher werden kann?«

»Das reicht nicht hin, um die vorliegende, zum Theil auf unumstößlichen Beweisen beruhende Anklage zu widerlegen. Die Sachverständigen haben erklärt, daß, wenn auch nicht die Quittung, doch das Codicill zu dem Testamente des verstorbenen Hartlieb gefälscht sei. Nach der Aussage des alten Dieners, welcher seine Angaben beschworen hat, war Niemand in dem Zimmer des Kranken zur Zeit anwesend, als Ihr Sohn, was dieser selbst auch nie geleugnet hat. Der Schreibsekretair, worin das Codicill gefunden wurde, stand offen und war also leicht zugänglich. Am meisten gravirend ist aber jener Entwurf zu dem Codicill, der, wie abermals die Sachverständigen behaupten, von der Hand Ihres Sohnes nur allein herrühren kann. Das sind allerdings gewichtige Verdachtsmomente, welche der Vertheidigung eine schwere Aufgabe stellen; um so mehr, da 79 der Angeklagte auch mir gegenüber ein räthselhaftes Stillschweigen beobachtet. Wie Sie bereits wissen werden, will der Portier des Hauses, worin der verstorbene Hartlieb wohnte, zu derselben Zeit noch eine zweite Person in dem Zimmer desselben bemerkt haben, als sich Ihr Sohn darin aufhielt. Dieser leugnet hartnäckig den für ihn doch so wichtigen Umstand und behauptet, ganz allein bei dem Sterbenden gewesen zu sein.«

»Der Unglückliche!« flüsterte der Kranke.

»Doch ich muß befürchten, daß mein Bericht Sie angreift,« unterbrach der Justizrath seine Auseinandersetzung, indem ihm die tiefe, natürliche Bewegung des Kranken nicht entgangen war.

»O, fahren Sie nur fort. Ich fühle mich weit kräftiger, wie Sie glauben.«

»Sie können sich denken, wie viel uns daran liegen muß, diesen Unbekannten zu entdecken. Ich habe mir zu diesem Zwecke die größte Mühe gegeben, seine Spuren aufzufinden, jedoch ist es mir bisher noch nicht gelungen. Der Portier kann sich durchaus nicht erinnern, wie der Fremde ausgesehen hat. Seine Aussagen sind zu unklar, um darauf nur das geringste Gewicht zu legen. Die einzige Auskunft 80 könnte uns der Angeklagte selbst geben, dieser aber schweigt hartnäckig.«

»Sie haben ihn wegen dieses Punktes befragt?« forschte der Kranke mit sichtbarer Anstrengung.

»Gewiß, aber er verweigerte mir jede Auskunft. So oft ich die Gegenwart eines Dritten, nur die Möglichkeit eines Solchen erwähne, so geräth er in Verwirrung. Er verwickelt sich in Widersprüche und verweigert nicht nur dem Richter, sondern auch mir, seinem Vertheidiger, jede Auskunft, und doch hängt davon Alles ab. Gelingt es uns, den muthmaßlichen Thäter ausfindig zu machen, so ist Alles damit gewonnen, obgleich die Sache mir noch immer räthselhaft bleibt, da außer Ihrem Sohne und Ihrer Tochter Niemand bei der Erbschaft interessirt sein kann, als der alte Diener, dessen jedoch bereits im Testamente Erwähnung geschehen ist.«

»Und doch zweifle ich keinen Augenblick an Heinrichs Unschuld. O, Herr Justizrath! wenden Sie Alles an, um den Unglücklichen zu retten. Mein halbes Vermögen will ich gern für seine Freiheit opfern.«

»Was in meinen Kräften steht,« entgegnete der würdige Mann, »soll gewiß geschehen, obgleich ich Ihnen nicht 81 verschweigen kann, daß die Angelegenheit nicht so günstig steht, als ich wünsche. Der Angeklagte dauert mich von ganzem Herzen und ebenso seine junge Frau, die ich kennen gelernt habe. Sie ist ein Engel, das treuste, edelste Weib auf Gottes Erde.«

