Fritz Reck-Malleczewen
Von Räubern, Henkern und Soldaten
Fritz Reck-Malleczewen

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Bolschewistischer Frontoffizier

Das Gesicht der Roten Truppe. Politische Bekenntnisse eines roten Regimentskommandeurs. Seltsame Erinnerungen. Der Marsch ins »Niemandsland«. »Die Hände haben nichts zu tun.« Verraten, entwischt! Die Rote Armee soupiert. Ich laufe über. Zweifelhafter Empfang. In der Hundebude. Tiefstes Elend. »Paar oder unpaar?« Lettische Gruftschändung. Die Heilige und die Henker. Zur Armee Bermont.

Am nächsten verkaufe ich wieder einmal meine Habe. Mein Handtuch, zwei Hemden, die so voller Läuse sind, daß sie sich von selbst bewegen könnten, wenn man sie nur auf den Boden würfe, mein Rasiermesser, meinen Sac voyage . . . alles geht an so ein Bäuerlein für 90 Rubel. Nur meine alten Satteltaschen, mit denen ich 1914 ins Feld gerückt bin, behalte ich. Nun nehme ich mir so einen kleinen Bauern mit einem Wagen, und ich fahre zu meiner Truppe, den Zweiunddreißigern.

Dieses Regiment gehört zu der Nachbarbrigade, zum Befehlsbereich jenes Generals X. Angenehm ist mir das nicht, da ich aufrichtig glaube, daß er T. verraten hat. Nun aber, ich fahre mit meinem Bäuerlein los; über die ehemalig deutsch-russischen Kampfplätze geht der Weg, durch diese früher so prachtvollen Wälder, die nun lautlos und tot dastehen, gemordet von diesem verfluchten Giftgas.

Illuxt heißt der Flecken, wo die Zweiunddreißiger liegen. Von dem Orte, der ehemals 400 Einwohner hatte, steht nur die Kirche, Sie allein ist unversehrt inmitten der kleinen zerschossenen Stadt. Nur daß die Bolschewiken ihre Mauern mit obszönen Kohlebildern verschmiert haben, auf denen mit Huren saufende Pfaffen dargestellt sind. Allenthalben sind schon die flüchtenden Bauern trotz der Frontnähe zurückgekehrt . . . sie hausen in den alten Unterständen. Einer, der die Schützengräben zu einer wahren kleinen Festung ausgebaut und sein Vieh, seine ganze Landwirtschaft unter der Erde untergebracht und sogar einen kleinen Garten angelegt hat, bewirtet mich freundlich mit Milch und Erdbeeren. 125

Abends fahre ich weiter zur Front, in einer Heuscheune treffe ich den Regimentsstab an. Ich trete ein: Links ist ein Heulager mit Decken und vielen Kissen, rechts ein Tisch mit Bänken . . . an diesem Tisch sitzen in weißen russischen Bauernhemden, mit nackten Füßen und der Feldmütze mit dem fünfzackigen Sowjetstern auf dem Kopfe, mehrere Bauernburschen mit jungen hübschen Frauen. Auf meine Frage nach dem Kommandeur der 32er erhebt sich einer, so ein prachtvoller junger Kerl, und fragt nach meinem Begehren. Ich sehe ihn erstaunt an: Ja, dies sind die Offiziere des Regimentsstabes mit ihren legitimen Frauen . . . barfüßige Offiziere freilich, die zu ihrem Kittel den obligaten Kavalleriesäbel und die Adjutantenschnüre direkt auf den Bauernhemden tragen. In diesem Aufzuge sehen sie wie Neger aus, die sich zu ihrer Nacktheit mit Zylinderhüten ausstaffiert haben . . .

Der Kommandeur ruft mich an den Tisch. Obwohl ich das Gefühl habe, es mit einem Räuberhauptmann aus Tausendundeiner Nacht zu tun zu haben, gefällt er mir mit seinem offenen russischen Bauerngesicht. Ja, das sage ich schon jetzt: hier gefällt es mir sehr viel besser als in den Stäben mit ihren eingebildeten lettischen Lümmeln. Nun werde ich, als ich meinen Wunsch vorgetragen habe, zum Abendessen eingeladen und hinterher, als die übrigen sich im Heu verkrochen haben, vom Oberst in einen Winkel gezogen.

