Max Ring
Lose Vögel
Max Ring

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II. Kriminalgeschichten.

Ehrlich währt am längsten.

In einer finsteren Schlucht des Gebirges lag die sogenannte »Brandmühle«, deren Besitzer zwei Brüder Wildhahn waren, in der ganzen Umgegend bekannt wegen ihres in jener Gegend verhältnißmäßig bedeutenden Vermögens. Das Bewußtsein ihres Reichthums machte sie jedoch stolz und übermüthig: sie waren wenig beliebt und hatten fast gar keinen Freund in den benachbarten Dörfern. Einsam hausten sie auf ihrer großen Besitzung mit einer Magd und einem Müllerburschen, die Beide seit einem Jahre bereits in ihren Diensten standen; was allerdings sehr viel sagen wollte, da die Dienstboten auf der Brandmühle oft zu wechseln pflegten und selten es länger als einige Monate daselbst auszuhalten vermochten. 212 Verschiedene Gründe jedoch ließen es den jungen Leuten wünschenswerth erscheinen, in ihren bisherigen Verhältnissen getreulich auszuharren. Der Müllerbursche, welcher Anton hieß, war der Sohn einer armen Wittwe aus der Nachbarschaft; aus Rücksicht auf seine Mutter, die er mit seinem Lohne unterstützte, wollte er nicht weiter wandern. Außerdem fesselte ihn die Liebe zu einem schönen Mädchen seiner Heimath, mit der er von Jugend auf bekannt und zusammen aufgewachsen war. Freilich war die holde Anna die Tochter des reichsten Bauern im ganzen Dorfe, der niemals seine Einwilligung zu ihrer Verbindung mit dem armen Gesellen gegeben hätte, aber die Liebe frägt ja nicht nach Rang und Stand, sie lebt von der Hoffnung und wenn es nicht anders sein kann, auch von Schmerzen und Herzleid. Der gute Anton war schon zufrieden, wenn er nur alle Sonntage einmal seine Mutter besuchen und die Geliebte sehen durfte. Ein flüchtiger Gruß, ein inniger Blick, ein freundliches, verstohlen gewechseltes Wort reichten für die übrige Woche hin, ihm sein Leben erträglich zu machen. Da er ein ehrlicher und braver Bursche war, seine Pflicht that und sein Handwerk vollkommen verstand, so behandelten ihn die beiden Besitzer der Mühle besser als ihre früheren Gesellen, 213 obwohl sie mit einem gewissen Hochmuth auf ihn niederschauten, so daß er kein rechtes Herz zu ihnen fassen konnte. – Anders war es mit der jungen Magd, einer schönen und kräftigen Dirne, die besonders von dem ältern Bruder Georg mit sinnlichem Wohlgefallen angesehen wurde. Sie führte die Wirthschaft, besorgte das Hauswesen und schaltete und waltete, als ob sie die Herrin wäre. Unwillkürlich wurde Anton der Zeuge mancher kleinen Vertraulichkeit zwischen dem Mädchen und dem älteren Müller, so daß er an dem Bestehen eines innigeren Verhältnisses kaum noch zweifeln konnte. Da ihn die Sache nichts anging, so kümmerte er sich nicht weiter darum und that nach wie vor, was seines Amtes war, ohne das Treiben im Hause viel zu beachten. Seit einiger Zeit indessen war mit der Dirne, die im Uebrigen ein gutartiges Geschöpf war, eine auffallende Veränderung vorgegangen. Sonst immer lustig und heiter, erschien sie mit einem Male traurig und verstimmt, ihre frischen rothen Wangen waren bleich geworden, ihre Augen oft vom Weinen geröthet. Unwillkürlich war Anton einmal Zeuge einer heftigen Scene, die er ohne sein Zuthun belauschte. Er hatte auf dem Boden zu thun, wo die Mehlvorräthe aufgehäuft lagen, als er plötzlich hinter 214 den ihn verbergenden Säcken die ihm bekannten Gestalten des Müllers und der Magd erblickte. Beide glaubten sich unbeobachtet, die Dirne schluchzte und rang die Hände in übermäßiger Verzweiflung, während der sonst so barsche und leicht aufbrausende Georg sie mit gedämpfter Stimme zu beschwichtigen suchte, was ihm auch nach einiger Zeit gelang. Bei der Entfernung und dem Geräusch, welches das Klappern der Mühle verursachte, konnte Anton freilich nicht verstehen, um was es sich eigentlich handelte. Bald vergaß er auch wieder den auffallenden Vorgang, da ihn seine eigenen Sorgen ganz und gar in Anspruch nahmen.

Bei seinem letzten Besuche im Dorfe wurde er nämlich von der Nachricht überrascht, daß sein eigener Brodherr sich um die Hand der von ihm selbst hoffnungslos geliebten Anna beworben und die Zusage ihres Vaters bereits erhalten habe. In den nächsten Tagen sollte die Verlobung und einige Wochen später die Hochzeit stattfinden. Vergebens bemühte sich Anton, das theure Mädchen zu sprechen, um aus seinem eigenen Munde die Wahrheit zu hören. Furcht und Hoffnung wechselten in seinem Herzen; er konnte nicht an ihre Untreue glauben und eben so wenig seine eigene Mutter Lügen strafen, welche ihm diese 215 Mittheilung machte, ohne zu ahnen, wie tief sie damit das Herz ihres Sohnes verwundete. Verzweiflungsvoll nahm er von ihr Abschied und irrte durch das Dorf bis zu dem Hause, wo die Geliebte wohnte, in der Hoffnung, sie doch noch zu sehen und zu sprechen. Von den dichten Bäumen des Gartens geschützt, lauschte er mit angehaltenem Athem, und so oft sich die Hausthüre öffnete, pochte sein Herz so laut, als wollte es ihm die Brust zersprengen. Es war schon spät und dunkelte bereits, aber er konnte sich noch immer nicht entschließen, den Rückweg nach der Mühle anzutreten. Es war ihm, als hinge von seiner Begegnung mit Anna Leben und Sterben ab, als müßte er ihr noch einmal Alles sagen, was sein Herz bedrückte. Sie kam nicht, statt ihrer aber erschien der Vater mit den beiden Brüdern Wildhahn, denen der reiche Bauer das Geleit gab.