»Das ist sie, gewiß, das ist sie,« bekräftigte der Kranke. »Mir blutet das Herz, wenn ich an meine armen Kinder denke. Nein, ich ertrag' es nicht länger, ich will –«

In diesem Augenblick erschien die schöne Fanny mit zärtlich besorgter Miene und bat den Kranken so dringend und doch so sanft, die anstrengende Unterredung zu beenden, so daß der Justizrath von der größten Bewunderung für die edle Frau erfüllt wurde, welche ihre Jugend und alle ihre Ansprüche an das Leben dem verdrießlichen, launenhaften, gebrechlichen Manne opferte. Nachdem aber der Justizrath gegangen war, hielt es die gute Fanny nicht mehr nöthig, ihre Maske beizubehalten.

»Was nützt Dein ewiges Jammern,« sagte sie zu dem unglücklichen Vater. »Ich bitte Dich, nimm Dich zusammen und zeige wenigstens, daß Du ein Mann bist.«

»O, hätt' ich doch nie auf Deinen Rath gehört!« stöhnte der Kranke. »Verflucht die Stunde, wo ich mich 82 von Dir überreden ließ, dem schiffbrüchigen Hartlieb die Thüre zu weisen.«

»So ist es recht,« höhnte sie mit einem vernichtenden Blick. »Das sieht Dir ähnlich; jetzt soll ich wohl die ganze Schuld tragen.«

»Hast Du mich nicht verleitet, den Unglücklichen zu verleugnen?«

»Du mußtest ihn doch besser kennen als ich. Hab' ich ihn doch kaum einmal in meinem ganzen Leben und dazu nur flüchtig gesehen.«

»Und doch wolltest Du darauf schwören, daß er ein Betrüger sei.«

»Das konnte ich auch. Du aber wußtest es besser.«

»Still, Weib! Du wirst mich noch rasend machen. Du hast mich gewaltsam fortgezogen, als ich im Begriffe stand, ihn zu erkennen und freundlich aufzunehmen. Gegen meine bessere Ueberzeugung ließ ich mich von Dir bethören, und jetzt muß ich darum verzweifeln. Was soll aus uns werden, mein Sohn, mein armer Sohn!«

»Klage mich nur an! das bin ich schon gewohnt. Der Mann darf niemals Unrecht haben. Wenn ein solcher Egoist wie Du durch eigene Thorheit sich ins Unglück 83 stürzt, so weiß er nichts Besseres zu thun, als seine Schuld der armen Frau aufzubürden. Sieh mich nicht so drohend an! Ich fürchte mich nicht vor Dir. Meine Handlungsweise kann ich vor aller Welt rechtfertigen; das kannst Du nicht.«

»Weib!« schrie der Kranke, außer sich vor Wuth.

»Es fehlt nur noch, daß Du zum Dank für meine Aufopferung mich mißhandelst, erbärmlicher Schwächling!«

»Hinaus, hinaus mit Dir!«

»O, ich gehe schon von selbst. Doch wenn ich gegangen bin, magst Du sehen, was mit Dir geschieht!«

Mit diesen Worten verließ die schöne Fanny den Unglücklichen, der unter der doppelten Last seiner körperlichen und geistigen Leiden zusammenbrach. Ein leises Geräusch weckte ihn aus seinen schmerzlichen Gedanken. Als er die Augen aufschlug, bemerkte er seine Tochter Martha, welche die Abwesenheit der Stiefmutter benutzte, um sich ungehindert dem kranken Vater zu nähern.

