Max Ring
Lose Vögel
Max Ring

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Das Fabrikmädchen.

Der Thee war servirt; die Präsidentin v. Wulfen erwartete die Gesellschaft, welche sich wöchentlich an dem bestimmten Tage in ihrem Salon zu versammeln pflegte. Nach und nach erschienen die Gäste, geistreiche Männer und liebenswürdige Frauen; ganz zuletzt der Justizrath Kelch, einer der geachtetsten Kriminalisten der Residenz, der sich wegen seines späten Kommens mit seinen überhäuften Berufsgeschäften entschuldigte.

»Gewiß wieder eine interessante Haussuchung,« spottete die heitere Wirthin, »wobei sie zwei baumwollene Taschentücher und einige Kinderkragen gefunden haben, oder eine Schlägerei mit obligaten blauen Augen und blutigen Nasen. Sie sind wirklich zu bedauern, daß sie Ihren Geist und Ihre Zeit an solche Lappalien verschwenden.« 248

»Trotzdem möchte ich meine Stellung mit keiner andern vertauschen,« versetzte der Justizrath, ein Mann in den besten Jahren, mit feinen, scharfen Zügen und durchdringenden Blicken. »Für den Psychologen gibt es gewiß keinen schöneren Beruf.«

»Ich stelle es mir schrecklich vor, fortwährend mit der Nachtseite der Gesellschaft es zu thun zu haben. Zuletzt kommt man dazu, in jedem Menschen nur einen Verbrecher zu sehen. Dabei muß man zuletzt alle Idealität einbüßen, jede Poesie verlieren.«

»Sie irren, gnädige Frau! Gerade die Kriminalistik bietet eine Fülle romantischer Stoffe und Abenteuer, um die ein Dichter uns beneiden kann. Jeder Schriftsteller und besonders jeder Novellist sollte die Gerichtsverhandlungen besuchen und die Verbrecherwelt studiren. Erst heute ist ein interessantes Ereigniß zu meiner Kenntniß gelangt.«

»Lassen Sie hören,« bat die Präsidentin. »Sie spannen unsere Neugierde auf das Höchste. Aber zuvor nehmen Sie noch eine Tasse Thee.«

»Vielleicht ist Ihnen der Baron von Blanken bekannt?« fragte der Justizrath, nachdem er getrunken hatte. – 249

»Doch nicht der tolle Blanken?« versetzte die Präsidentin, einigermaßen verwundert.

»Wahrscheinlich derselbe. Er besitzt große Güter an der russischen Grenze, die aber stark verschuldet und mit Hypotheken belastet sind, so daß sie nächstens sequestrirt werden sollen.«

»Seine Frau war eine geborene von Berkenhagen, meine beste Jugendfreundin. Arme Clementine!«

»Sie starb vor einem Jahre, mit Hinterlassung einer einzigen Tochter aus erster Ehe.«

»Klothilde, ein reizendes Kind, um das ich meine Freundin oft beneidet habe. Sie kann jetzt höchstens achtzehn Jahr alt sein. Bitte, bitte, lieber Justizrath, erzählen Sie mir weiter. Ich habe so lange Zeit von der Familie nichts gehört, da ich seit dem Tode der guten Clementine alle Verbindung mit dem Baron abgebrochen habe.«

»Ich weiß in der That nicht,« erwiederte der Justizrath zögernd, »ob ich unter diesen Umständen fortfahren darf, da Sie ein so lebhaftes Interesse verrathen. Hätte ich geahnt, daß Sie der unglücklichen Familie so nahe stehen, so würde ich Anstand genommen haben.«

»Ich beschwöre Sie,« rief die Präsidentin, jetzt tief 250 bewegt, »mir nichts zu verschweigen. Ich will, ich muß Alles wissen.«

»Die Angelegenheit kann ohnehin nicht verborgen bleiben, da sie bereits in die Oeffentlichkeit gedrungen ist. Morgen werden vielleicht die Zeitungen darüber berichten. Es ist daher besser, wenn Sie aus meinem Mund erfahren, daß die junge Baroneß Klothilde seit einigen Wochen vermißt wird.«

»Sie glauben doch nicht, daß ein Verbrechen gegen das arme Kind vorliegt?«

»Fast muß ich das befürchten; wenigstens liegt die Vermuthung nahe. Die Baronesse, welche, wie Sie wissen, bei ihrem Stiefvater lebte, ist plötzlich verschwunden. Anfänglich hegte man den Verdacht, daß das Fräulein sich selbst das Leben genommen, da sie seit dem Tode ihrer Mutter eine auffallende Schwermuth zeigte, welche die Grenzen der kindlichen Trauer um einen solchen Verlust zu überschreiten schien. Die sorgfältigsten Nachforschungen haben jedoch diesen Verdacht vollkommen widerlegt. Durch genaue Ermittlungen steht es fest, daß die Baronesse heimlich das Schloß ihres Stiefvaters verlassen hat, um aus unbekannten Gründen eine Reise anzutreten, was sich 251 daraus schließen läßt, daß sie sich mit einer allerdings nur kleinen Geldsumme versehen und auch den von ihrer Mutter ererbten Schmuck mitgenommen hat, da derselbe fehlt. Auch will man auf der dem Gute zunächst liegenden Eisenbahnstation noch die Baronesse bemerkt und erkannt haben, wie zuverlässige Zeugen aus der Nachbarschaft bekunden. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Vermißte die Absicht hatte, nach der Residenz sich zu begeben, wenigstens deuten die gefundenen Spuren darauf hin. Ob sie glücklich angelangt, hier von ihrem Schicksal ereilt wurde, oder unterwegs beraubt und ermordet worden ist, wage ich nicht, zu entscheiden. Augenblicklich ist die Polizei damit beschäftigt, ein jedenfalls vorliegendes Verbrechen zu entdecken und den Thätern nachzuspüren. Die Untersuchung liegt in meinen Händen, aber ich gestehe, daß ich wenig Hoffnung habe, das Dunkel aufzuhellen und die Schuldigen zu finden.«

»Entsetzlich!« klagte die Präsidentin. »Ein Fluch ruht auf diesem Hause. Die Mutter starb an gebrochenem Herzen und die Tochter ermordet.«

»Es thut mir leid,« versetzte der Justizrath, »Sie durch meine Erzählung betrübt zu haben. Verzeihen Sie, gnädige Frau, aber ich wußte nicht, daß Sie diesen traurigen 252 Ereignissen so nahe stehen. Nochmals bitte ich um Entschuldigung.«

»Im Gegentheil,« erwiederte die Präsidentin. »Ich muß Ihnen eher dankbar sein, daß Sie mich an meine Pflicht gemahnt. Vielleicht kann meine genaue Kenntniß der Verhältnisse Ihnen von Nutzen sein und dazu beitragen, die Entdeckung der Schuldigen herbeizuführen.«

»Sie werden mich durch jede Ihrer Mittheilungen im hohen Grade verbinden und dürfen dabei auf meine strengste Diskretion rechnen, so weit sich dies mit meiner Amtspflicht verträgt. Vielleicht gestatten Sie mir, daß ich Sie morgen besuche, da Sie in diesem Augenblick unter dem Eindruck des schrecklichen Ereignisses zu leiden scheinen.«

Die Präsidentin war damit einverstanden und erbot sich, dem Justizrath jede gewünschte Auskunft zu ertheilen, worauf das Gespräch eine allgemeine Wendung nahm, obgleich die Stimmung der Gesellschaft eine gedrückte war, so daß die Gäste früher als gewöhnlich sich von der sichtlich angegriffenen Wirthin verabschiedeten.