»Es bleibt dabei,« sagte dieser zu dem Aelteren, »Ihr werdet mein Schwiegersohn. Morgen komme ich auf die Mühle, um mir Eure Besitzungen anzusehen, dann bringen wir die Sache in Richtigkeit, und nächsten Sonntag kann schon die Verlobung sein.«

»Ein Mann, ein Wort,« entgegnete Georg, indem er seine Hand dem Bauer entgegenhielt. 216

»Ein Wort, ein Mann,« rief dieser, in die dargebotene Rechte einschlagend, daß es laut schallte.

Anton hatte hinter den Bäumen genug gehört; jetzt konnte er nicht mehr an der Wahrheit zweifeln. Wie gebrochen schwankte er nach Hause; zu seinen Füßen rauschte der angeschwollene Mühlbach mit seinen tosenden Wellen und schien ihn zu locken. Unwillkürlich wünschte der arme Bursche auf seinem tiefsten Grunde zu ruhen, aber er dachte an seine verlassene Mutter, an die Sünde, die er durch seinen freiwilligen Tod begehen würde. Schnell, als wollte er der Versuchung entfliehen, eilte er über den schwindelnden Steg, der über das Wasser und auf einen näheren Weg nach der Mühle führte. Als er in das Haus trat und sich zu seinem einsamen Lager schleichen wollte, erwartete ihn die bleiche Magd; ängstlich fragte sie nach den Brüdern, ob er sie vielleicht im Dorfe gesehen oder von ihnen gehört habe.

»Ich glaube,« erwiderte er, »daß sie bald kommen müssen, wenn sie nicht noch in das Wirthshaus gegangen sind, wozu sie mir geneigt schienen.«

»Und ist es wahr,« forschte die Dirne mit sichtlicher 217 Aufregung, »daß sich der Georg mit des reichen Winklers Tochter verlobt hat?«

»Was kann Dir daran liegen?« entgegnete Anton ausweichend.

»Was mir daran liegen kann?« lachte das Mädchen bitter. »Es giebt ein Unglück, sag ich Dir, ein großes Unglück. Aber er soll mich kennen lernen.«

»Willst Du denn Einspruch thun?«

»Das will ich, ja das will ich,« murmelte die Dirne mit wilder Entschlossenheit. »Er darf nicht heirathen, ich geb es nimmer zu.«

»Bist Du denn von Sinnen? Du weißt nicht, was Du redest.«

»Wenn ich den Verstand verliere, so ist es kein Wunder. Aber ich kann es nicht glauben, daß der Georg so schlecht sein kann.«

Dabei schluchzte sie laut und rang die Hände, daß es hätte einen Stein erbarmen müssen, geschweige den armen Anton, der sich in einer ähnlichen Lage befand und darum doppelt Mitleid mit der unglücklichen Magd fühlte. Augenscheinlich kämpfte sie mit dem Entschlusse, ihm ihr Geheimniß anzuvertrauen, aber die weibliche Schamhaftigkeit 218 hielt sie zurück, ihm das Geständniß ihrer Schuld abzulegen. Vielleicht wäre es noch dazu gekommen, wenn nicht die Rückkehr der Brüder jedes fernere vertrauliche Gespräch verhindert hätte. Bei seinem Eintreten warf Georg einen mißtrauischen Blick auf Beide; augenscheinlich war es ihm unangenehm, sie zusammen zu finden.

»Es ist spät«, sagte er mürrisch, »geht zu Bette!«

Stumm gehorchte die Magd und entfernte sich; an der Thüre wandte sie sich noch einmal um und starrte dem Müller ins Gesicht, als wenn sie seine geheimsten Gedanken lesen wollte; dann seufzte sie tief und stieg zu der Bodenkammer hinauf, während Anton sich in seinen Verschlag dicht neben dem Mühlwerke begab, wo er sich unausgekleidet auf das Bett warf. Die Brüder blieben noch einige Zeit wach und sprachen sehr angelegentlich bis nach Mitternacht.

»Ich fürchte,« sagte der Jüngere, welcher Bernhard hieß, »daß Dir die Dirne noch zu schaffen machen wird, wenn Du ihr nicht den Mund stopfst. Am besten, Du bietest ihr Morgen früh ein Stück Geld und entfernst sie aus dem Hause, bevor Dein zukünftiger Schwiegervater kommt.«

»Da kennst Du sie schlecht,« entgegnete der finstere 219 Georg; »Die geht nicht so leicht, das närrische Ding bildet sich ja ein, daß ich sie heirathen würde.«

»Daran hast Du doch nie gedacht?«

»Wie kannst Du noch fragen? Aber solch ein Frauenzimmer hängt sich an Einen wie eine Klette, die man nicht wieder los werden kann.«

»Und doch mußt Du der Geschichte ein Ende machen so oder so. Die Leute reden ohnehin schon schlecht von uns, weil wir uns mit ihnen nicht gemein machen wollen.«