»Du, Martha?« fragte dieser verwundert, »Du hast Dich lange Zeit nicht sehen lassen.«

»Es war nicht meine Schuld. So oft ich Sie sprechen wollte, hieß es, daß der Arzt es verboten habe.« 84

»Komm, Martha, ich habe Dir so viel mitzutheilen, daß es mir fast das Herz abdrückt.«

»Armer Vater!«

»Ja wohl bin ich ein armer Vater, der unglücklichste Mensch auf dieser Welt!«

»Der Arzt giebt die beste Hoffnung, daß Sie sich bald wieder erholen werden.«

»O, es ist nicht die Krankheit, die mich besorgt macht. In meinem Inneren leide ich Höllenqualen.«

»Sie müssen die trüben Gedanken zu verscheuchen suchen.«

»Sie lassen mir keine Ruhe. Das Geschick Deines Bruders –«

»Mein guter Bruder!«

»Du hast ihn gesehen, Du bist in seinem Gefängnisse gewesen. Verschweige mir nichts! Ich will Alles wissen.«

»Sie dürfen sich nicht aufregen. Der Arzt hat die größte Schonung Ihnen anempfohlen.«

»Ich beschwöre Dich, erzähle mir, wie Du ihn gefunden hast.«

»Kein Märtyrer, kein Heiliger kann sein Loos mit größerer Ergebung in den Willen des Himmels tragen. Keine Klage, kein Vorwurf entschlüpfte seinen Lippen. Er 85 tröstete mich und die arme Clara, welche weinend an seinem Halse hing.«

»Daran erkenne ich ihn. Mein Sohn, mein edler Sohn!«

»In diesen Tagen soll das Urtheil gesprochen werden.«

»Ich weiß es. Der Justizrath, der mich so eben verlassen hat, giebt mir wenig Hoffnung auf seine Freisprechung. Heinrich verurtheilt, im Zuchthause mit gemeinen Verbrechern, mit dem Auswurf der Menschheit zusammengesperrt! Das überlebt er nicht trotz seiner moralischen Kraft. Dahin darf ich es nicht kommen lassen.« –

»Was aber wollen Sie thun? wie können Sie es hindern?«

Der Kranke versank in ein tiefes Stillschweigen, als hätte er die Frage seiner Tochter überhört. Nur von Zeit zu Zeit stieß er einen schweren Seufzer aus.

»Ich muß bei der Schwurgerichtsverhandlung zugegen sein,« sagte er nach einer düsteren Pause emporfahrend.

»Unmöglich! Bedenken Sie Ihren Zustand.«

»O, ich fühle mich kräftiger als je. Der Himmel wird mir die nöthige Stärke verleihen.«

»Und die Mutter – sie wird, sie kann es nicht zugeben.« 86

»Sie darf darum nicht wissen. Schwöre mir, Martha, daß Du mir beistehen willst.«

»Bedenken Sie Ihre Schwäche, Ihre Leiden. Ich kann wirklich nicht.«

»Du mußt, ich verlange es von Dir, und wenn Du mir nicht hilfst, so werde ich ohne Deine Hilfe meinen Plan ausführen. Keine Macht der Erde soll mich davon zurückhalten. Bedenke, daß die Rettung Deines Bruders einzig und allein davon abhängt, daß ich bei dem Schwurgericht zugegen bin.«

Es lag etwas so Festes und Entschiedenes in der Sprache des Kranken, daß Martha sich nicht länger weigerte, seine Bitte zu erfüllen. Feierlich mußte sie ihm versprechen, zur bestimmten Stunde einen Wagen zu besorgen und ihn zu begleiten. Zugleich sollte sie das tiefste Stillschweigen gegen ihre Stiefmutter beobachten. Er drohte ihr mit seinem väterlichen Fluche, wenn sie ihn zu täuschen oder zurückzuhalten suchen würde. Mit schwerem Herzen und von düstern Ahnungen erfüllt, gelobte sie, seinen Willen zu thun und die Ausführung seines Entschlusses mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu unterstützen, ohne mit irgendeinem Menschen und am wenigsten mit Fanny darüber zu sprechen.87

 
III.