»Ich muß Sie versichern,« sagt er, als er von meiner Vergangenheit gehört hat, »daß mir das alles sehr unangenehm ist. Ich habe nämlich für Sie, der Sie ein Herr und ein ehemaliger Offizier sind, keine passende Stelle. Nun, und ein Kommunist sind Sie doch wohl auch nicht, da Sie sonst wohl längst in einer höheren Stelle säßen?«

Ich fühle, daß es gut ist, offen mit ihm zu sein, verneine die Frage. Er nickt freundlich: »Nun, das ist ja auch einerlei. Auch mit Monarchisten arbeiten wir sehr gern, nur eines möchte ich Ihnen noch sagen: Ich hasse die 126 Sozialisten. Auch Lenin hat noch jüngst in einer Rede auf sie gescholten und gesagt, daß unsere Hauptfeinde die Sozialisten sind mit ihrem ewigen Unterstützen der Schwachen. Ja, das ist auch wahr: Früher haben sie uns Kommunisten beschützt, und nun helfen sie nur den Konterrevolutionären. Aber sehen Sie, wir haben sie auch zusammengeschlagen, daß nur Schwanz und Federn übrig sind.«

So gut gefällt er mir, daß mich mein Plan fast reut, und wirklich würde ich hierbleiben, wenn ich nicht wüßte, daß die Dwinsker Tscheka ja doch auf mich lauert. Nun, der Koch bringt Tee, wir trinken und legen uns schließlich ins Heu.

Am nächsten Morgen trage ich ihm meinen Wunsch vor: Immer hätte ich mich bei den Stäben über den Unsinn gewundert, den unsere untauglichen Rekognoszierungsabteilungen anrichteten. Ich würde ihm eine neue gute Abteilung einrichten, wenn er es mir erlaube. Mit Freuden geht er darauf ein. Ich erhalte die Genehmigung, mir 80 Mann aus meinem Regiment auszusuchen.

Sofort gehe ich ans Werk, gehe hinaus in den schönen Junimorgen. Längs der großen Landstraße liegt das Regiment in Bauernhäusern, in jedem Gehöft hat sich eine der 16 Kompagnien eingerichtet. Ein Mann steht auf dem Schornstein, späht nach dem Feinde aus, die übrigen liegen mit vielen Decken und Kissen innen, spielen Karten, braten sich gestohlenes Fleisch, schlafen oder singen.

Als ich bei der 5. Kompagnie bin, läßt sich mit lautem Gepolter durch den weiten Kamin der Posten vom Dach herab ins Zimmer: »Der Feind ist da!« Wirklich knallt es draußen, die Soldaten reißen die Maschinengewehre ins Fenster und beginnen ein ganz hübsches Feuer loszulassen. Draußen sehe ich gegen 40 Weiße, die aus dem Walde herausgetreten sind und auf das Haus zukommen. Sofort werfen sie sich in unserem Feuer auf die Erde und erwidern ihrerseits mit Maschinengewehren. Eine halbe Stunde dauert diese Schießerei. Da alles alte routinierte 127 Feldsoldaten sind, die Deckung zu nehmen verstehen, so gibt es weder hüben noch drüben Tote, und nach einer halben Stunde ist wieder die allerschönste Ruhe.

Nun gut, von jeder Kompagnie nehme ich meine 5 Mann und marschiere die Straße entlang auf ein mir zugewiesenes, von Einquartierung noch freies Bauerngehöft zu. Und dort sehe ich etwas ganz Merkwürdiges. In dem offenen Fenster des Hauses lehnt da nämlich so ein altes Weibchen, hat einen Knüppel wie ein Gewehr an die Schulter gelegt und ahmt dazu mit dem Munde das Knallen von Gewehrschüssen nach. Noch bin ich mir nicht klar, was der Unsinn soll, als ich dicht vor uns einen alten Mann sehe, der, die Brust bedeckt mit Kriegsmedaillen, auf das Haus zuläuft, hin und wieder vor dem nachgeahmten Gewehrfeuer des alten Weibes Deckung nimmt und mit Kriegsgeschrei schließlich in das Haus dringt.

Ein Bauer, der des Weges kommt, klärt uns auf: der Mann ist ein alter Soldat, der noch, wie unter Alexander II. alle, seine 25 Jahre gedient und im Türkenkriege die Einnahme von Plewna mitgemacht hat. Alljährlich, um den Jahrestag von Plewna zu feiern, stürmt er mit allen seinen Orden auf der Brust sein eigenes Haus, wobei sein altes Frauchen den Türken markieren muß . . . was denn, wie unser Bauer erzählt, meist damit ende, daß er sie »als Feind Rußlands und des Zaren« zum Schluß jämmerlich verprügelt. Heute sei ja wohl der Tag von Plewna, und da habe er wieder seine Freude damit . . .

Nun, wir lachen uns eins. Wir kommen in die Hütte, gerade als der Alte freudig über den Sieg schreit:

»Schtschi da kascha
Plewna nascha»Speck und Grütze, Plewna ist unser.« Nach der Armeelegende hat Alexander II. aus Freude über den Sieg an jenem Tage diesen Befehl gegeben..
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Angesichts der Roten Armee ist das eine etwas seltsame Parole. Sowie der Alte uns sieht, schlägt er uns die Tür vor der Nase zu, schreit uns an, daß hier für Rote kein Platz sei. »Geh,« sage ich, »Großvater, wirst dich doch nicht so anstellen. Siehst du denn nicht, daß wir wirklich russische Leute sind?«

Er brummt, aus seiner Plewnabegeisterung herausgerissen, irgend etwas, deckt aber einen guten schönen Tisch mit Speck und Eiern für mich. Meine Leute kampieren draußen, ich besuche, ehe ich mich schlafen lege, ihr Biwak. »Morgen,« heißt es, »haben wir Fleisch und Eier, soviel wir wollen. Denn das ist schon klar, daß wir sie uns von drüben holen werden.«

»Und auch Geld«, sagt ein anderer und mischt die Karten für ein Spiel, das sie offenbar heute spielen und morgen mit dem geraubten Geld bezahlen werden. Als echte Soldaten fassen sie die ganze von mir angesetzte Rekognoszierung als einen Raubzug auf.

Um drei Uhr, so befehle ich, soll man mich wecken. Ich lege mich zu meinem Bäuerlein schlafen. Schlafen kann ich aber nicht, denn die Wanzen fressen mich auf. Zur Zeit des russisch-deutschen Krieges muß hier ein deutscher Offizier gewohnt haben, die einfachen Holzwände sind nämlich überflüssigerweise mit Tapeten beklebt, und unter den Tapeten gibt es ein ganzes Armeekorps von Wanzen . . .

Um drei Uhr mit einsetzendem Morgengrauen brechen wir auf in zwei Kolonnen zu je vierzig Mann. Die erste führe ich, die zweite, die ich, um Umgehungen zu verhindern, im Abstand von einer Werst folgen lasse, kommandiert ein alter Zarenunteroffizier. Sehr heiß ist es schon ganz in der Frühe, ich denke, es wird ein Gewitter geben. Schweigsam marschieren wir westwärts auf der großen Straße durch das kahle Hügelland. Drei Werst . . . vier Werst . . . kein Mensch zeigt sich: dies ist die Zone, wo es keine Menschen gibt, außer kühnen Wegelagerern, berufsmäßigen Mördern, verlotterten Offizieren, die hier mit dem liegengelassenen 129 Gute der Flüchtlinge und dem Leben der ihnen Begegnenden nach Gutdünken verfahren. Hier gibt es kein Recht und kein Gesetz in diesem »Niemandsland« . . . außer dem der Gewalt.

Kleine Häuser nun rechts und links . . . die Plänkler melden, daß alle leer sind. Überall bieten sie das gleiche Bild: was nicht fortzuschleppen war, was nicht beweglich war, ist aus Wut in Scherben gehauen, besudelt, zerstört. Überall ungeheure Massen menschlichen Kotes . . . in einer Hütte, die ich betrete, ein pestilenzialischer Gestank, der mir entgegenschlägt: von der Decke herab an einem aus Lumpen gedrehten Strick, zu einer ganz ungeheuerlichen Länge ausgezogen durch das wochenlange Hängen, baumelt ein Toter. Aasfliegen allenthalben . . . dabei im gleichen Raume Nachtlager, denen man es ansieht, daß sie eben erst verlassen sind. Wer hat hier, wo es doch so viele Hütten gibt, gerade mit dem Kadaver zusammengehaust? Es ist immer das gleiche: alles Geschehen ist in tiefes Dunkel gehüllt in dieser Zone der Toten und der unsichtbaren Übeltäter.

Sechs Uhr ist es . . . ich halte mich lange und vielleicht zu lange auf mit dem Sichern unseres Marsches. Um sechs Uhr also bei schon stechender Sonne stoßen wir bei einem Birkenwald auf ein Gehöft. Ein altes Weib – der erste lebende Mensch seit so vielen Stunden – sitzt hinter dem erblindeten Fenster, über das die Läuse kriechen, und strickt. Wir sprechen, wir schreien sie an, wir reden russisch, jiddisch, lettisch, litauisch, deutsch auf sie ein. Sie sitzt stumpfsinnig über ihrem Strumpf und strickt. Nur die Augen verfolgen uns mit bösem Blick. Wir durchsuchen das Haus, fahnden auf unseren größten Feind, auf verborgene Telephonanlagen: nichts. Im Hof steht einer meiner Soldaten, amüsiert sich damit, die paar elenden Hühner der Alten zu erschießen . . . man muß schon sagen, daß er ein guter Schütze ist. »Warum schießt du?« frage ich ihn.

»Ach, Kommandeur,« sagt er, »die Hände haben nichts zu tun, sie jucken.« Nun, da steht also so ein junger 130 Halbasiat, die Hände jucken ihm, er schießt der Alten die letzten Hühnerchen fort. Und das muß ich schon sagen . . . so ein Vieh bin ich nun auch schon geworden, daß auch ich mich freue, wie sie da umfallen. »Schieß du nur«, sage ich. Die Alte strickt weiter . . . ich glaube, noch heute nach vier Jahren sitzt sie im Subotsch in ihrem verlausten Hause und strickt . . .

Weiter marschieren wir . . . schon vier Werst sind wir von den Unsern entfernt, und nun, nachdem das Wäldchen durchschritten ist, stoßen wir auf einen ansehnlichen Bauernhof. Von weitem schon erkennen wir, daß Menschen darinnen sind. Und nun sind die Soldaten nicht mehr zu halten, wie losgelassene Sträflinge stürzen sie sich auf den Hof. Nur Weiber sind darinnen . . . sechs oder sieben . . . alle werden sie in die Ställe geschleppt . . . alsbald hört man es da drinnen kreischen und schreien. Dann kommen sie für Augenblicke vor mit verwirrten Augen und zerstrobelten Haaren, bis eine neue Abteilung Soldaten über sie herfällt und von neuem in die Ställe schleppt . . .

Überall suchen diese Teufel von Soldaten . . . im Keller, in der Düngergrube. Schließlich höre ich ein Freudengeheul vom Heuboden: dort oben haben sie ein Pferdchen und zwei Kühe gefunden. Wie haben die Weiber sie nur dort oben verstecken können? Es kann ja nicht anders sein, als daß sie sie mit Stricken da emporgewunden haben, und mit Stricken schaffen meine Soldaten sie auch wieder hinunter.

Und nun wird noch viel mehr gefunden: Speck und Butter, Eier und Hühner. Ein Wagen wird hervorgezogen . . . alles hinaufgezogen. Die Weiber liegen in ihren zerrissenen Röcken vor den Soldaten auf den Knien: »Das letzte Hemdchen nehmt ihr uns.« Die Soldaten lachen. »Ach nein,« denke ich, während ich dieses Jammern höre, »ich werde euch nicht beschützen, denn erstens habt ihr Bauern dieser Gegend zuerst nach den Roten geschrien, und nun habt ihr sie. Und zweitens ist dies ja auch nur eine Räuberbande, und folglich muß sie sich benehmen wie eine 131 Räuberbande und nicht wie ein Klub von Petersburger Advokaten. Und schließlich bin ich bei den Roten selbst ein Vieh geworden, und kann im Augenblick auch nichts anderes sein als ein Vieh . . . wollen wir doch sehen, ob ich noch einmal ein Mensch werde.«

Außerdem habe ich mit dem Durchsuchen des Gehöftes zu tun. Während ich alles nach Telephon durchstöbere, langt meine 2. Abteilung an . . . noch einmal geht es über die Weiber her. Die Wagen, mit allen geraubten Eßwaren beladen, mit dem Pferdchen bespannt und von den Kühen begleitet, werden von ein paar Zuverlässigen der Unsern unserer Front zugefahren.

Mir fällt ein hübsches sauberes Haus auf, das außerhalb des Hofes am Waldrand steht. Ich gehe auf das Haus zu, ich habe die entsicherte Pistole in der Hand. Wie ich in den Vorraum trete, sitzen da unter der nach oben führenden Leiter Mann und Frau, so ein stilles Paar. Ich rede sie an, sie lachen nur so blöde vor sich hin. Sie antworten nicht. Aber in dem gleichen Augenblick, wie ich's mit Lettisch probiere, tritt aus dem Zimmer ein junges Frauenzimmer mit dreißig Jahren . . . will schnell vorüber an mir. »He, du, wohin?« sage ich. Und im gleichen Augenblick sehe ich, daß ihr Kopftuch sich verschoben hat und daß darunter kurze Männerhaare zum Vorschein kommen. Den Ausgang vertrete ich ihr . . . »Hände hoch!« schreie ich und denke, daß in der Stube am Ende noch mehr Weiße stecken und über mich, der ich doch allein bin, kommen könnten.

Sie steht mit erhobenen Händen. Im selben Augenblick stürmen ein paar von meinen Leuten ins Haus. Im Nu sind sie über dem Verkleideten. Die Kleider werden heruntergerissen . . . wirklich, es ist so ein weißer Litauer, der unter den Weiberröcken seine Uniform trägt. Es vergehen noch keine zehn Minuten, da haben ihn die Meinen schon im Garten mit zwei Gewehrriemen gebunden und erschießen ihn, obwohl er kläglich um sein Leben bittet.

Wir durchsuchen das Haus. Und hier geschieht, daß ich im 132 Keller ein Telephon finde . . . die Schnur läuft nach Westen auf die feindliche Front zu. Ich läute an der Kurbel zwei kurze Schläge . . ., zwei lange . . ., einen kurzen, einen langen . . . alle Signale probiere ich durch, ohne Antwort zu bekommen. Plötzlich, wie ich es eigentlich schon aufgegeben habe, schnarrt es im Apparat, und nun spricht mich jemand auf litauisch an. Da ich die Sprache nicht kenne, so weiß ich nichts zu sagen, verstehe auch nichts. Wohl aber weiß ich, daß wir nun bald verschwinden müssen, und daß der eben Erschossene uns längst verraten haben muß . . . Jeden Augenblick können wir hier von weißer Übermacht angefallen werden.

Ich gehe nach oben, sofort werde ich sammeln lassen. Ein Bauer tritt mir in den Weg. »Herr, wollt ihr uns nicht die Ehre antun und noch bleiben . . . wir bringen Essen.« Nun weiß ich schon, daß dieser Kerl mich aufhalten will, bis die Weißen da sind, und daß das so ein Verräter ist. