Max Ring
Lose Vögel
Max Ring

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Bäcker oder Becker.

Im Hause des Rentiers Laßmann war eine fröhliche Gesellschaft versammelt, um den Silvesterabend zu feiern. So oft der alte Herr nur konnte, sah er die Seinigen, Verwandte und Freunde bei solch feierlichen Gelegenheiten gern bei sich. Er selbst war trotz der Jahre immer heiter und gut gelaunt, auch kannte er kein größeres Vergnügen, als sich mit einem Kreise froher und guter Menschen zu umgeben. Nach seiner Behauptung verjüngte er sich selbst durch den Umgang mit der Jugend, deren laute Lust ihn durchaus nicht störte, sondern stets belebte. So saß er auch heute in dem gestickten Lehnstuhl, ein Geschenk seiner Schwiegertochter, und überschaute mit vergnügten Blicken die lieben Gäste, die sich auf sein Gebot 150 hier eingefunden hatten. Auf dem Tische stand die dampfende Bowle, deren Duft die Gemüthlichkeit der ganzen Umgebung nur vermehren half. Das Schenkamt verwaltete ein liebliches Mädchen, das mit angeborner Grazie die leeren Gläser füllte. Fräulein Anna hatte viel zu thun, denn die anwesenden Herren beeilten sich stets von Neuem aus ihren Händen den würzigen Trank zu empfangen. Der heitre Wirth schaute überdies mit hellen Augen umher und sorgte, daß keiner seiner Gäste im Rückstand blieb. Auch die Wangen der anwesenden Damen begannen sich zu röthen, die schönen Augen funkelten und manch heitrer Scherz entschlüpfte ihren rosigen Lippen. Noch hatte die bedeutsame Stunde nicht geschlagen, das neue Jahr war noch nicht angebrochen. Von Zeit zu Zeit sah Einer oder der Andere in der Gesellschaft auf die Uhr und zählte ungeduldig die Minuten bis zur Mitternacht. Endlich schlug es Zwölf; langsam und feierlich verhallten die Töne der alten Stutzuhr, welche ein Erbstück der Familie war und die schon manches neue Jahr mit ihrem Schlage eingeläutet hatte. Der alte Herr erhob sich von seinem Lehnstuhl, lüftete das schwarze Käppchen, welches er gewöhnlich trug und begrüßte mit kurzen, aber inhaltsreichen Worten das 151 neue Jahr. Auf einige Augenblicke erhielt dadurch das heitere Familienfest eine ernstere Weihe und wurde zu einem stillen Gottesdienst. Der würdige Greis mit seinem Silberhaupt sah in der That wie ein Priester aus, der den Segen des Herrn auf die Seinigen nieder fleht.

Doch bald verschwand wieder diese feierliche Stimmung wie ein Wolkenschauer, der segenbringend vorüberzieht; Scherz und Lust brachen von allen Seiten gleich goldenen Sonnenstrahlen hervor. Hände wurden gedrückt, Küsse genommen und gegeben, Wünsche ausgesprochen, viel gescherzt und noch mehr gelacht. Auf allen Gesichtern glänzte die Freude, welche der heitere Wirth noch zu steigern versuchte. Bald forderte er die jungen Leute zu einem Chorgesange auf, bald neckte er die Mädchen und trieb ihnen durch schalkhafte Worte und Anspielungen das Blut in die ohnehin schon glühenden Wangen. Besonders war Annchen, die Schwester seiner Schwiegertochter, sein Liebling und darum zumeist seinem liebenswürdigen Scherze ausgesetzt. Als sie ihm wie die übrigen Damen Glück zum neuen Jahre wünschte, verlangte er auch einen Kuß von ihr.

»Zwei für einen,« sagte das heitere Mädchen und reichte ihm die frischen Lippen hin. Der Alte küßte sie 152 und schmunzelte: »Schmeckst du prächtig! Weiß Gott, wenn ich noch ein junger Mann wäre, so müßte Annchen meine Frau werden und keine Andere.«

»Väterchen!« warnte die Schwiegertochter des Alten mit aufgehobenem Finger, »werden Sie mir nicht ungetreu, sonst verklag' ich Sie, denn Sie haben mir ja Ihre Liebe zugeschworen.«

»Du hast schon dein Theil,« lachte der heitere Greis, »und bist hoffentlich mit deinem Mann zufrieden?«

»Das will ich meinen,« sagte die junge Frau und schmiegte sich an den Sohn des Herrn Laßmann, indem sie zugleich mit dankbaren Blicken dem Schwiegervater die Hand reichte.