Unter dem Andrange eines zahlreichen Publikums hatten die Schwurgerichtsverhandlungen gegen den Gutsbesitzer Heinrich Geldern begonnen. Die Tribünen waren dicht besetzt, da, wie natürlich, der Prozeß ein ungewöhnliches Aufsehen wegen der gesellschaftlichen Stellung des Angeklagten erregte. Derselbe saß in der Nähe seines Vertheidigers ruhig und gefaßt, wenn auch bleicher als gewöhnlich. Sein offenes Gesicht, seine bescheidene Haltung und sein ganzes Benehmen machten augenscheinlich einen günstigen Eindruck auf die Geschworenen und das Publikum, obgleich im ferneren Verlaufe der Verhandlungen das Gewicht der angeführten Thatsachen ihn immer schwerer belastete und höchst nachtheilig auf die allgemeine Stimmung wirkte. Der Staatsanwalt, ein ausgezeichneter Jurist und Redner, hatte seine Anklage mit fast unwiderleglichen Gründen und Beweisen unterstützt, indem er zugleich das Schwurgericht feierlich aufforderte, sich nicht durch die glänzenden Leumundszeugnisse und die gesellschaftliche Stellung des Angeschuldigten verblenden zu lassen. »Der böse Dämon,« sagte er bei dieser Gelegenheit, »schläft unbewußt in jeder Menschenbrust. Die reinste Vergangenheit bürgt noch nicht 88 hinlänglich für die Zukunft. Häufig ist die Unschuld nur das Resultat der Verhältnisse, und nur weil die Gelegenheit und Versuchung fehlt, unterbleibt so manches Verbrechen. Die bürgerliche Achtung, in welcher der Angeklagte bisher gestanden hat, kann ihn vor dem Verdacht nicht schützen, wenn dieser sich auf solch kräftige Beweise stützt. Weder Rang, Ansehen noch Bildung und Vermögen schließen das Verbrechen aus. Am wenigsten können diese Eigenschaften ein Privilegium begründen, das gegen die Gleichheit vor dem Gesetze sprechen würde. Je höher die gesellschaftliche Stellung des Angeklagten, je besser sein bisheriger Ruf, desto sorgfältiger müssen die Geschworenen die Thatsachen prüfen, desto unpartheiischer ihren Wahrspruch abgeben, um die Würde und Heiligkeit ihres Instituts vor der Welt darzuthun. Doppelt aber haben Sie diese Pflicht in einer Zeit zu üben, wo die unteren Volksklassen und die Besitzlosen mit Neid und Mißtrauen zu den Besitzenden emporblicken und sich häufig dem Glauben überlassen, daß Rang und Vermögen dem Verbrechen Straflosigkeit zusichert; eine leider nur zu sehr verbreitete Meinung der niederen Stände, welche die Grundlagen der sittlichen und bürgerlichen Ordnung zu untergraben droht.« – 89

Nachdem der Staatsanwalt seinen Vortrag geschlossen, begann der Präsident des Schwurgerichts mit dem Zeugenverhör. Ganz besonders belastend für den Angeklagten waren die Aussagen des alten Bedienten, nicht minder die Auslassungen des beschädigten Hartlieb, der die bekannten Vorgänge in dem Hause des ältern Geldern in einer Weise schilderte, welche die allgemeine Entrüstung hervorrufen mußte. Auch der Portier wurde vernommen; derselbe wiederholte, daß er außer Heinrich noch eine dritte Person in dem Zimmer des Verstorbenen bemerkt habe, was jedoch der Angeklagte entschieden leugnete, obgleich dieser Umstand möglicher Weise zu seinen Gunsten sprechen konnte.