»Was gehen mich die Leute an; ich mache mir nichts aus ihrem Geschwätze; denn ich brauche nach keinem Menschen zu fragen. Das ganze Dorf kümmert mich nicht so viel, und wenn es mir Einer zu arg macht, so will ich ihm einen Denkzettel anhängen, daß er so leicht nicht wieder den Mund gegen mich aufthut.«

»Das ist Alles gut und schön, aber wenn der alte Winkler, oder die Anna von der Geschichte hört, so wird aus Deiner Verlobung nichts. Die Tochter scheint ohnehin grade nicht in Dich verliebt zu sein.«

»Eben darum soll sie mich heirathen. Ich werde sie schon zwingen, mich zu lieben.«

»Du bist doch ein wunderlicher Mensch. Es giebt kein 220 Mädchen weit und breit, das nicht mit allen zehn Fingern nach dem reichen Brandmüller greifen würde, und Du setzest einen Trumpf darauf, die Anna zu bekommen, die Dich im Grunde ihres Herzens nicht mag und sicher einen andern Liebsten hat.«

»Das ist so mein Plaisir,« erwiederte der finstere Georg mit heimtückischem Lächeln, »mich reizt nur das, was ich mit Mühe und Gefahr mir erst erobern muß. Denkst Du noch, wie ich als Kind auf die höchste Tanne gestiegen bin, um ein Vogelnest zu greifen, wobei ich mir einmal fast das Genick gebrochen; wie ich mich zu Tode lief, um einen elenden Schmetterling zu fangen –«

»Dem Du, so bald Du ihn erst hattest, die Flügel ausgerissen.«

»Das geschah vor Ingrimm und Wuth, weil ich mich darüber ärgerte, daß das dumme Thier mich so lange genarrt. Grad so geht es mir jetzt mit der Anna, die, ich weiß es wohl, mich nicht leiden mag. Aber nun nehm ich sie zum Trotz, und sie soll es erfahren, was es heißt, einen Mann wie mich zu reizen. Hat sie schon einen Liebsten, um so besser; er soll sich vor mir in Acht nehmen.«

Es lag in dem finsteren, aber nicht grade unschönen 221 Gesichte des Brandmüllers ein wahrhaft dämonischer Zug, der bei dieser Unterhaltung mehr als je zum Vorschein kam. Die dunklen Augen unter den buschigen Augenbrauen leuchteten in einem unheimlichen Glanze, und um die starken Lippen und das harte Kinn, das einen energischen Charakter verkündigte, spielte ein grinsendes Lächeln. Der ganze Ausdruck seines gerötheten Gesichtes erinnerte unwillkürlich an die Physiognomie gewisser Raubthiere, welche List und Schlauheit vereinen, während der untersetzte, gedrungene Körper eine brutale Kraft verrieth. Dabei fehlte es ihm nicht an Verstand, wo es seinen Vortheil galt, an Scharfblick und Ueberredungskraft, wo es erforderlich war, dieselben zu zeigen – Eigenschaften, die um so gefährlicher waren, da er ein kaltes, egoistisches Herz besaß, und weder Moral noch Religion irgend einen Einfluß auf ihn ausübten.

Kein Wunder, daß er seinen schwächeren, weder gut noch bös gearteten Bruder vollkommen beherrschte, der im Grunde ihn weniger liebte als fürchtete. Er fühlte sich durch das Zutrauen des ihm überlegenen Georg geehrt und wußte um alle seine Geheimnisse; ihm allein war es auch bekannt, daß das von ihrem Vater ererbte Vermögen in 222 der letzten Zeit durch ihre beiderseitige Schuld zusammengeschmolzen war. Während sie in der Umgebung noch für reiche Leute galten, hatten sie durch schlechte Wirthschaft, Spiel und Ausschweifungen aller Art ihr Besitzthum mit Schulden beladen, für die sie bedeutende Zinsen an verschiedene Wucherer zahlten, deren Stillschweigen sie noch außerdem erkaufen mußten. Unter diesen Verhältnissen konnte sie nur noch die reiche Partie, welche Georg abzuschließen im Begriffe stand, einzig und allein retten. –

Am nächsten Tage erschien auch zur festgesetzten Stunde der zukünftige Schwiegervater, um mit eigenen Augen die Mühle anzuschauen, den Viehbestand und die Vorräthe zu prüfen, ehe er seine Einwilligung zu der Verheirathung seiner Tochter gebe, welche, wie dies auf dem Lande üblich ist, bei dieser wichtigen Begebenheit so gut wie gar keine Stimme hatte. Der alte Winkler wurde auf das Beste empfangen, der Wein, den er liebte, von den Brüdern nicht gespart und ein reichliches, fast verschwenderisches Frühstück ihm vorgesetzt. In heiterster Stimmung ließ er sich von den Brüdern auf ihrem Gute herumführen; natürlich fand er Alles im besten Zustande, die Felder wohlbestellt, die Scheuern und Böden voll Getreide und Mehl, in den 223 Ställen das schönste Vieh und eine musterhafte Ordnung in der ganzen Wirthschaft. Während des Besuches hatte Georg dafür gesorgt, die ihm gefährliche Magd zu entfernen, indem er sie unter einem angemessenen Vorwand auf eine entlegene, zu der Mühle gehörige Wiese schickte. Die übrigen Dienstboten konnten über das Treiben im Hause keine Aufschlüsse geben und Anton, der vielleicht besser unterrichtet war, vermied es aus naheliegenden Gründen, mit dem Vater seiner Geliebten zusammen zu treffen. In jeder Beziehung zufriedengestellt verließ der reiche Winkler die Mühle, nachdem er sein Versprechen wiederholt und auf den nächsten Sonntag die förmliche Verlobung festgesetzt hatte. Die Brüder gaben ihm das Geleit bis zur Grenze ihrer Besitzungen und nahmen hier von ihrem Gaste den herzlichsten Abschied.