»Nun, Annchen!« lachte von Neuem der Greis, »für Sie muß doch auch gesorgt werden. Schade, daß ich keinen Sohn mehr habe, denn ich bin doch schon zu alt für Sie. Wir müssen Ihnen einen Bräutigam noch heute Abend aussuchen. Die Sylvesternacht ist besonders für junge Mädchen günstig. Was meinen Sie, wenn wir das Schicksal fragen, wen es für Sie bestimmt hat?«

»Das Schicksal wird sich viel um solche Possen kümmern,« entgegnete das Mädchen rasch. 153

»Da sieht man wieder die neumodische Aufklärung,« eiferte Herr Laßmann. »Das Schicksal kümmert sich um den kleinsten Wurm und die geringste Blüthe und sollte ein Menschenherz vergessen? Ei, ei, Annchen! das war nicht klug gesprochen. Zu meiner Zeit war noch der rechte Glaube, und es gab kein Mädchen, das nicht in der Sylvesternacht im Geheimen Blei gegossen hätte.«

»Das können wir auch thun,« – sagte die Schwiegertochter, die dem Alten alle Wünsche von den Augen ablas und zu gut wußte, wie sehr der Greis an den Sitten und Gebräuchen, selbst an dem unschuldigen Aberglauben seiner Jugend hing.

Der Vorschlag wurde von allen Seiten mit lautem Beifall aufgenommen, und das junge Volk konnte nicht den Augenblick erwarten, um an's Werk zu gehn. Die ganze Gesellschaft begab sich in feierlicher Prozession nach der Küche, wo ein lustiges Feuer auf dem Herd noch brannte. Blei war im Hause hinlänglich vorhanden, ein Blechlöffel wurde zum Schmelzen schnell herbeigeschafft, und ebenso eine Schüssel mit kaltem Wasser, um die geschmolzene Masse abzukühlen. 154

Unter Scherzen und Lachen drängte man sich um das Orakel, das in wunderlichen Figuren und Gestalten, die das erkaltete Metall annahm, seine Offenbarungen kund that. Bald war es ein Baum mit zartem Laub, bald eine Kirche, bald ein Schiff, das zum Vorschein kam, meistentheils aber unförmliche Klumpen, welche keiner Deutung fähig waren. Die Phantasie mußte fast immer bei der Erklärung das Beste thun, und es fehlte natürlich nicht an heiteren Scherzen und Witzen, bei denen sich der alte Herr wie gewöhnlich besonders hervorthat.

Manche Anspielung wurde gemacht, manch schlecht behütetes Geheimniß unter Lachen und Erröthen verrathen. Die jungen Mädchen zischelten und kicherten, die Männer stießen sich gegenseitig an, und die Frauen brauchten einander nur anzusehen, um sich höchst interessante und kuriose Geschichten zu erzählen. Da hatte ein unverheiratheter Herr eine Wiege gegossen und wurde darum aufgezogen; dort hatte ein Mädchen, das mit einem Kavallerieoffizier bekannt war, ein ziemlich gelungenes Pferd mit Zaum und Sattelzeug erhalten. Selbst wo die Figuren eben nicht zu den Persönlichkeiten passen wollten, suchte man so lange daran herum, bis man gefunden hatte, was man wünschte, 155 und der dabei entwickelte Scharfsinn war in der That höchst wunderbar. Endlich war auch die Reihe an Annchen gekommen. Obgleich ihr Herz noch frei und gänzlich ungebunden war, zitterte doch ihre Hand merklich, als sie den verhängnißvollen Löffel über dem Feuer hielt. So stand sie in holder Befangenheit, von der rothen Gluth beschienen.

Ein eigenthümliches Bangen hatte sie erfaßt; fast schien es ihr vermessen, das Schicksal um die Zukunft zu befragen, und ihre Augen schauten träumerisch in die Flammen und auf das Blei, welches allmälig zu schmelzen begann. Mit raschem Guß schüttete sie das flüssige Metall in das kalte Wasser, welches darüber zischend zusammenschlug. Annchen zögerte, die Figur herauszuheben. Neugierig drängte sich die Schwester heran.

»So sieh doch nach,« sagte sie, »was Du gegossen hast.«

»Ach! ich fürchte mich,« entgegnete das Mädchen.

»Sei doch nicht kindisch!« rief die Frau, und griff in die Schüssel, aus der sie das geschmolzene Blei hervorlangte, um es ihr hinzureichen; Annchen wagte es kaum anzurühren.

»Laß doch sehn, was Dir bescheert ist,« fragte lachend der Schwager. 156

Das Mädchen hatte noch keinen Blick auf die Figur geworfen, ihr war zu Muthe, als ruhte das Geschick ihrer Zukunft in der kleinen Hand.

»Nun, Annchen! zeigen Sie uns Ihren Schatz,« lachte der Alte, »oder wollen Sie ihn für sich allein behalten?«

Fast zitternd reichte sie das Blei dem alten Herrn.

»Ein Brod, ein Brod!« rief dieser laut, »Annchen wird einen Bäcker heirathen.«

»Einen Bäcker?« scherzten die Anwesenden, »gratulire, Frau Bäckerin!«

Das heitere Mädchen wurde durch den lärmenden Glückwunsch im Anfang fast verstimmt, doch bald gewann die bessere Laune in ihr die Oberhand, und sie stimmte selbst ein in die Neckereien, die von allen Seiten ihr entgegenflogen.

»Ich werde wenigstens immer Brod haben,« lachte sie.

»Und einen weisen oder weißen Mann,« scherzte Herr Laßmann.

»Das bitte ich mir aber aus, daß die Zwiebacke immer frisch sind.«

»Sie werden auch zu Weihnachten einen schönen Kuchen mit großen Rosinen bekommen,« sagte Annchen, 157 »wenn Sie das ganze Jahr die Semmel bei mir nehmen.«

»Das versteht sich von selbst,« entgegnete der heitere Alte. »Sie sollen meine Kundschaft haben, Frau Bäckerin.«

Auch ihre Freundinnen ließen es nicht an Scherz und Witzen fehlen und zogen Annchen mit dem Bäcker tüchtig auf. Endlich schlug die Abschiedsstunde für die heitere Gesellschaft. Mäntel und Hüllen wurden hereingebracht, und der Alte entließ in frohster Laune den Besuch. Als Annchen ihm eine gute Nacht bot, rief er ihr lachend zu: »Schlafen Sie wohl und träumen Sie von Ihrem Bäcker.«

In Begleitung ihres Schwagers, bei dem sie wohnte, verließ sie gedankenvoll und aufgeregt das gastfreundliche Haus. Draußen war eine schöne, frische Winternacht. Der Mond schien hell und klar, und Millionen Sterne glänzten in funkelnder Juwelenpracht. Die Straßen waren trotz der späten Zeit noch sehr belebt. Fröhliche Schwärmer kamen von allen Seiten und riefen mit lauter Stimme: »Pros't Neujahr!« den Vorübergehenden zu. Selbst Unbekannte begrüßten sich mit diesem Zuruf und wünschten sich Glück und Heil. Das bedeutungsvolle Fest hatte die Herzen erschlossen und die Lippen aufgethan. Der Mensch 158 trat dadurch dem Menschen näher; aus der Nähe und Ferne tönte der frohe Gruß, wie eine Mahnung an die erträumte Brüderlichkeit. Dann und wann zog wohl auch ein lärmender Trupp ausgelassener Gesellen vorüber, die zu tief in's Glas gesehn. Scheu wich Annchen, die hinter dem Ehepaar, ihren eigenen Gedanken überlassen, ging, ihnen aus. Sie wußte selbst nicht, wie es kam, aber plötzlich waren die Ihrigen weit voran, und sie befand sich allein, ohne schützende Begleitung, auf der belebten Straße.

Während sie verlegen sich umschaute, rief ihr eine helle fröhliche Männerstimme zu: »Pros't Neujahr, mein Fräulein!«

»Pros't Neujahr!« erwiderte sie in demselben Ton.

»Sie gehn so allein, vielleicht darf ich Sie begleiten?« fragte der Fremde. Annchen zögerte verlegen und wollte dankend vorübergehn.

»Sie setzen sich der Gefahr aus, von einem Betrunkenen angerannt zu werden,« fuhr er dringend fort, »ich dächte, Sie nähmen mich zu Ihrem Ritter an.« Dieser Grund schien dem fröhlichen Mädchen einzuleuchten.

»Gut! ich nehme Sie zu meinem Beschützer,« sagte sie.

»Aber umsonst ist der Tod,« entgegnete der Fremde. 159

»Ei! wieviel verlangen Sie denn für Ihre Begleitung?« fragte Annchen lachend, welcher der scherzhafte Ton ihres neuen Beschützers nicht mißfiel.

»Zwei gute Groschen für den Nachtwächter, sonst komm' ich nicht in's Haus hinein. Ich habe keinen Heller Geld bei mir.«

»Ach! ein Silbergroschen ist auch genug. Sie sind viel zu theuer für mich.«

»Unter zwei Groschen thu' ich's nicht,« erwiederte der Fremde mit dem ernstesten Gesicht der Welt.

»Topp! Sie sollen sie haben,« scherzte das Mädchen.

»Schlagen Sie ein, also abgemacht,« sagte der Begleiter und bot Annchen seinen Arm.

Beide gingen nun plaudernd neben einander her. Von Zeit zu Zeit warf Annchen noch einen mißtrauischen Blick auf den seltsamen Begleiter, der unbefangen an ihrer Seite schritt. Die Prüfung fiel eben nicht zu seinem Nachtheil aus; er mochte in dem Alter von fünfundzwanzig Jahren stehn und zeigte, so weit sich das im Mondschein erkennen ließ, eine schlanke hohe Gestalt und ein offenes, interessantes Angesicht. Ein kecker Humor belebte seine Unterhaltung und forderte die angeborene Schalkhaftigkeit des Mädchens 160 ebenfalls heraus. Bald hatte Annchen ihre anfängliche Befangenheit verloren, und es kam ihr vor, als spräche sie mit einem alten Bekannten, obgleich sie weder den Namen noch den Stand des Fremden wußte. Da sie ziemlich schnell gingen, so holten sie in der Nähe der Wohnung den Schwager mit der Schwester ein.

»Annchen! wo bleibst Du denn?« rief ihr diese schon von Weitem zu.

»Ei! ich hab' euch aus dem Gesicht verloren, und dieser Herr war so gütig, mich zu begleiten.«

Mit diesen Worten stellte sie den Fremden den Ihrigen vor. Diese dankten ihm und wollten sich empfehlen.

»Halt,« rief Annchen, »erst müßt Ihr mir zwei Groschen geben, die ich meinem Begleiter schuldig bin.«

»Was soll das wieder heißen?« fragte ungeduldig der Schwager.

»Umsonst ist der Tod,« scherzte Annchen »und ich bin dem Herrn zwei Groschen für seine Begleitung schuldig.«

»Aber Annchen!« mahnte die Schwester, indem sie den wohlgekleideten Begleiter mit zweifelnden Blicken anschaute.

»In der That,« sagte dieser, »das Fräulein ist mir 161 zwei gute Groschen schuldig, die ich dringend für den Nachtwächter brauche. Ich komme sonst nicht in mein Hans hinein.«

»Seltsam!« murmelte der Schwager, indem er verlegen seine Börse zog, um ein Zweigroschenstück daraus hervorzulangen.

»Ich habe nur Viergroschenstücke,« sagte er, nachdem er einige Zeit vergebens gesucht hatte.

»Um so besser für den Nachtwächter,« entgegnete der Fremde; »geben Sie nur her. Morgen bringe ich Ihnen zwei Groschen wieder. Sie können mir trauen.«

Lachend und mit Kopfschütteln händigte der Schwager dem jungen Manne das Geldstück ein.

»Sein Sie ganz ohne Sorgen, ich werde Ihnen nicht durchgehn, und damit Sie auch wissen, wer Ihr Schuldner ist, so will ich Ihnen meinen Namen sagen; ich heiße Becker

Ein leiser Schrei der Ueberraschung entschlüpfte unwillkürlich Annchen und ihrer Schwester, auch der Schwager schien verlegen, nur der Fremde nahm mit leichtem und gefälligem Anstande Abschied von der betroffenen Familie.

»Das ist ja eine kuriose Geschichte,« bemerkte der 162 Schwager, indem er die Hausthür öffnete, »ein eigenthümliches Zusammentreffen. Dieser Herr Becker scheint ein wunderlicher Kauz zu sein.«

»Und am Ende wird aus Annchen doch noch eine Frau Bäckerin,« scherzte die Schwester, welche die erste Ueberraschung überwunden hatte.

»Wie Du nur so schwatzen kannst,« rief das Mädchen fast ärgerlich, »eine Bekanntschaft von der Straße!«

»Und ein Mann, der nicht einmal zwei Groschen in der Tasche hat,« schaltete der Schwager dazwischen ein. »Das wäre mir für Annchen der rechte Bräutigam, irgend ein Schwiemel, ein hergelaufener Lump.«

Eine flammende Röthe schoß mit einem Mal jetzt Annchen in's Gesicht, und ihr war, als hätte der Schwager recht was Schlimmes ihr selbst gesagt. Sie fühlte, wie das Herz ihr laut und vernehmlich pochte, und in ihrer Brust regte sich ein unbekanntes Etwas zu Gunsten ihres sonderbaren Begleiters. Gern hätte sie seine Vertheidigung übernommen, aber sie fürchtete ihr aufkeimendes Gefühl zu verrathen. Eine unerklärliche Scheu hielt sie zurück. Verstimmt bot sie kurz den Ihrigen eine gute Nacht und ging auf ihr Schlafgemach. Vergebens waren ihre 163 Bemühungen, bald einzuschlafen. Wie ein neckender Kobold stand die Gestalt des Fremden immerwährend vor ihren Augen, und sein Name klang ohne Aufhören in ihren Ohren. Frau Becker flüsterte es aus allen Winkeln, Frau Becker lachte und kicherte es in einem fort. Sie zog die Bettdecke tief über das blonde Haupt, aber die schadenfrohen Geister wurden dadurch nicht gebannt und trieben selbst, als sie endlich eingeschlummert war, noch ihr Spiel im bunten Traum. Später als gewöhnlich stand sie auf. Sie traf die Ihrigen am Kaffeetisch.

»Das heiß' ich einmal lang geschlafen,« rief ihr schon von weitem der Schwager lachend entgegen, »gewiß hast Du von Deinem Becker geträumt.«

Annchen wurde über und über roth, sie schwieg, obgleich sie doch sonst um eine Antwort nicht verlegen war.

»Ich bin doch neugierig, ob er die zwei Groschen bringen wird,« bemerkte die Schwester, indem sie Annchen die Tasse hinreichte.

»Ich bitte Euch,« sagte diese, »verderbt mir nicht den schönen Morgen mit Eurem Geschwätz. Was geht mich denn dieser Mensch an?«

So sprach sie, während sie im Stillen unwillkürlich 164 an ihn dachte. Das Herz der Mädchen ist ein eigen Ding. Alles Abenteuerliche und Ungewohnte hat einen besonderen Reiz für sie, und man darf ihnen am wenigsten trauen, wenn sie am heftigsten gegen ihre Neigung eifern. Trotzdem Annchen laut versicherte, daß sie von dem wunderlichen Menschen durchaus nichts mehr wissen wolle, pochte doch ihr Herz, so oft draußen die Glocke gezogen wurde und der Dienstbote eintrat, um irgend einen gleichgültigen Besuch zu melden. Zuweilen trat sie sogar ungeduldig an das Fenster und schaute, so weit es die angelaufenen Scheiben gestatteten, auf die Straße und nach einem gewissen Becker, der sich noch immer nicht erblicken ließ. Natürlich geschah das nur ihrem Schwager zu Possen, der durchaus nicht glauben wollte, daß der Herr ihm die zwei Groschen bringen würde. Wie wollte sie sich freuen, wenn der Unrecht hätte –.