»Der Zeuge muß sich irren,« sagte er mit sichtbarer Verlegenheit. »Ich habe Niemand gesehen.«

»Der Portier,« entgegnete der Präsident, »behauptet das Gegentheil und hat seine Aussage bereits beschworen. Ihr hartnäckiges Leugnen eines Umstandes, der unter gewissen Bedingungen Ihnen nur zum Vortheil gereichen kann, erweckt nur den Verdacht, daß Sie einen Mitschuldigen haben, den Sie durch Ihr Schweigen der gerechten Strafe entziehen wollen.«

»Ich weiß von keinem Mitschuldigen, ich kenne keinen.« 90

»Erschweren Sie uns nicht durch Ihre Hartnäckigkeit unsere ohnehin so schwere Pflicht. Wir können uns täuschen; nur Gott allein sieht die Wahrheit und kennt den wahren Verbrecher. Nach Ihrer Behauptung waren Sie allein in der Wohnung des verstorbenen Hartlieb?«

»Ich war allein.«

»Sie beharren bei dieser Aussage und haben ihr nichts hinzuzufügen?«

»Nein!«

»Ehe wir fortfahren, halte ich es für meine Pflicht, Sie noch einmal dringend auf die Folgen aufmerksam zu machen. Noch liegt Ihr Geschick in Ihrer eigenen Hand. Niemand belastet Sie schwerer, als Sie sich selbst. Räumen Sie ein, daß ein Dritter mit Ihnen zu gleicher Zeit an dem Ort des Verbrechens gewesen ist, so kann vielleicht dieser der Thäter, Sie selbst vollkommen unschuldig sein. Stellen Sie dagegen seine Anwesenheit in Abrede, so muß Sie allein die ganze Schwere des Verdachtes treffen. Ihre Freisprechung oder Ihre Verurtheilung hängt von diesem wesentlichen Punkte ab. Haben Sie das auch hinlänglich bedacht?«

Die Mahnung des würdigen Präsidenten schien den 91 Angeklagten sichtlich zu bewegen; seine bisherige künstliche Ruhe war geschwunden, er rang mit sich selber. Einen Augenblick mochte er wohl an seine geliebte Frau, an seine Kinder gedacht haben, denn er ließ seine Blicke ängstlich forschend durch den Saal schweifen. Während dieses sichtlichen Kampfes herrschte ein tiefes, erwartungsvolles Schweigen in dem großen Gerichtssaal. Die Augen Aller waren auf Heinrich gerichtet, und die Zuhörer sahen mit banger Spannung der Lösung des geheimnißvollen Räthsels entgegen. Endlich erhob sich der Angeklagte von der Bank, auf die er in einer Anwandlung natürlicher Schwäche hingesunken war. Seine Aufregung war geschwunden, seine Haltung fest und der Ausdruck seiner Züge ruhig und gefaßt.

»Ich verkenne nicht,« sagte er mit gerührter Stimme, »die Menschenfreundlichkeit des Herrn Präsidenten und danke ihm dafür.«

»Sie kennen vielleicht nicht,« bemerkte dieser ernst, »die Strafe, welche das Gesetz über das Ihnen zur Last gelegte Verbrechen verhängt. Sie ist streng, aber gerecht, und kommt dem bürgerlichen Tode gleich.«

»Ich kann nur wiederholen, was ich bereits früher angegeben habe. Ich kam zu meinem sterbenden 92 Freunde, in der Absicht, von ihm Abschied zu nehmen, da ich in einer dringenden Geschäftsangelegenheit noch an demselben Tage verreisen mußte. Der alte Diener benutzte meine Anwesenheit, um ein Rezept des so eben gegangenen Arztes in die Apotheke zu tragen. Ich blieb allein zurück und habe, so lange ich daselbst verweilte, keinen andern Menschen –«

Der Angeklagte vollendete nicht den eben angefangenen Satz. Die Sprache versagte ihm, und seine Augen starrten entsetzt nach der gegenüberliegenden Eingangsthür, als wäre ihm plötzlich ein Gespenst erschienen. Unwillkürlich folgte das Publikum seinen Blicken; man sah auf der Schwelle des Gerichtssaals einen abgezehrten Greis, der sich auf den Arm eines jungen, schönen Mädchens stützte. Bei dieser unerwarteten Erscheinung ging ein dumpfes Murmeln durch den Saal.

»Sein Vater!« flog es von Mund zu Mund, da viele Anwesende den reichen, angesehenen Kaufmann sogleich erkannt hatten.

Dieser näherte sich den Schranken des Gerichts, indem er sich fast willenlos von Martha leiten ließ. Es war ein 93 tief ergreifendes Schauspiel, und unwillkürlich erfüllte bange Ahnung jede Brust. –

»Herr Präsident!« rief der Greis mit wunderbar heller Stimme, die schauerlich das tiefe Schweigen unterbrach, »hören Sie nicht auf meinen Sohn! Heinrich, Du lügst!«

»Mein Vater!« schrie der Unglückliche, »was wollen Sie thun!« –

»Der Wahrheit die Ehre geben.«

»Mit welchem Rechte,« fragte der Präsident, »dürfen Sie es wagen, die Gerichtsverhandlungen zu unterbrechen?«

»Ich bin sein Vater, dort sitzt mein Sohn auf der Anklagebank,« entgegnete der Greis mit ergreifender Stimme. »Steh auf, Heinrich! der Platz dort gebührt mir, nur mir allein. Du hast gewußt, daß ich in Hartlieb's Wohnung war. Grausames Kind! Du lügst vergebens, um mich zu retten. Ich, ich, Herr Präsident, bin allein der Schuldige.«

Es war so still, so todtenstill, daß man nichts hörte, als das leise Schluchzen der armen Martha. Richter und Geschworene wagten kaum zu athmen, und erst nach einer längeren Pause hatte sich der Präsident so weit gesammelt, um in seinem jetzt doppelt schmerzlichen Geschäfte fortzufahren. 94

»Reden Sie,« sagte dieser erschüttert, »aber im Namen des Gesetzes fordere ich Sie auf, die Wahrheit zu sprechen.«

»Das will ich, so wie ich wünsche und hoffe, daß Gott mir meine Schuld dereinst vergeben wird. Mein Sohn ist unschuldig, ich habe das Verbrechen, wenn ein solches vorliegt, begangen. Haben Sie aber Geduld mit einem alten, kranken Mann. Ich werde Alles bekennen, nichts verschweigen. Ich war nach Hartlieb's Wohnung gegangen, um meinem Sohn, den ich daselbst wußte, einige wichtige Papiere zu überbringen, die er auf seiner Reise brauchte und in der Eile vergessen hatte. Ich traf ihn noch bei dem Kranken; der Diener war ausgegangen, wir Beide ganz allein. Als ich mit meinem Sohn wegen eines dringenden Geschäftes noch Rücksprache nehmen wollte, rief ihn der Kranke, welcher in der Nebenstube lag. Heinrich stürzte zu ihm, ich blieb zurück. Zufällig fiel mein Blick auf den geöffneten Schreibsecretair; auf demselben lagen verschiedene Papiere, welche meine Neugierde reizten. Darunter bemerkte ich ein nicht vollendetes Codicill zu dem früheren Testamente des Verstorbenen, worin dieser sein Vermögen zwischen meiner Tochter und meinem Sohne 95 theilte, nachdem er den vermeintlichen Tod seines Bruders erfahren hatte. Es fehlten nur noch einige unwesentliche Zeilen und die Unterschrift. Drinnen lag, wie ich wußte, ein Sterbender und hier seine letzte Bestimmung, die mich und die Meinigen aus meiner damals zerrütteten Lage retten konnte. Ein Federstrich von meiner Hand und alle Verlegenheit hatte ein Ende. Ich glaubte kein Unrecht zu begehen, da ich wie alle Welt noch damals glaubte, daß Herr Thomas Hartlieb auf der Rückreise nach Europa in den Wellen umgekommen. Hätte der Sterbende seinen letzten Willen noch unterschreiben können, so waren meine Kinder seine Erben. Ich that es an seiner Stelle, that, was er nicht mehr thun konnte, indem ich mich bemühte, seine Handschrift so täuschend als möglich nachzuahmen, nachdem ich vorher den Entwurf zu dem Codicill ebenfalls mit verstellter Hand niedergeschrieben und in der Eile zu vernichten vergessen hatte. Ich hatte, da mein Sohn um den Kranken beschäftigt war, noch hinlänglich Zeit, das so rechtsgiltige Codicill in ein Fach des Schreibsekretairs zu legen. Hier fand ich auch meinen Schuldschein über das mir von Herrn Thomas Hartlieb anvertraute Geld. Ich selbst quittirte ihn im Namen des Verstorbenen und steckte das 96 Schriftstück zu mir. – Das ist die Wahrheit, so wahr mir Gott gnädig sei.«

Erschöpft sank der Greis, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, auf einen Stuhl, den ihm ein mitleidiger Gerichtsdiener gebracht hatte. Der Präsident hielt es für nothwendig, eine kurze Pause eintreten zu lassen, während der sich die Richter zu einer nothwendigen Berathung zurückzogen. Die Erwartung des Publikums war auf das Höchste gestiegen, die meisten Anwesenden von Mitleid für den eigentlichen Verbrecher, von Bewunderung für den edlen Sohn erfüllt. Nach einer Viertelstunde erschien der Präsident an der Spitze des Richtercollegiums, welches beschlossen hatte, die Verhandlungen fortzusetzen.

»Angeklagter,« fragte der Präsident den jüngern Geldern, »was haben Sie gegen diese Aussagen Ihres Vaters vorzubringen? Leugnen Sie noch, daß eine dritte Person mit Ihnen zu gleicher Zeit in der Wohnung des verstorbenen Hartlieb gewesen ist?«

»Es wäre umsonst,« entgegnete der treue Sohn, »nachdem mein Vater es zugestanden.«

Auf einen Wink des Präsidenten wurde jetzt der Portier hereingeführt, um mit dem ältern Geldern 97 confrontirt zu werden. Der Zeuge erkannte sogleich in ihm den unbekannten Herrn, der so angelegentlich nach dem Herrn Heinrich gefragt und sich bei ihm nach dem Befinden des kranken Hartlieb erkundigt hatte. Damit war jeder Zweifel beseitigt und die Identität hinlänglich bewiesen.

»Im Namen des Gerichts,« rief der Präsident, nachdem der Zeuge seine Aussage beschworen hatte, »Gerichtsbote, verhaften Sie dort den Kaufmann Geldern senior wegen Fälschung und Betrug.«

Martha stieß einen Schrei aus, während Heinrich noch bleicher wurde als zuvor, indem er seinen Vater schwanken und wie von einem Blitzstrahl getroffen, zusammenbrechen sah.

»Er stirbt,« rief der edle Sohn, zu den Füßen des Unglücklichen niedersinkend.

»Ein Arzt!« tönte es von allen Seiten, »man muß einen Arzt rufen.«

»Der kommt zu spät,« stöhnte der Kranke, der sich indeß wieder erholt hatte. »Ich fühle, daß ich nur noch wenig Augenblicke zu leben habe. Heinrich, mein theurer Sohn, Gott segne Dich für Deine Liebe. Dein Opfer war vergebens, aber es wird Dir dereinst angerechnet werden. 98 Martha, Clara! wo seid Ihr? Es wird dunkel vor meinen Augen. Vergebt mir den Schmerz, den ich Euch bereitet. Vergebt, wenn ich Euch betrübt habe. Gott wird mir gnädig sein. Lebt wohl, lebt Alle wohl.«

Noch einmal streckte der sterbende Greis seine Hände wie zum Segen aus, ehe seine Augen sich für immer schlossen. Er starb, noch ehe der herbeigerufene Arzt erschien, umgeben von seinen Kindern.

»Hier hat Gott gerichtet,« rief der Präsident mit feierlicher Stimme, indem er sich erhob und die Sitzung schloß.

Heinrich wurde von dem ihm zur Last gelegten Verbrechen später freigesprochen und lebte mit seiner Familie und Martha in tiefster Zurückgezogenheit, aber glücklich und zufrieden, nachdem er sich mit dem Bruder seines verstorbenen Freundes verständigt und vollkommen versöhnt hatte.

 


 


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