Die stattgefundene Verabredung war kein Geheimniß mehr und blieb auch Anton nicht verborgen; er war fest entschlossen, nicht länger auf der Mühle zu verweilen, da er unmöglich Zeuge von dem Glücke eines Andern sein wollte, das ihm selbst versagt war. Als daher die Brüder zurückkehrten, sprach er sie an, indem er seine Entlassung forderte. 224

»Die kannst Du haben,« sagte der finstere Georg, »und das auf der Stelle. Glaubst wohl, daß ich Dich bitten werde, bei mir zu bleiben. An solchen Gesellen, wie Du Einer bist, hat es keinen Mangel.«

Anton hatte einen so unfreundlichen Bescheid weder verdient noch erwartet, aber im Grunde dankte er es fast seinem Herrn, daß er nicht bemüht war, ihn zu halten. Seitdem er wußte, daß Anna einem Andern angehörte, war ihm das Leben zur Last; der Boden brannte unter seinen Füßen, und es duldete ihn nicht länger in dem Hause, wo er sie bereits im Geiste als das Weib des wüsten Georg erblickte. Mit diesen Gedanken legte er sich zeitig zu Bett, da er die Absicht hatte, mit dem frühesten Morgen aufzubrechen und die Mühle für immer zu verlassen, aber der Schlaf wollte nicht kommen, und unruhig wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, das Herz voll bitterer Qualen und den Kopf voll trauriger Gedanken. Endlich schlossen sich die müden Augen, aber selbst der kurze Schlummer wurde ihm durch furchtbare, ängstliche Träume gestört. Es war ihm, als sähe er die Geliebte mit abgehärmten Wangen weinend vor sich stehen, ihr elendes Loos an der Seite des verhaßten Mannes beklagen. Im Traume erschien der 225 finstere Georg mit verzerrtem Gesichte; er frug die unglückliche Frau, was sie hier zu thun habe, und als sie vor Schluchzen und Jammern keine Antwort gab, schlang er seine Faust um ihr langes goldenes Haar und schleppte sie daran unter fürchterlichen Drohungen und Verwünschungen fort. So lebhaft hatte aber Anton geträumt, daß er deutlich einen Schrei zu hören glaubte und darüber erwachte. Erschrocken lauschte er, doch der ängstliche Ruf wiederholte sich nicht mehr: Alles war still und nur das Rauschen des angeschwollenen Baches zu vernehmen; dennoch vermochte er nicht, sich eines unheimlichen Gefühls zu erwehren.

Da Anton einmal wach war, so wollte er auch das Haus sogleich verlassen; er griff nach dem Bündel mit seinen Sachen, die er schon am Abend zusammengepackt hatte und öffnete das ihm wohlbekannte Schloß der Thür. Ohne einem Menschen zu begegnen, schritt er über den Hof ins Freie; von den Hausgenossen hatte er sich nicht verabschiedet, da es bereits zu spät war, nur der unglücklichen Magd hätte er noch gern ein Lebewohl gesagt. Es war ihm, als hätte sie ihm am Abend mit seltsam wehmüthigen Blicken nachgesehen, als wenn sie ihm noch irgend Etwas sagen wollte, aber er selbst war zu sehr mit seinem eigenen 226 Leid beschäftigt, um auf ihre Trauer zu achten. – Die Hunde, welche das Gehöft bewachten, schlugen leise an, als er vorüberging; da sie ihn aber erkannten, sprangen sie bald wedelnd an ihm empor und gaben ihm das Geleit bis an das Thor. Es war eine schwüle Sommernacht, dunkle Gewitterwolken bedeckten den Himmel, in der Ferne rollte dumpfer Donner und zuweilen zuckte ein rother Blitz, mit seinem grellen Schein die Mühle und den wild schäumenden Gebirgsbach beleuchtend. Bei dem unsichern Licht glaubte er einmal auf den weißen Wellen einen dunklen Körper zu erblicken, eine menschliche Gestalt, welche widerstandslos von der rauschenden Strömung fortgerissen wurde, als er jedoch näher zusah, war das Phantom verschwunden, und er selbst lachte über seine aufgeregte Einbildung. Rüstig wanderte er weiter auf wohlbekanntem Pfade nach dem Dorfe, wo seine Mutter wohnte, von der er noch Abschied nehmen wollte, ehe er die Heimat für immer verließ.

Als der Morgen graute, klopfte er an die Thür der Wittwe, die nicht wenig erstaunt war, ihren Sohn zu so ungewohnter Zeit bei sich zu sehen. Mit wenig Worten theilte er ihr seinen Entschluß mit, indem er ihr versprach, auch in der Ferne für sie zu sorgen. 227

»Ich kann nicht länger bleiben,« sagte er auf ihre Einwendungen. »Soll ich mit Anna unter demselben Dache wohnen und sie als die Frau eines Andern täglich sehen? Lieber will ich wandern, so weit mich meine Füße tragen, und wenn ich sie auch nicht vergessen kann, so werde ich vielleicht fern von ihr mein Schicksal leichter tragen und endlich die ersehnte Ruhe finden.«

Da die Mutter ihn so fest entschlossen sah, so drang sie nicht weiter in ihn, unbemerkt nur wischte sie sich die Thränen mit der Schürze aus den Augen. Sie bat ihn, nur wenigstens so lange zu verweilen, bis sie das Frühstück zubereitet, das sie zum letzten Male vor seinem Scheiden gemeinschaftlich mit Anton verzehren wollte. Während sie in der Küche beschäftigt war, überließ sich der Unglückliche seinen traurigen Gedanken; voll Wehmuth erinnerte er sich der schönen Kinderzeit, wie er neben Anna in der Schule gesessen, ihr bei der Arbeit geholfen, ihre Spiele getheilt hatte. Zusammen mit ihr hatte er den Religionsunterricht genossen, war er an den Tisch des Herrn zum ersten Male getreten. Beim Herausgehen aus der Kirche erschien sie ihm damals in ihrem Festtagsanzug mit den hold gesenkten Blicken und den frommen Mienen wie ein Engel des Himmels. 228 Später hatte er bei dem Erntefest mit ihr getanzt, in einer schönen Sommernacht sie nach Hause begleitet und bei dem sanften Schein des Mondes und der goldenen Sterne ihr seine Liebe gestanden. Das Alles sollte er aufgeben und für immer von ihr und seinem Glücke Abschied nehmen. – Von schneidendem Leid erfaßt und in tiefste Wehmuth versunken, hatte er nicht bemerkt, wie sich mit einem Male die Thüre öffnete; plötzlich fühlte er sich von starken Fäusten ergriffen und festgehalten. Vor ihm stand der Schulze des Dorfes und die Gerichtsleute in Begleitung zweier bewaffneter Gensdarmen.

»Was wollt Ihr?« fragte Anton, wie aus einem Traum erwachend.

»Das sollst Du später erfahren,« entgegnete der Schulze mit ernsten Mienen. »Jetzt komme und folge uns ohne Umstände.«

»Nicht eher, bevor ich weiß, was Ihr mit mir vorhabt.«

Der Schulze gab den Gensdarmen einen Wink, worauf sie Anton, der sich vergebens zur Wehr setzte, mit ihren bereit gehaltenen Stricken die Arme banden und Miene machten, ihn gewaltsam fortzuschleppen. Zugleich bemächtigten sich die Gerichtsleute des Bündels mit seinen Sachen, 229 die sie einer genauen Untersuchung unterwarfen. Unterdeß war auch seine Mutter aus der Küche herbeigestürzt, sie starrte bald den Sohn, bald die seltsame Umgebung desselben mit ängstlichen Blicken an.

»Um Gotteswillen!« schrie sie auf, »was hat das Alles zu bedeuten? Anton, was hast Du verbrochen?«

»Ich weiß es nicht,« entgegnete er niedergeschlagen. »Es muß ein Irrthum sein, denn ich bin mir keiner Schuld bewußt.«

»Das wird sich finden,« sagte der Dorfrichter, indem er den Befehl gab, den Gefangenen fortzuführen.

Schluchzend umarmte die erschrockene Mutter ihren Sohn; sie bat ihn mit rührenden Worten, sein Vergehen einzugestehen, wenn er ein solches, wie es den Anschein hatte, begangen; er aber schüttelte traurig mit dem Kopf und riß sich gewaltsam aus den Armen der weinenden Frau. Als er in der Thüre erschien, sah er das halbe Dorf bereits versammelt; Männer und Frauen, die alten Bekannten, welche sich halb mitleidig, halb empört von ihm abwendeten. Mit jedem Schritte vergrößerte sich der Haufe, bis der Zug zu dem Gebirgsbach gelangte, wohin der Weg über Feld und Wiesen führte. Dort lag an dem Ufer die 230 Leiche der unglücklichen Magd, bewacht von einigen zuverlässigen Leuten. Sie mußte bereits mehrere Stunden im Wasser gelegen haben, das schöne blonde Haar war ganz naß, das Gesicht verunstaltet, das leichte Kleid vielfach zerrissen und dicht an die kalte, leblose Gestalt angeschmiegt. Bei diesem unerwarteten Anblick verfärbte sich das Gesicht des armen Anton, seine Glieder zitterten und er war nicht im Stande, eine tiefe Bewegung zu unterdrücken. Jede seiner Mienen wurde belauscht und gedeutet; er selbst war ein Gegenstand der öffentlichen Beobachtung. Dieser Gedanke vermehrte nur noch seine Bestürzung und gab ihm das Aussehen eines Schuldigen. Auf die Frage des Schulzen, ob er die Verstorbene gekannt habe, zögerte er mit der Antwort, wodurch der gegen ihn bereits gerichtete Verdacht nur neuen Zuwachs erhielt. –

Unterdeß war auch der schnell herbeigerufene Bezirksarzt erschienen; er erklärte schon nach einer flüchtigen Untersuchung, daß hier ein Mord stattgefunden, die Magd zuerst erwürgt und dann in den Bach gestürzt worden sei. Unter den Sachen Antons hatten die Gerichtsleute ein der Verstorbenen zugehöriges goldenes Schaustück und eine silberne Kette gefunden, wie sie die Mädchen in jener Gegend zu 231 tragen pflegen. Auf Befragen erklärte der ebenfalls anwesende Georg, daß diese Schmucksachen seiner Magd angehörten. Ueber die Ereignisse der Nacht konnte er so wenig wie sein Bruder Auskunft ertheilen, da Beide nach ihrer Versicherung fest geschlafen und weder ein Geräusch, noch einen verdächtigen Laut gehört hatten. Sonst gab er dem Gefangenen das beste Zeugniß über sein Wohlverhalten, indem er ihn wegen seines Fleißes und seiner sonstigen Aufführung unbefangen lobte. Die übrigen Dienstboten stimmten mit diesen Aussagen überein, nur wollten sie in der letzten Zeit bemerkt haben, daß Anton öfter als sonst mit der getödteten Magd verkehrt und zuweilen heimlich mit ihr gesprochen habe. Am meisten verdächtigte ihn jedoch seine heimliche Entfernung von der Mühle zu so ungewöhnlich früher Stunde und die in seinem Bündel vorgefundenen Sachen, über deren rechtmäßigen Besitz er sich nicht auszuweisen vermochte, obwohl er wiederholt seine Unschuld betheuerte. Allgemein aber wurde es ihm verdacht, daß er seinen Brodherrn, der sich so großmüthig gegen ihn benommen hatte, vor aller Welt beschuldigte, selbst mit der Todten in einem unerlaubten Umgange gestanden zu haben. Das ganze Dorf war über diese 232 Undankbarkeit erzürnt, und kein Mensch wollte glauben, daß der reiche Mühlenbesitzer, der noch dazu der Bräutigam des schönsten Mädchens war, sich so tief herablassen könne. Eher nahmen die Leute an, welche mit den Verhältnissen genauer bekannt waren, daß Anton aus Eifersucht und Rache den angesehenen Georg verleumdet habe, was ihm selbst eben nicht zum Vortheile gereichen durfte.

Unter solchen Verhältnissen wurde Anton den Gerichten übergeben und in das Gefängniß nach der nächsten Kreisstadt abgeführt, wo die förmliche Untersuchung gegen ihn als Mörder jener Magd eingeleitet wurde. Alle Welt war von seiner Schuld überzeugt, nur seine Mutter nicht und die gute Anna, welche im Stillen über ihn weinte und durchaus nicht glauben konnte, daß ihr Jugendfreund ein Verbrecher sei; was die Leute, ihr eigener Vater und ihr Verlobter ihr darüber auch sagen mochten; ja es gab sogar Augenblicke, wo sie weit eher geneigt war, den Letzteren, so liebevoll und zärtlich auch sein Benehmen ihr gegenüber war, einer solchen That für fähig zu halten, als den armen Anton, den sie von Jugend auf kannte und wegen seiner Gutherzigkeit lieb hatte. Unwillkürlich beschlich sie in der Gegenwart des finstern Georg ein unheimliches Gefühl 233 obwohl er sichtbar bemüht war, ihr zu gefallen, und sie mit Aufmerksamkeiten und Artigkeiten aller Art überhäufte. Er hatte so viel als möglich sein rauhes Wesen abgelegt, indem er stets sein freundlichstes Gesicht ihr zeigte, aber fast war ihr seine barsche Manier noch angenehmer, als seine gleißnerische Freundlichkeit, wobei sie meist sich eines leisen Schauers nicht erwehren konnte. Manchmal, wenn er sich unbemerkt glaubte, schien es ihr, als zuckte ein höhnisches Lächeln um seinen grimmigen Mund, als loderte in seinen Blicken eine wilde, eine mit Mühe zurückgehaltene Gluth. Freilich mußte sie jeden solchen Verdacht in ihrem Herzen verschließen, da ihr Vater von seinem zukünftigen Schwiegersohn ganz bezaubert war und dessen Tüchtigkeit, Bravheit und Klugheit ihr nicht genug loben konnte, während er Anton, wenn sein Name auch zufällig erwähnt wurde, einen heuchlerischen Duckmäuser und niederträchtigen Verbrecher schalt.

Vier Wochen waren fast seitdem verstrichen, schreckliche Wochen für den armen Gefangenen, dem sie, gequält durch die inquisitorischen Fragen und Beschuldigungen des Richters, eine Ewigkeit dünkten. Nur seine arme Mutter durfte ihn von Zeit zu Zeit in Gegenwart des Gefängnißwärters 234 sprechen. Das war ein trauriges Wiedersehen voll Thränen, bitteren Leiden und herzzerschneidenden Klagen, wobei noch zum Ueberfluß jedes und selbst das unschuldigste Wort von dem Aufpasser belauscht und hinterbracht, Seufzer und Thränen gezählt, der Jammer protokollirt wurde. Dennoch war es für Anton ein Trost, die gute Frau zu sehen; sie glaubte wenigstens an seine Unschuld, und aus ihrem Munde erfuhr er auch, daß Anna ihn noch nicht vergessen. Aber zugleich brachte sie ihm auch die Nachricht von der nahe bevorstehenden Hochzeit der Geliebten, die am nächsten Sonntag gefeiert werden sollte. Der Unglückliche zuckte unwillkürlich zusammen und sah noch bleicher aus, als ihn die ungewohnte Kerkerluft und sein Jammer bereits gemacht hatten, aber im nächsten Augenblicke war er bald wieder gefaßt, unterdrückte er die in seinen eingefallenen Augen schimmernden Thränen.

»Gott segne sie,« sagte er mit gefaltenen Händen, »sie ist ein Engel.«

Während im Gefängniß Trauer und Herzeleid, herrschte in dem Hause des reichen Winkler am Vorabende der Hochzeit Jubel und Heiterkeit. Freunde und Verwandte hatten sich zahlreich eingefunden, um die letzten Stunden 235 des Junggesellenlebens dem Bräutigam kürzen zu helfen. Die jungen Burschen trieben allerlei Späße, während die Alten der Weinflasche tapfer zusprachen. Keiner aber in der ganzen Gesellschaft war heute so gut aufgelegt, wie der Verlobte, der mit freudestrahlendem, geröthetem Gesicht neben der stillen, bleichen Braut saß, und sie mit seinen glühenden, verlangenden Augen zu verschlingen schien. Er trank mit den Uebrigen um die Wette, lachte, scherzte in tollem Uebermuth und jauchzte voll dämonischer Lustigkeit. Der Wein hatte ihn gesprächiger gemacht und seine sonstige Vorsicht eingeschläfert, so daß er sich wider seine Gewohnheit gehen ließ. Anna empfand ein unwillkürliches Grausen vor ihrem Verlobten, der sie mit seinen zudringlichen Liebkosungen überhäufte, welchen sie sich vergebens zu entziehen suchte. Längst waren die übrigen Gäste gegangen, die Eltern und der jüngere Bruder Georgs waren im Hause mit allerlei Anordnungen zu der morgigen Hochzeit beschäftigt, so daß das Brautpaar ganz allein blieb.