Nein, andere Gefühle regten sich durchaus nicht in ihrer Brust, wenn sie auch noch so oft an das Fenster trat; sie wollte nur Recht behalten, denn im Grunde genommen, was ging sie der Herr Becker eigentlich an, da sie ihn gestern Abend zum ersten Mal in ihrem Leben gesehn hatte. Stunde auf Stunde verging, und kein Becker 165 ließ sich erblicken; sie hätte vor Unmuth wirklich weinen mögen, blos weil der unausstehliche Schwager immer wieder seine witzelnden Bemerkungen über das Abenteuer machte. Da klang von Neuem die Glocke, jetzt ist er's ganz gewiß. Das Herz sagte es ihr und diesmal sprach es wahr. Der Dienstbote brachte eine Karte, auf welcher zierlich in gothischer Schrift der Name Becker stand. Der Angemeldete trat mit einer leichten Verbeugung ein, Annchen vergaß fast, dieselbe zu erwiedern, so verlegen machte sie dies nochmalige Zusammentreffen. Sie hatte gestern ihren Begleiter nur flüchtig und im schwankenden Mondlicht gesehn. Ein dichter Mantel hatte seine Gestalt und einen Theil seines Gesichtes ihr verhüllt. Jetzt sah sie einen feinen, eleganten Mann in ihrer Nähe stehn, der mit dem größten Takt und gewinnender Artigkeit sein seltsames Benehmen in der Nacht mit seiner heiteren Weinlaune entschuldigte und Annchen einen Strauß der seltensten Blumen als Sühne und schuldigen Neujahrsgruß überreichte. Sie zögerte, die kostbare Gabe in Empfang zu nehmen; ein Blick der Schwester munterte sie auf, und unwillkürlich berührte da seine Hand die ihrige, welche leise zitterte. Dem Schwager wurden hierauf lachend die zwei Groschen 166 eingehändigt. Bald war jede Verlegenheit und Befangenheit geschwunden; nur so oft der Name Becker genannt wurde, schwebte ein eigenthümliches Lächeln auf den Lippen des Ehepaars, während Annchen mehr als einmal im Verlaufe der interessanten Unterhaltung erröthete.

Der Humor, mit welchem Herr Becker sein Gespräch belebte, hatte zwar viel von seiner gestrigen Keckheit eingebüßt, aber eben so viel an Grazie in Annchens Ohren gewonnen. Unvermerkt kam die Mittagszeit heran, der Gast wollte sich entfernen, doch der Schwager lud ihn so dringend ein, daß er endlich blieb, wozu freilich Annchen, ohne nur ein Wort zu sprechen, mehr beigetragen hatte, als der Wirth mit all' seiner Ueberredungskraft. Ganz natürlich kam Annchen neben Herrn Becker bei Tisch zu sitzen und vergaß über seine Unterhaltung fast das ganze Essen. Oefter als es nöthig war, begegnete dabei ihr Blick dem seinigen, und so oft das geschah, stieß die Schwester ihren Mann unter dem Tisch bedeutungsvoll mit dem Fuße an. Endlich erhob sich der Schwager und stieß mit seinem neuen Bekannten mit dem Weinglas an.

»Es lebe Herr Becker!« rief er dabei bedeutungsreich.

Die Schwester mußte, als sie mit Annchen anstieß, 167 krampfhaft auf die Zähne beißen, um das laute Lachen zu verbergen.

Als der Kaffee aufgetragen war, zogen die Damen sich zurück, damit die Herren ungenirt ihre Cigarre rauchen konnten. Herr Becker schien seinem freundlichen Wirth sehr zerstreut. Nur so viel erfuhr dieser von ihm, daß er Rittergutsbesitzer sei und wegen einer Erbschaftsangelegenheit sich einige Zeit in der Stadt aufhalten müßte. Natürlich wurde beim Abschied Herr Becker dringend aufgefordert, seinen Besuch zu wiederholen, und was das Merkwürdigste dabei war, Annchen schien mit dieser Aufforderung ganz zufrieden zu sein und ertrug die Neckereien ihres Schwagers mit leichtem Sinn. Niemand aber nahm die Nachricht von dem seltsamen Ereignisse fröhlicher auf, als der alte Herr Laßmann, der die ganze Geschichte noch an demselben Tage erfuhr.

»Hab' ich es nicht gesagt,« rief er lachend, indem er dem erröthenden Mädchen die brennenden Wangen streichelte, »das Orakel lügt nicht. Sie werden noch in diesem Jahr Frau Beckerin. Dafür tanz' ich auch auf Ihrer Hochzeit mit Ihnen den ersten Tanz.«

Und so kam es auch. Herr Becker war bald in der 168 Familie ein täglich gern gesehener Gast und hielt schon nach wenig Wochen um Annchens Hand an. Erst am Verlobungstage erfuhr er die geheimnißvollen Begebnisse der Sylvesternacht und konnte sich somit das Lachen deuten, das stets bei seinem Namen auf den Lippen seiner Freunde schwebte. Bei dem frohen Mahle stieß der alte Herr mit Annchen auf das glückliche Orakel an.

»Bäcker oder Becker, wenn's nur der Rechte ist, den Gott Ihnen bestimmt,« rief er fröhlich aus.

»Er ist's,« sagte Annchen mit strahlenden Augen und reichte dem Glücklichen ihr frisches Lippenpaar zum Kuß.



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