Am nächsten Tage saß der Justizrath noch bei seinem Frühstück, als sich ein wegen seiner Tüchtigkeit bekannter Polizeibeamter bei ihm melden ließ. Der 253 Kriminalkommissarius Wecker galt mit Recht für ein Genie in seinem Fache, weshalb ihm gerade die schwierigsten Fälle zur Nachforschung übertragen wurden.

»Was bringen Sie mir Neues?« fragte der Justizrath, mehr als je gespannt.

»Ich glaube, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben, die mit dem Verschwinden der vermißten Dame zusammenhängt.«

»In diesem Fall dürfen Sie eine besondere Belohnung beanspruchen. Aber erzählen Sie nun, lieber Wecker!«

»Sie wissen, Herr Justizrath, daß bisher alle meine Mühe vergebens war, auch nur die leiseste Spur der Verbrecher zu entdecken, so daß ich bereits alle Hoffnung aufgegeben. Gestern führte mich der Zufall zu dem Pfandleiher Tobias, bei dem ich eine Recherche wegen des großen Juwelendiebstahls abhalten sollte. Bei dieser Gelegenheit fand ich diesen Ring und diese goldene Damenuhr, die nach der uns mitgetheilten Beschreibung dem verschwundenen Fräulein angehören müssen.«

»Wenn Sie sich nur nicht täuschen. Ein Ring sieht dem andern ähnlich und Uhren kann selbst der Fabrikant nicht immer wieder erkennen.« 254

»Diesmal bin ich meiner Sache ganz gewiß. Der Ring zeigt die in dem Verzeichniß der von dem Fräulein mitgenommenen Gegenstände angegebene Inschrift und Jahreszahl. Auch auf die Uhr paßt die Beschreibung ganz genau, wie Sie sich leicht überzeugen können.«

»In der That,« versetzte der Justizrath nach vorsichtiger Prüfung. »Die Angaben stimmen wunderbar, so daß ich nicht länger zweifeln kann.«

»Ich habe natürlich sogleich den alten Tobias in's Gebet genommen, der alle Erzväter und Propheten als Zeugen seiner Unschuld angerufen hat. Nach seinen mir vollkommen glaublich erscheinenden Aussagen, hat ihm eine ältliche Frau die Sachen zum Versatz gebracht. Ich ließ mir seine Bücher vorlegen, die jeder concessionirte Pfandleiher ordnungsmäßig führen muß. Es war nicht leicht, unter der Menge seiner Kunden die Gesuchte aufzufinden, aber meine Mühe wurde reichlich belohnt. Nach mehrstündiger Arbeit entdeckte ich den Namen der Frau, welche die Uhr und den Ring für zwanzig Thaler versetzt hat.«

»Damit ist allerdings ein Fingerzeig gewonnen, der uns vielleicht zum Ziele führen kann.«

»Die Frau, welche Louise Hähnel heißt, ist das 255 Weib eines Arbeiters in der großen Spinnerei des reichen Fabrikanten Glaubrecht, bisher durchaus unbescholten und den besten Leumund genießend, weshalb ich nicht früher gegen sie einschreiten wollte, bevor ich mit dem Herrn Justizrath Rücksprache genommen habe,« berichtete der Kriminalbeamte in geschäftsmäßigem Ton.

»So leid es mir thut,« erwiederte der Justizrath nach einigem Nachdenken, »so bleibt uns nichts übrig, als eine strenge Haussuchung in der Wohnung des Fabrikarbeiters vorzunehmen, und wenn sich unser Verdacht bestätigen sollte, die Leute zu verhaften. Sie werden das Nöthige sogleich veranlassen, da wir keine Zeit zu verlieren haben. Im Laufe des Tages erwarte ich Ihren ferneren Rapport.«

Nachdem sich der Beamte entfernt hatte, um diesen Auftrag auszuführen, begab sich der Justizrath nach dem Hause der Präsidentin, die ihn mit auffallender Niedergeschlagenheit empfing.

»Ich habe,« sagte sie mit matter Stimme, »die ganze Nacht vor Aufregung nicht geschlafen. Fortwährend umschwebte mich das Bild meiner unglücklichen Jugendfreundin und ihrer verlorenen Tochter.«

»Es ist jetzt wenigstens Hoffnung da, die Thäter zu 256 entdecken,« versetzte der Justizrath, indem er der Präsidentin den wichtigen Fund des Kriminalkommissarius mittheilte.

»Ich würde mich freuen,« entgegnete sie, »wenn es Ihnen gelingen sollte, die wahren Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Was ich dazu beitragen kann, soll gewiß geschehen, so sehr es mich auch schmerzt, über die eigenthümlichen Verhältnisse der mir so nahe stehenden Familie zu sprechen. Aber ich halte mich verpflichtet, Ihnen die volle Wahrheit zu gestehen.«

»Sie machen mich wirklich neugierig, gnädige Frau!«

»Clementine von Berkenhagen,« berichtete die Präsidentin, »wurde mit mir in derselben Pension erzogen. Sie stammte aus einem angesehenen und reichen Hause; ihre Schönheit, Sanftmuth und Liebenswürdigkeit nahmen Alle für sie ein, die sie kannten. Sie war der Liebling der Lehrerinnen, der Stolz und die Freude der ganzen Schule. Ich selbst betete sie an und bald waren wir Herzensfreundinnen. Wie junge Mädchen wurden wir schnell vertraut, wir hatten keine Geheimnisse vor einander. Nachdem wir die Pension verlassen, standen wir in lebhaftem Briefwechsel. Nach einem Jahre zeigte sie mir ihre 257 Verlobung mit einem Vetter gleichen Namens an, dem sie von Jugend aus von ihren Eltern bestimmt war. Ihr Gatte besaß ein bedeutendes Vermögen und war in jeder Beziehung das, was man eine gute Parthie zu nennen pflegt. Clementine achtete ihn, ohne ihn leidenschaftlich zu lieben und fühlte sich an seiner Seite so glücklich, wie sie es nur unter diesen Umständen sein konnte, obgleich sie, wie ich wußte, nur um den Wunsch ihrer Eltern zu erfüllen, ihrem Cousin die Hand gereicht hatte. Sie war eben eine jener sanften, passiven Naturen, die sich zu keinem energischen Widerstand aufraffen können. Die Geburt einer Tochter trug wesentlich dazu bei, die Lücke in dem Herzen meiner Freundin auszufüllen. Sie schwärmte für ihr Kind, das in der That das reizendste kleine Wesen war, das ich je gesehen. Jetzt erst hatte das Leben Werth für sie, gestaltete sich ihre Ehe mit jedem Tage glücklicher, da sie einen Theil ihrer Liebe auf den Vater übertrug. Da traf sie das schwere Unglück, daß sie den Gatten verlor. Er starb auf der Jagd durch die Selbstentladung seines Gewehrs noch in jugendlichem Alter.«

»Ich erinnere mich noch dunkel jenes Vorfalls, der damals großes Aufsehen erregt hat,« bemerkte der Justizrath. 258

»Zwei Jahre trauerte Clementine aufrichtig um den Mann, dessen Werth sie erst jetzt erkannte, wo er ihr fehlte. Er hatte sie zwar in glänzenden Verhältnissen zurückgelassen, aber sie fühlte sich zu schwach, gänzlich unfähig, die großen Güter, die sie von ihm ererbt, zu verwalten. Auch der Zustand der heranwachsenden Klothilde machte sie besorgt, da das Kind, das mit großer Liebe an dem Vater hing, seit dem Tode desselben häufig kränkelte und an einer auffallenden Schwermuth litt. Auf Anrathen der Aerzte reiste meine Freundin mit ihrer damals zwölfjährigen Tochter nach Interlaken, wo sie ihren zweiten Gatten kennen lernte.«

»Den tollen Blanken,« schaltete der Justizrath dazwischen ein.

»Sie scheinen ihn zu kennen, oder wenigstens von ihm gehört zu haben. Er war Offizier gewesen, hatte aber seinen Abschied wegen Schulden nehmen müssen. Seitdem lebte er als eleganter Abenteurer bald hier, bald dort, und besuchte besonders die Spielbanken am Rhein, verrufen wegen seiner wilden Streiche, angebetet von so manchen Frauen und beneidet von den Männern, berühmt und berüchtigt wegen seiner Extravaganzen. Mit jenem dämonischen 259 Zauber, der ihm eigen ist, gelang es ihm, die unschuldige Clementine zu umstricken, so daß sie trotz aller Warnungen seine Gattin wurde.«

»Und der tolle Blanken hat das Vermögen Ihrer Freundin durchgebracht?«

»Die arme Clementine mußte ihre zweite Ehe schwer bereuen, zu spät erkannte sie ihren Irrthum. Sie starb an gebrochenem Herzen, da Blanken ein notorischer Verschwender, ein unverbesserlicher Spieler war.«

»Und die verwaiste Tochter; was wurde aus ihr?«

»Zum Glück hatte ihr Vater durch sein Testament für Klothilde hinlänglich gesorgt und ihr eine bedeutende Summe festgesetzt, die unter vormundschaftlicher Verwaltung steht. Erst nach erlangter Majorennität sollte sie in den Besitz eines großen Vermögens kommen.«

»Der Umstand scheint mir allerdings von Wichtigkeit, da Herr v. Blanken ein gewisses Interesse an dem Tode der jungen Erbin hat. Die Sache wird dadurch nur immer verwickelter.«

»Trotz seines schlechten Rufes,« versetzte die Präsidentin, »halte ich Blanken nicht für fähig, ein Verbrechen zu begehen, obgleich ihm der Reichthum Klothildens gewiß 260 willkommen gewesen wäre, um sich aus dringender Verlegenheit zu befreien.«

»Besaß denn das Fräulein keine Verwandte, die sich ihrer annehmen, bei denen sie leben konnte?« fragte der Justizrath.

»Beide Großeltern waren schon früher gestorben, nähere Angehörige, so viel ich weiß, sind nicht vorhanden. Außerdem hatte meine Freundin die Bestimmung getroffen, daß ihre Tochter bis zu ihrer Verheirathung oder Majorennität in dem Hause des Herrn von Blanken bleiben sollte.«

»Ich begreife eine solche Thorheit nicht. Nach meiner Ansicht wäre die junge Dame überall besser aufgehoben gewesen, als in der Nähe eines solchen Mannes.«

»Es ist dies nur ein neuer Beweis für Clementinens Gutmüthigkeit, oder wenn Sie wollen, für die Schwäche meiner sanften Freundin. Sie wollte den unwürdigen Gatten schonen, nicht gänzlich dem Mangel preisgeben, da die Zinsen von dem Kapital Klothildens seine einzigen Ressourcen waren. Er lebte gewissermaßen von der Gnade seiner Stieftochter.«

»Eine mißliche Lage für einen Mann von dem 261 Charakter Blankens, der gerade nicht den besten Ruf genießt,« bemerkte der Justizrath nachdenklich.

»Ich glaube, daß Sie Blanken wirklich Unrecht thun,« entgegnete die Präsidentin eifrig. »Ich halte ihn zwar für bodenlos leichtsinnig, aber nicht für schlecht.«

»Jedenfalls bin ich Ihnen für Ihre Mittheilungen sehr verbunden, obgleich dieselben mich eher verwirrt als aufgeklärt haben. Vorläufig bleibt uns nichts übrig, als die bereits aufgefundenen Spuren mit allem Eifer zu verfolgen. Vielleicht gelingt es mir, die wahren Thäter zu entdecken.«

In Gedanken versunken, verließ der Justizrath die Präsidentin, um sich nach dem Gericht zu begeben, wo ihn der gewandte Kriminal-Kommissarius bereits erwartete.

»Nun, lieber Wecker,« fragte er den Beamten, »haben Sie meine Aufträge vollzogen und hat die Haussuchung ein erwünschtes Resultat gehabt?«

»Allerdings,« versetzte der Kommissarius, »haben sich neue Verdachtsmomente bei meiner Recherche ergeben, obgleich ich offen gestehen muß, daß ich nicht mehr weiß, was ich von der ganzen Angelegenheit denken soll. Auf meine Fragen wegen des versetzten Ringes und der Uhr 262 antwortete Frau Hähnel mit einer Offenheit und Unbefangenheit, die mich wahrhaft stutzig machte. Sie leugnete keinen Augenblick den Thatbestand und erklärte ohne Umstände, daß sie beide Gegenstände von ihrer Inwohnerin, einer jungen Arbeiterin in der Fabrik des Herrn Glaubrecht, zu dem genannten Zweck empfangen habe.«

»Also eine neue Mitschuldige? Wissen Sie Näheres von dem Mädchen mir zu sagen?«

»Sie heißt Marie Born, ist aus der Provinz angezogen und arbeitet in der Fabrik seit ungefähr drei Monaten. Obgleich ihr Herr Glaubrecht das beste Zeugniß wegen ihres Fleißes und sittlichen Lebenswandels ertheilte, und auch von Seiten der Polizei nichts Nachtheiliges über sie bekannt ist, glaubte ich mich doch berechtigt, sofort ihre Verhaftung zu verfügen, um so mehr, da sie sich über ihre Heimath und Herkunft nicht auszuweisen vermochte und bei der mit ihr angestellten Untersuchung durch auffallende Widersprüche Verdacht erregte. Trotzdem ist mir noch nie ein Amt so schwer geworden, als in diesem Fall. Das Mädchen macht den Eindruck der vollkommensten Unschuld, obgleich ich leider aus Erfahrung weiß, wie leicht man sich durch die Reinheit der Züge täuschen lassen kann 263 und wie ein wahres Engelsgesicht nicht selten nur eine betrügerische Maske ist.«

»Nach Ihrer Beschreibung muß das Mädchen entweder sehr unschuldig oder sehr verdorben sein.«

»Wenn der Herr Justizrath sie gesehen haben, so werden Sie mir Recht geben. Sie ist nicht nur jung und schön, sondern besitzt außerdem ein Benehmen und ein Wesen, wie man es nur ausnahmsweise in den niederen Ständen findet. Ich begreife daher vollkommen, daß Herr Glaubrecht sich für sie verbürgen wollte. Die ganze Fabrik gerieth förmlich in Aufruhr, als ich sie verhaften wollte, und es fehlte nicht viel, so hätte ich es mit den Arbeitern zu thun bekommen und nur mit Gewalt Ihren Auftrag ausführen können. Besonders war ein junger Mann, ein entfernter Verwandter des Herrn Glaubrecht, Aufseher in der Spinnerei, ganz außer sich und gebärdete sich wie ein Wahnsinniger. Wenn ihn nicht der alte Herr zurückgehalten hätte, so wäre er im Stande gewesen, das Mädchen mit Hilfe der aufgeregten Arbeiter mir zu entreißen. Es muß wohl seine Geliebte sein.«

»Das thät mir wirklich leid, aber der junge Mann wird es mir Dank wissen, daß ich ihn aus den Händen einer 264 verworfenen Dirne befreit und eine Täuschung zerstört habe, die für sein ganzes Leben verhängnißvoll sein konnte.«

»Vorläufig raste und tobte er wie ein Wilder. Er schwur, daß das Mädchen rein wie eine Heilige sei, daß er nicht ruhen und rasten werde, bis er sie aus dem Gefängniß im Triumph zurückgeführt und ihre Unschuld vor der ganzen Welt erwiesen habe. Wie gesagt, es ist mir diesmal wirklich schwer geworden und ich habe ein ordentliches Mitleid mit dem jungen Menschen gefühlt.«

»Ich achte Sie darum nur um so mehr. Doch wo haben Sie unsere Gefangene?«

»Sie wartet unter der nöthigen Bewachung im Vorzimmer. Auch die Frau Hähnel habe ich gleich mitgebracht für den Fall, daß der Herr Justizrath eine Konfrontation vornehmen wollen.«

»Das haben Sie gut gemacht, lieber Wecker! Führen Sie zuerst die Hähnel herein, damit ich ihre Aussagen zu Protokoll nehme.«

Bald darauf erschien die Frau des Arbeiters, deren äußere Erscheinung dem Kriminalisten nichts Auffallendes bot. Sie war einfach, aber reinlich gekleidet; ihr Gesicht verrieth jene Unruhe, welche vor Gericht selbst Leute aus 265 den gebildeteren Ständen zu befallen pflegt, geschweige eine Frau aus ihrem Stande. Mit niedergeschlagenen Augen und leiser Stimme antwortete sie auf die Fragen des Justizraths, der sie so viel als möglich zu beruhigen suchte.

»Wie lange kennen Sie Marie Born?« fragte dieser, nachdem er die Zeugin zur Wahrheit ermahnt hatte.

»Seit ungefähr drei Monaten, wo sie bei mir wohnt.«

»Wie kamen Sie zu ihrer Bekanntschaft?«

»Das machte sich so,« erwiederte die Frau. »Mein Mann arbeitet in der Fabrik des Herrn Glaubrecht. Da kam eines Tages die Marie und bat um Beschäftigung, worauf sie als Spulerin angenommen wurde; anfänglich nur zur Probe, da sie nicht bekannt war und erst angelernt werden mußte. Bald aber galt sie für die fleißigste und ordentlichste Arbeiterin, so daß Herr Glaubrecht und besonders der Herr Inspektor große Stücke von ihr hielt. Auch mein Mann mochte sie gut leiden, weil sie immer so freundlich war und doch dabei etwas Apartes hatte. Sie lebte still für sich, ging nicht, wie die anderen Fabrikmädchen zum Tanz, und schleppte sich mit keinem Liebhaber. Das gefiel ihm, und da sie gerade eine Wohnung suchte, 266 so bot er ihr unser kleines Hinterstübchen an, womit ich vollkommen zufrieden war.«

»Und Sie haben während dieser Zeit nichts Verdächtiges an ihr bemerkt.«

»Gott behüte! Sonst hätt' ich ihr ja auf der Stelle gekündigt. Mein Mann versteht in solchen Dingen keinen Spaß. Fragen Sie nur Herrn Glaubrecht, der kennt uns schon seit zwölf Jahren und wird Ihnen sagen, daß wir ehrliche Leute sind.«

»Hat das Mädchen keinen männlichen Umgang gehabt, keine Herrenbesuche empfangen?«

»Das wäre noch schöner!« versetzte die Frau, welche nach und nach immer dreister wurde. »Alles was wahr ist, Herr Justizrath, aber in diesem Punkt ist die Marie eine Ausnahme von der ganzen Fabrik. Keine Schnecke konnte zurückgezogener leben wie das Mädchen, und wenn ihr ein Arbeiter oder ein anderer Mann nur mit einem gemeinen Wort zu nahe kam, da sah sie ihn so eigen mit ihren dunkeln Augen an, daß er sich wie ein begossener Pudel davon schlich. Auch hätte das der Herr Inspektor Reinbach nie gelitten und ihm wohl den Marsch geblasen, daß ihm zum zweiten Mal der Appetit vergangen wäre.« 267

»Aber der Inspektor selbst hatte doch ein Verhältniß mit dem Mädchen. Das erklärt ihre sonstige Sprödigkeit.«

»Wenn der Herr Inspektor die Marie lieb hat, so geschieht das in allen Ehren. Das können Sie mir glauben, Herr Justizrath! Darauf will ich jeden Eid schwören, den Sie von mir verlangen. Er selbst ist das solideste Mannsbild von der Welt. Höchstens daß er das Mädchen bis vor unsere Thür begleitet hat, wenn es dunkel war, aber weiter auch nicht einen Schritt. Ein paar Bücher hat er ihr auch geborgt, aus denen die Marie uns Abends vorgelesen hat. Das war Alles und mehr weiß ich nicht zu sagen.«

»Kommen wir zur Hauptsache!« versetzte der Justizrath, die geschwätzige Frau unterbrechend. »Erkennen Sie diesen Ring und die goldene Damenuhr?«

»Gewiß kenn' ich sie; ich hab' sie ja selbst auf das Leihamt getragen und versetzt.«

»Sie erhielten diese beiden Gegenstände von der Marie Born.«

»Natürlich. Mariechen brauchte ein neues Kleid wie das liebe Brod, ihr altes war ganz zerrissen, so daß sie nicht einmal in die Kirche mehr am Sonntag gehen konnte. Da gab sie mir den Ring und die Uhr, die ich auf's 268 Leihhaus brachte. So was kommt bei uns armen Leuten alle Tage vor.«

»Aber wunderten Sie sich nicht darüber, daß ein armes Fabrikmädchen einen so werthvollen Schmuck besaß?«

»Sie sagte mir, daß der Ring und die Uhr ein Erbstück von ihrer verstorbenen Mutter wäre; und das glaub' ich auch noch, denn die Marie kann nichts Böses thun. Sie ist guter Leute Kind und muß früher im Wohlstand aufgewachsen sein. Daß die nichts Unrechtes begangen hat, darauf will ich meinen Kopf verwetten.«

Die Aussagen der Frau trugen durchaus das Gepräge der Wahrheit und da sie nichts mehr vorzubringen wußte, so nahm der Justizrath keinen Anstand, sie vorläufig zu entlassen, nachdem er ihr das Protokoll vorgelesen und sie dasselbe unterschrieben hatte. Auf ein Zeichen mit der auf dem grünen Tisch stehenden Glocke erschien von Neuem der Kriminal-Kommissarius Wecker.

Der umsichtige Beamte meldete, daß er bei der vorschriftsmäßigen Untersuchung der Gefangenen noch nachträglich ein goldenes Medaillon entdeckt habe, das er dem Justizrath jetzt einhändigte. Die ovale Kapsel, welche sich auf einen Druck der Feder öffnete, enthielt das Porträt 269 einer Frau von ungefähr dreißig Jahren, mit feinen anmuthigen Gesichtszügen. Nachdem der Justizrath aufmerksam das Bild betrachtet hatte, befahl er dem Kommissarius, die Gefangene vorzuführen.

Durch die geöffnete Thür trat jetzt ein junges Mädchen von auffallender Schönheit, in deren Mienen Angst und Befangenheit zu lesen war. Ein Kleid von schwarzem Wollenstoff, das züchtig bis zu dem weißen Halse reichte, hob die schlanke, zarte Gestalt hervor. Die reine Stirn, die dunkelblauen Augen, der liebliche Mund und die sanft gerundeten Wangen verliehen dem Gesicht den Ausdruck kindlicher Unschuld, während ein schmerzlicher Zug, ein gewisser Ernst auf frühzeitige Leiden und schwere Kämpfe deuteten.

Der Justizrath konnte seine Ueberraschung kaum verbergen, als er sie mit seinen scharfen Blicken durch die goldene Brille jetzt betrachtete. Er mußte sich eingestehen, daß eine derartige Angeklagte ihm trotz seiner großen Praxis noch nicht vorgekommen war. Besonders fiel ihm der Blick ihrer dunklen Augen auf, in denen ein ganz eigenthümlicher Zauber lag. Unwillkürlich erwiederte er ihren leise geflüsterten Gruß mit einer Verneigung. Bald jedoch 270 faßte er sich wieder, da er nur zu oft schon die Erfahrung gemacht hatte, daß der äußere Schein auch den besten Menschenkenner zu täuschen vermag.

»Sie heißen Marie Born?« sagte er nach einer Pause.

»Marie Born,« versetzte die Gefangene mit kaum hörbarer Stimme, sichtlich verlegen.

»Wie alt sind Sie?«

»Neunzehn Jahre.«

»Wo sind Sie geboren?«

»In Königsberg.«

»Ihre Eltern leben noch?«

»Nein! sie sind Beide schon seit mehreren Jahren todt,« erwiederte sie, nur mit Mühe ihre Thränen verbergend.

»Haben Sie keine näheren Verwandten, auf die Sie sich berufen können?«

»Ich stehe ganz allein in der Welt.«

»Sie besitzen auch keine Papiere, keine Zeugnisse von der Obrigkeit, durch die Sie sich legitimiren können«

»Ich glaubte nicht, derselben zu bedürfen.«

»Sie arbeiten in der Fabrik des Herrn Glaubrecht?«

»Seit drei Monaten habe ich daselbst eine Anstellung gefunden.« 271

»Haben Sie eine Ahnung, weshalb Sie verhaftet sind und jetzt vor dem Richter stehen?«

»Ich weiß in der That nicht.«

»Kennen Sie diesen Ring, die goldene Uhr und das Medaillon, die hier auf dem Tisch liegen?«

»Ich kenne sie; sie sind mein Eigenthum. Ich habe sie, als ich mich in dringender Noth befand, meiner Wirthin übergeben, um sie auf dem Leihhaus zu versetzen.«

»Können Sie sich über den rechtlichen Erwerb dieser Gegenstände ausweisen?«

»Ich habe sie von meiner verstorbenen Mutter geerbt.«

»Auch das Medaillon mit dem Porträt?«

»Es ist das Bild meiner geliebten Mutter.«

»Sie wollen mich hintergehen. Der Ring und das Medaillon sind mit einem adeligen Wappen gezeichnet. Antworten Sie und reden Sie die Wahrheit, die allein Sie zu retten vermag.«

Die Gefangene schwieg und schlug den Blick zu Boden, man hörte sie nur leise schluchzen.

»Zwingen Sie mich nicht, zu härteren Maßregeln zu greifen,« mahnte der Justizrath. »Ich habe Mitleid mit 272 Ihrer Jugend und möchte Sie gern schonen, so weit dies meine Pflicht gestattet.«

Die Gefangene stand noch immer mit verschlossenen Lippen; sie schien mit sich zu kämpfen. Zuweilen richtete sie den Blick zum Himmel, als wollte sie Gott zum Zeugen ihrer Unschuld anrufen, während der Justizrath sie mit seinen Augen fortwährend scharf beobachtete.

»Gestehen Sie!« gebot er dringender, »wie Sie in den Besitz dieses werthvollen Schmuckes gelangt sind, der Ihnen unmöglich angehören kann.«

»O Gott!« seufzte das junge Mädchen. »Ich kann nichts anderes sagen, als was ich bereits angegeben habe.«

»Sie haben vielleicht einen Mitschuldigen, den Sie nicht verrathen wollen. Durch Ihre Hartnäckigkeit erschweren Sie nur Ihr Schicksal, da ich Ihnen nicht verschweigen will, daß es sich hier um ein furchtbares Verbrechen handelt, dessen ich Sie bei Ihrer Jugend nicht für fähig halte.«

»Ich weiß von keinem Verbrechen,« versetzte die Gefangene mit der ganzen siegreichen Gewalt der Unschuld, so daß der Justizrath von Neuem irre wurde.

»Wenn ich auch glauben will, daß Sie selbst keinen 273 Theil daran haben, so sind Sie doch dringend der Mitwissenschaft verdächtig. Man hat bei Ihnen jenen Schmuck gefunden, der das Eigenthum einer jungen Dame war, die seit längerer Zeit vermißt und wahrscheinlich von verruchter Hand ermordet worden ist. Haben Sie nie von einer Baronesse Klothilde v. Berkenhagen gehört?«

Bei Nennung dieses Namens erblaßte die Gefangene. Ein Zittern flog durch ihre Glieder und unwillkürlich griff sie nach dem Tisch, um sich daran festzuhalten, da sie zu fallen drohte. Dem Justizrath war ihre Bewegung nicht entgangen, indem er sie fortwährend mit seinen Blicken fixirte. Ihre Aufregung, die sie trotz aller Anstrengung nicht länger zu verbergen vermochte, schien seinen Verdacht nur zu bestätigen.

»Zum letzten Mal,« sagte er mit drohender Stimme, »fordere ich Sie auf, ein aufrichtiges Geständniß abzulegen. Ihr Zittern, Ihr Erbleichen lassen mir keinen Zweifel mehr, daß Sie die Baronesse kennen und von ihrem Schicksal genau unterrichtet sind. Versuchen Sie es nicht länger, mich zu täuschen.«

»Die Baronesse ist mir gänzlich unbekannt,« stöhnte die Gefangene. 274

»Da Sie hartnäckig leugnen,« versetzte der Justizrath, »so bleibt mir nichts übrig, als Sie in das Gefängniß abführen zu lassen. Noch haben Sie Zeit, Ihr Gewissen zu erleichtern.«

»Ich bin unschuldig. Glauben Sie mir, Herr Justizrath, daß ich unschuldig leide. Gott ist mein Zeuge, aber ich kann nicht anders, wenn auch der Schein gegen mich spricht.«

Von Neuem schwankte der Justizrath, betroffen von dem Ton ihrer Sprache, von dem Ausdruck ihres Gesichts, und der ganzen Haltung der Gefangenen, die eine weit höhere Bildung verriethen, als in ihrem Stande gewöhnlich angetroffen wird. Er fühlte ein inniges Mitleid mit ihrer Jugend, aber da sie trotz nochmaliger Ermahnung hartnäckig jede weitere Auskunft verweigerte, so blieb ihm nichts übrig, als sie dem Kriminal-Kommissarius zu übergeben, der sie in das öffentliche Gefängniß bringen sollte.

Als der Justizrath allein war, beschäftigte er sich noch immer mit dem Schicksal der Gefangenen, das ihm weit mehr Interesse einflößte, als dieß sonst bei seinen vielfachen Geschäften der Fall war. Neue Zweifel regten sich in seiner Seele; er war in der That geneigt, an ihre Unschuld zu glauben, trotzdem der Augenschein gegen sie war und 275 vor Allem der bei ihr gefundene Schmuck, den sie ohne Weiteres anerkannt hatte, sie schwer belastete. Je länger er über die ganze Angelegenheit nachdachte, desto dunkler erschien ihm dieselbe, desto unerklärlicher das Benehmen der Gefangenen, die ihm bald so offen und wahrheitsliebend, bald so verlegen und verwirrt erschienen war, so daß sie zugleich den Eindruck der Reinheit und der Schuld auf ihn machen mußte. Ihre ganze Erscheinung war so räthselhaft, ein wirkliches Problem, das seinen ganzen Scharfsinn herausforderte, dessen Lösung ihn auf das Höchste reizte. Vor allen Dingen hielt er für nothwendig, die Identität der Person festzustellen. Zu diesem Zwecke setzte er den Telegraphen in Bewegung, indem er die Königsberger Polizei ersuchte, ihm über die angebliche Marie Born genaue Mittheilungen zu machen.

Schon nach einigen Stunden traf die erwartete Antwort ein, die aber keineswegs den Justizrath befriedigte. Ungeachtet der sorgfältigsten Nachforschungen wußte die Königsberger Polizei von keiner Marie Born, eben so wenig von dem Tode ihrer Eltern, da weder in den Einwohnerlisten noch in den Kirchenbüchern der Name Born zu finden war. Demnach hatte die Gefangene gelogen und 276 einen gefälschten Namen dem Justizrath angegeben. Dieser Umstand war allerdings dazu angethan, um seinen Glauben an ihre Unschuld zu erschüttern. Augenscheinlich hatte er es mit einer raffinirten Verbrecherin zu thun.

Während der Justizrath überlegte, ob er, mit dieser Nachricht bewaffnet, der Gefangenen nochmals ins Gewissen reden sollte, um vielleicht ein Geständniß durch die Ueberraschung zu erlangen, oder ob er besser thäte bis zum nächsten Tage die Wirkung abzuwarten, welche die erste Nacht, die Einsamkeit des Kerkers auf noch junge, nicht verhärtete Gemüther hervorzubringen pflegt, meldete der Gerichtsdiener, daß ein junger Mann den Herrn Justizrath dringend zu sprechen wünschte.

Derselbe kündigte sich als Fabrikinspektor Reinbach an; in seinem ganzen Wesen, das einen durchaus günstigen Eindruck machte, verrieth sich eine große Aufregung, ein leidenschaftlicher Schmerz. Nachdem der Justizrath ihn nach seinem Ansuchen gefragt, bat und beschwor er denselben in der rührendsten Weise, ihm über die verhaftete Fabrikarbeiterin Marie Born und über ihr Geschick Auskunft zu geben.

Der ganze Zustand des jungen Mannes, dessen 277 Verhältniß zu dem jungen Mädchen ihm nicht unbekannt war, bewog den Justizrath diesen Wunsch zu erfüllen, so weit ihm dies mit seiner Amtspflicht verträglich schien. Dabei verhehlte er keineswegs seine wahre Meinung über den Charakter der Gefangenen und die dringenden Verdachtsgründe für ihre Theilnehmerschaft oder wenigstens für ihre Mitwissenschaft an einem so großen und fluchwürdigen Verbrechen. Seine Worte machten sichtlich einen erschütternden Eindruck auf den jungen Mann, der unter der Last seines Schmerzes zu erliegen schien. Eine tiefe, wahre Trauer lagerte sich wie eine schwarze Wolke über das edle, intelligente Gesicht, besonders als der Justizrath die Fälschung des Namens als ein neues erschwerendes Moment bezeichnete.

»Nein, nein!« rief der unglückliche Reinbach. »Ich kann, ich werde es niemals glauben, daß Marie eine Verbrecherin ist. Sie irren sich, Herr Justizrath! Mit solchen Zügen kann man unmöglich schuldig sein.«

»Ich finde es ganz natürlich, daß Sie an die Unschuld eines Mädchens glauben, das Sie lieben. Das Auge der Leidenschaft läßt sich nur zu leicht täuschen. Aber Sie werden mir zugeben müssen, daß ein Verdacht durch die 278 vorliegenden Beweise nur zu sehr gerechtfertigt erscheint. Es thut mir weh, daß Sie eine so traurige Erfahrung machen, aber Sie werden eine unwürdige Neigung zu bekämpfen suchen und das Mädchen, das Sie und auch mich hintergangen, mit der Zeit vergessen.«

»Niemals!« rief Reinbach feierlich. »Ich werde, ich kann sie nicht vergessen, selbst wenn sie schuldig sein sollte. Doch das ist nicht möglich, nicht möglich.«

»Bedenken Sie nur die bei ihr vorgefundenen Schmuckgegenstände, über deren rechtmäßigen Besitz sie sich nicht auszuweisen vermag; die Widersprüche, in die sie sich bei ihrer Vernehmung verwickelt hat, endlich, daß sie unter einem angenommenen Namen lebt. Ich glaube jeder einzelne dieser Beweise würde hinreichen, sie zu verurtheilen.«

Während der Justizrath in dieser Weise über die Schuld der Gefangenen sich aussprach, war Reinbach viel zu sehr von Schmerz erfüllt, um auf die wohlmeinenden Worte zu hören. Vor seiner Seele stand das Bild des unglücklichen Mädchens, das er mit aller Kraft und Leidenschaft der Jugend liebte. Wenn auch die ganze Welt sie verdammte, er konnte und wollte nicht an ihrer Unschuld zweifeln. 279

»Kann ich die Gefangene sehen und mit ihr sprechen?« fragte er plötzlich, wie aus einem schweren Traum empor fahrend.

»Das wird kaum angehen, so lange noch die Untersuchung schwebt.«

»Ich bitte, ich beschwöre Sie, Herr Justizrath!« flehte Reinbach dringend. »Vielleicht wird sie mir die Wahrheit gestehen, die sie Ihnen verheimlicht. Mich kann und wird sie nicht belügen.«

»Wohlan!« versetzte der Justizrath überlegend. »Sie sollen die Gefangene sehen; ich selbst will Sie zu ihr führen und bei Ihrer Unterredung zugegen sein.«

Beide begaben sich aus dem Gerichtsgebäude in das nahe liegende Gefängniß. Auf Befehl des Justizraths öffnete der Schließer die Zelle, wo die Angeklagte einstweilen untergebracht worden war. Sie saß auf dem elenden Lager, das bleiche Haupt auf ihren Arm gestützt, in schmerzliche Gedanken versunken, ein Bild der tiefsten Trauer.

Das Rasseln der Schlüssel und die Tritte der Männer schreckten sie aus ihrem düstern Träumen. Bei dem Schein des Tageslichts, welches matt durch das vergitterte Fenster drang, erkannte sie den Justizrath und seinen Begleiter. 280

Sie stieß einen leisen Schrei aus und sank auf ihr Lager, das Gesicht mit ihren Händen bedeckend.

»Marie!« sagte Reinbach mit zitternder Stimme. »Müssen wir uns so wiedersehen?«

Sie wandte sich ab und schwieg.

»Warum wendest Du Dich von mir ab? Warum antwortest Du mir nicht?« fragte er schmerzlich ergriffen.

Sie stand noch immer stumm, die gefalteten Hände gegen die Brust gepreßt, als ob das Herz ihr springen wollte.

»Rede nur ein Wort, ein einziges Wort. Ich weiß, daß Du unschuldig bist, ich vertraue Dir. In meinen Augen bist Du so rein wie ein Engel des Himmels, aber das genügt nicht, um Dich aus dieser unwürdigen Lage zu befreien.«

Nur ein leiser Seufzer entrang sich der gepreßten Brust; sie wagte nicht, Reinbach anzublicken.

»Du weißt, daß ich Dich liebe, Dich ewig lieben werde, der ganzen Welt zum Trotz. Ich kann nicht von Dir lassen und jetzt noch weniger als je. Was kümmert es mich, daß Du arm und elend bist. Aber den Gedanken kann ich nicht ertragen, daß man Dich eine Lügnerin schilt, daß Du auch mich getäuscht hast. Bei unserer Liebe, bei 281 dem Andenken an Deine Mutter, bei Allem, was Dir werth und heilig ist, bekenne die Wahrheit, damit ich nicht an Dir irre werden und verzweifeln muß.«

»Nein, nein!« rief die Gefangene nach einem schweren Kampf. »Sie sollen nicht leiden, Reinbach! Sie dürfen nicht an mir zweifeln. Es ist genug an meinem Unglück. Ich will gestehen.«

Tief erschüttert näherte sich der Justizrath dem bleichen Mädchen, dessen Aussagen er mit der höchsten Spannung erwartete. Was seine Mahnungen und Drohungen nicht bewirkt, das war der Macht der Liebe gelungen, an deren Wahrheit der erfahrene Kriminalist nicht länger zweifeln konnte.

»Fassen Sie sich,« sagte er in mildem Ton, »und bedenken Sie wohl, daß von Ihrem Ausspruch Ihr Schicksal, Ihre Freiheit abhängt.«

»Fürchte Dich nicht, Marie!« fügte Reinbach hinzu. »Ich bin bei Dir und werde Dich nicht verlassen. Aber die Wahrheit muß ich wissen.«

»Die sollen Sie jetzt erfahren,« versetzte die Gefangene unter Thränen, »so schwer mir auch mein Geständniß fallen mag. Ja, ich habe Sie getäuscht und zum ersten Mal in meinem ganzen Leben gelogen.« 282

»Marie!« schrie Reinbach verzweiflungsvoll. »Du ein Lügnerin!«

»Ich heiße nicht Marie Born,« erwiederte sie mit gesenktem Haupt. »Den Namen habe ich mir fälschlich beigelegt.«

»Betrogen, also doch betrogen?« murmelte der unglückliche Fabrikinspektor.

»Lassen Sie die Angeklagte reden!« gebot der Justizrath von einer plötzlichen Ahnung durchzuckt. »Ihr wahrer Name heißt –«

»Klothilde v. Berkenhagen,« flüsterte sie kaum vernehmbar.

Es war wie ein Blitzstrahl, der plötzlich die Dunkelheit erhellte. Reinbach war geblendet, betroffen; er fürchtete nur neue Verwicklungen und Störungen für sein Glück. Zwischen ihm, dem schlichten Fabrikinspektor, und dem reichen, hochgeborenen Fräulein erhob sich eine unausfüllbare Kluft. Am meisten aber schmerzte ihn, daß er getäuscht worden, daß Klothilde auch ihm die Wahrheit verschwiegen.

Dagegen freute sich der Justizrath, daß sich seine Ahnung bestätigt hatte, obgleich ihm noch manche Bedenken 283 aufstiegen, deren Aufklärung er fordern mußte, bevor er die Entlassung der Gefangenen erlauben konnte.

»Aber was,« fragte er nach einer Pause, »konnte Sie veranlassen einen so gewagten, abenteuerlichen Schritt zu thun?«

»Die höchste Noth, die grenzenloseste Verzweiflung,« versetzte sie gefaßt. »Mein Stiefvater wollte mich zwingen, seinen ihm nur zu ähnlichen jüngeren Bruder zu heirathen, um sich meines Vermögens zu bemächtigen. Ersparen Sie mir, Herr Justizrath, die Schilderung meiner Qualen; ich kann Ihnen unmöglich die Mittel angeben, welche angewendet wurden, um meine Einwilligung zu erlangen. Aus Schonung für das Andenken einer geliebten Mutter will und muß ich schweigen. Ich war eine schutzlose Waise, ohne Rath, ohne Beistand, der List, selbst der brutalen Gewalt der beiden gewissenlosen Männer preisgegeben. Auf dem Schlosse meines Stiefvaters wurde ich wie eine Gefangene gehalten, durch die schimpflichsten Drohungen, durch thätliche Mißhandlungen eingeschüchtert. Nur Gott allein weiß, wie sehr ich gelitten.«

»Fanden Sie denn keinen Menschen, dem Sie vertrauen konnten?« 284

»Die einzige treue Dienerin wurde mir genommen, unter nichtigen Vorwänden fortgeschickt und durch ein altes boshaftes Weib ersetzt, das mich bei Tag und Nacht wie eine Kerkermeisterin bewachte. Alle übrigen Leute des Hauses standen im Solde meines Stiefvaters, oder fürchteten seinen rücksichtslosen Zorn. Um dem mir drohenden Schicksal zu entgehen, blieb mir nichts übrig, als meine Wächter durch scheinbare Nachgiebigkeit zu täuschen, indem ich meine Einwilligung zu der von ihnen gewünschten Verlobung gab. Es gelang mir, meine Peiniger sicher zu machen und während eines Gelages, womit sie ihren vermeintlichen Triumph feierten, zu entfliehen. Mit einer kleinen Geldsumme und dem Schmuck meiner verstorbenen Mutter versehen, ging ich in dunkler Nacht zu Fuß bis zu der nächsten Eisenbahnstation, wo ich ein Billet nach der Residenz löste.«

»Und was bewog Sie, als Arbeiterin in eine Fabrik zu treten und eine Beschäftigung zu suchen, die weder zu Ihrem Stande noch zu Ihren Gewohnheiten paßte?«

»Vor Allem dachte ich nur daran, mich zu verbergen, da ich die Nachstellungen meines Stiefvaters mit Recht befürchten mußte. Zunächst wollte ich mich einer Freundin 285 meiner Mutter, der Präsidentin v. Wulfen, vertrauen, ihren Rath, ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Ich fand die edle Frau nicht zu Hause; wie ich hörte, war sie in ein Bad gereist und wurde erst in einigen Wochen zurückerwartet. Während ich verzweiflungsvoll in der fremden Stadt umherirrte und nicht wußte, was ich anfangen sollte, sah ich vor einem großen Hause eine Menge Arbeiterinnen, mit denen ein junger Mann freundlich sprach. Sein Gesicht flößte mir Vertrauen ein, wogegen ihn, wie er mir später sagte, mein trauriges Aussehen mit Mitleid erfüllte. Er näherte sich mir und fragte mich, ob ich gleichfalls Arbeit in der Fabrik des Herrn Glaubrecht suchte. Der Himmel selbst schien mir einen Ausweg zu zeigen, mir ein sicheres Asyl zu öffnen. Wie ein Blitz durchzuckte mich der Gedanke, daß mich Niemand so leicht in der Stellung eines Fabrikmädchens finden werde. Ohne lange mich zu besinnen, gab ich eine bejahende Antwort, worauf Herr Reinbach mich als Spulerin anstellte. Er wurde mein Beschützer, mein wahrer Freund, dem ich bis an das Ende meines Lebens dankbar sein werde.«

»O mein Fräulein!« versetzte der Fabrikinspektor. »Sie haben keinen Grund, mir zu danken. Ich that 286 nur meine Schuldigkeit. Wenn ich jemals geahnt hätte –«

»Sie thun mir weh mit dieser kalten Höflichkeit. Wie sich auch mein Schicksal gestalten mag, so bleibt unser Verhältniß davon unberührt. Was Marie Born Ihnen einst gelobt, wird Klothilde v. Berkenhagen treu erfüllen. Sie haben mich geliebt, als ich arm, verlassen und elend war, an meiner Unschuld nicht gezweifelt, als alle Welt mich für eine Verworfene hielt, und ich sollte Sie verrathen, weil ich jetzt das Ende meiner Leiden vor mir sehe?«

»Klothilde! Bedenken Sie den Abstand –«

»Hast Du darnach gefragt? Und ist der Abstand zwischen der armen Arbeiterin und dem angesehenen Fabrikinspektor geringer als der zwischen einer Dame meines Ranges und einem ehrenwerthen Manne wie Du? Willst Du mich von Neuem der Gewalt meines Stiefvaters preisgeben? Ich bedarf eines Beschützers und glaubte ihn in Dir gefunden zu haben. Wenn Du mich wirklich liebst, so darfst, so kannst Du mich nicht verlassen.«

Länger zögerte auch Reinbach nicht, die ihm dargereichte Hand zu ergreifen, die er mit Küssen bedeckte, ohne sich um die Gegenwart des Justizraths zu kümmern, 287 welcher mit Rührung und Bewunderung die Liebenden betrachtete.

»Eine Verlobung im Gefängniß,« scherzte dieser. »Das ist noch nicht dagewesen. Ich gratulire von ganzem Herzen. Doch zuvor gebietet mir meine Pflicht, die Identität des Fräuleins genau festzustellen, obgleich ich diesmal nicht an der Wahrheit Ihrer Worte zweifle.«

»Ich verbürge mich dafür,« rief der glückliche Fabrikinspektor. »Im Nothfall wird Herr Glaubrecht die Kaution für meine Braut leisten.«

»Die Bürgschaft eines Verliebten kann ich nicht annehmen und die Kaution dürfte kaum verlangt werden, da die Frau Präsidentin v. Wulfen sich gewiß nicht weigern wird, die Tochter ihrer Jugendfreundin anzuerkennen. Außerdem werde ich sofort Herrn v. Blanken benachrichtigen. Zum Dank für die ihm bewiesene Schonung wird er schwerlich Anstand nehmen, seine Einwilligung zu Ihrer Verbindung zu geben.«

Der Justizrath selbst führte die Gefangene zu der Präsidentin von Wulfen, die sogleich nach den ersten Worten in ihr die Tochter ihrer Freundin erkannte. Wenn auch mit Widerstreben, ertheilte Herr v. Blanken die 288 erbetene Erlaubniß zu der Verheirathung seiner Stieftochter mit dem Fabrikinspektor Reinbach, der bald darauf der Compagnon des reichen Glaubrecht wurde.

Nie vergaß Klothilde, daß sie selbst einmal Fabrikmädchen gewesen war. Sie und ihr edler Gatte wetteiferten, das Elend der arbeitenden Klassen nach Kräften zu lindern.



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