»Gieb mir einen Kuß!« stammelte der von Wein und Liebe glühende Georg, indem er mit seinen kräftigen Armen das sich sträubende Mädchen umschlang.

»Du willst nicht!« fuhr er höhnisch lachend fort. 236

»Haha! ich weiß, daß Du den Anton lieber hast als mich, aber der kommt nicht wieder. In vier Wochen liegt der eingescharrt unter dem Rabenstein. Dafür habe ich gesorgt. Ja, ja, Mädchen! Mit mir ist nicht zu scherzen; darum reize mich nicht, sonst sollst auch Du mich kennen lernen.«

»Barmherziger Gott!« rief Anna entsetzt, indem sie sich in eine Ecke flüchtete.

»O!« lallte der Trunkene, »ich werde mit Allen fertig, mit Allen. Das dumme Frauenzimmer wollte mich zwingen, sie zu heirathen. Thorheit! Ich hab' sie mir vom Leibe geschafft für immer, ein Griff mit meiner Hand und sie lag am Boden. Ich wollte sie nicht gerade erwürgen, aber sie ließ mich ja nicht los und klammerte sich an mich wie eine Klette. Da hab' ich sie von mir abgeschüttelt und sie fiel ins Wasser. Hörst Du, sie fiel ins Wasser. Daß Du ja keinem Menschen sagst, daß ich sie hineingeworfen habe. Nicht wahr, Du wirst mich nicht verrathen, Du bist ja meine Braut, morgen mein mir angetrautes Weib und Mann und Weib sind Ein Leib.«

Mit todtenbleichem Angesicht hörte Anna dieses seltsame Geständniß, das furchtbarste Entsetzen malte sich in ihren Zügen, und alle ihre Glieder zitterten sichtbar. Der 237 Anblick des erschrockenen Mädchens schien auch den Trunkenen wieder zur Besinnung zu bringen; er ahnte, daß er sein tiefstes Geheimniß verrathen, seine verborgensten Gedanken Preis gegeben hatte.

»Du wirst doch nicht glauben,« fragte er mit unsicherer Stimme, »daß ich meine Magd erwürgt habe? Und wenn es auch so wäre, so wirst Du es keinem Menschen sagen. Komm und schwöre mir hier auf diese Bibel, daß Du mich nie verrathen willst.«

Mit diesen Worten ergriff er die bebende Anna an der Hand und zerrte sie gewaltsam zu dem Tische, auf dem die aufgeschlagene Bibel lag. Sie wollte aufschreien, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt, und unwillkürlich fühlte sie sich gefesselt von der finsteren Gewalt seines dämonischen Blickes.

»Schwöre mir,« rief er mit furchtbarer Stimme, »daß Du Keinem, auch nicht Deinem Vater sagen willst, was Du von mir gehört.«

»Ich schwöre,« sagte sie, überwältigt von dem wilden Aussehen ihres finsteren Verlobten.

»Und morgen ist unsere Hochzeit, »lachte der beruhigte Georg, »dann bin ich sicher, daß Du nicht plaudern wirst.« 238

Erschöpft und vernichtet suchte Anna, nachdem der fürchterliche Bräutigam gegangen war, ihr einsames, jungfräuliches Lager auf, aber der Schlaf kam nicht in ihre Augen. Der Gedanke, daß sie morgen das Weib eines Mörders werden sollte, erfüllte sie mit Verzweiflung, aber sie hatte auf der Bibel den heiligsten Eid geleistet, Georg nicht zu verrathen. Und Anton – ihre Thränen flossen bei der bloßen Erinnerung an den unglücklichen Geliebten. Schluchzend, mit gerungenen Händen saß sie auf ihrem Bette, ein Bild des Jammers und des Elends, beleuchtet von den blassen Strahlen des Mondes, der mitleidig auf das arme Kind niederzublicken schien. – Längst schon hatte die Thurmuhr des Dorfes Mitternacht geschlagen und mit jeder Minute rückte ihr das Unheil näher, der furchtbare Moment, wo sie für immer dem Verbrecher angehören sollte. Was aber konnte sie beginnen? – In dieser höchsten Noth richtete sie unwillkürlich ihren Blick nach Oben; sie faltete ihre Hände und betete voll Inbrunst um Hilfe und Rettung aus ihrer Bedrängniß. Plötzlich wurde es Licht vor ihren Augen, heftig sprang sie von ihrem Lager auf und kleidete sich so schnell als möglich an. Leise schlich sie auf den Zehen, um Keinen im Hause zu wecken, 239 ins Freie und schlug den Weg nach dem Hause des würdigen Pastors ein, der ihr den ersten Religionsunterricht ertheilt hatte. Bei ihm wollte sie sich Rath erholen und thun, was er für gut befinden würde.

Der treffliche Seelsorger war nicht wenig überrascht, als Anna zu so ungewohnter Stunde ihn zu sprechen verlangte, nachdem sie die Dienerschaft des Hauses geweckt und sich Eingang verschafft hatte.

»Was ist geschehn?« fragte er, erschrocken über das verstörte Aussehen des Mädchens.

»Ich komme, ehrwürdiger Herr,« entgegnete sie mit bebender Stimme, »um Ihren Rath in der wichtigsten Angelegenheit meines Lebens zu fordern. Von Ihrem Ausspruch hängt meine ganze Zukunft, Tod oder Leben.«

»So rede, meine Tochter, und Gott wird Dir helfen, wenn Du ihm vertraust.«

»Vor allen Dingen muß ich zuerst eine Frage an Sie richten, von deren Beantwortung Alles abhängt. Bin ich verpflichtet, ein Verbrechen zu verschweigen, wenn ich einen Eid auf die Bibel geschworen habe, den Thäter nicht zu verrathen?«

»Ein solcher Eid ist ungültig,« entgegnete der würdige 240 Pastor. »Nur die von Gott bestellte Obrigkeit ist berechtigt, Dir einen Schwur abzunehmen.«

»Also ich begehe keine Sünde, wenn ich die Wahrheit sage?«

»Du würdest im Gegentheil eine schwere Sünde auf Dich laden, wenn Du ihr nicht die Ehre geben wolltest. Wenn Dir ein wirkliches Verbrechen bekannt ist, so bist Du verpflichtet, es anzuzeigen, und straffällig, wenn Du es verschweigst. Kein Eidschwur kann und darf Dich von dieser heiligen Pflicht entbinden.«

»Gelobt sei Gott!« rief das Mädchen und athmete aus freier Brust, als wäre eine Centnerlast von ihrem Herzen genommen worden. »Jetzt darf ich Ihnen Alles sagen: nicht der unglückliche Anton, der schuldlos im Gefängniß sitzt, sondern mein Verlobter Georg Wildhahn hat die arme Magd ermordet.«

»Bedenke, was Du redest, Du sprichst von Deinem Bräutigam.«

»Ich rede nur die Wahrheit, er hat mir in der Trunkenheit das furchtbare Geständniß abgelegt. Als er aber zur Besinnung wieder kam, ließ er mich schwören, ihn nicht zu verrathen. Um des Himmels Willen, Herr 241 Pastor! retten Sie mich vor dem schrecklichen Menschen, der morgen mein Mann werden soll.«

»Fasse Dich, mein armes Kind! Ich werde thun, was meines Amtes ist, und sogleich die nöthige Anzeige machen, da wir keine Zeit zu verlieren haben.«

Bevor noch der Morgen graute, begab sich der Pastor in Begleitung des Schulzen und der Gerichtsleute nach der Brandmühle, wo Georg noch seinen gestrigen Rausch verschlief. Ehe der über den unerwarteten Besuch bestürzte Bruder sich fassen konnte, hatte der Geistliche durch einige geschickte Fragen ihm ein halbes Geständniß entrissen, das den vorhandenen Verdacht nur bestärken mußte. Aus seinem dumpfen Schlummer aufgestört, starrte der finstere Georg die seltsamen Gäste mit verwunderten Augen an.

»Holt Ihr mich schon zur Hochzeit ab?« fragte er taumelnd, indem er sie für das übliche Gefolge des Bräutigams hielt. »Ich glaubte nicht, daß es schon so spät sei.«

»Nicht zur Hochzeit,« entgegnete der Pastor mit erhobener Stimme, »wir holen Dich zum Hochgericht.«

»Was fällt Euch ein?« schrie der Frevler voll Entsetzen.

»Dein Verbrechen ist bekannt. Du kannst nicht 242 leugnen, daß Du jenes arme, verlorene Mädchen ermordet und den unschuldigen Anton angeklagt hast? Gieb Gott die Ehre und gestehe die Wahrheit!«

Wie vom Blitze getroffen sank der finstere Georg auf sein Bett zurück, seine sonstige Frechheit und Gleißnerei hatten ihn verlassen; er vermochte kein Wort hervorzubringen, aber in seinen verzerrten Zügen war das Geständniß seiner Schuld zu lesen.

»Anna!« rief er nach einer langen Pause, »sie hat mich verrathen. An meinem ganzen Unglück sind allein die Weiber Schuld.«

Widerstandslos ließ er sich die mitgebrachten Fesseln anlegen und folgte den Gerichtsdienern, welche ihn auf den bereitstehenden Wagen setzten, um ihn dem nächsten Kreisgericht zu überliefern. Hier gestand er seine Schuld, die außerdem durch unwiderlegliche Beweise festgestellt war, so daß er sie nicht ferner leugnen konnte. Anton wurde freigelassen und kehrte in die Arme seiner Mutter und zu seiner Geliebten zurück, die ihn reichlich für all sein Leid entschädigten. Einige Wochen nach seiner Rückkehr vereinigte der würdige Geistliche die Hände des geprüften Paares zum ewigen Bunde vor dem Altar des Herrn. 243

Der finstere Georg erwartete nicht das Urtheil des irdischen Richters, man fand ihn eines Tages in seiner Zelle an der Thür erhängt. Die Brandmühle kam zum Verkauf und wurde von dem reichen Winkler erstanden, dessen Schwiegersohn an der Seite eines holden Weibes und lieblicher Kinder die Stätte finsterer Verbrechen in einen Aufenthalt des häuslichen Glückes und wohlverdienten Segens umgewandelt hat. An dem First der renovirten Mühle liest man aber noch heute den frommen Spruch: »Ehrlich währt am längsten!«



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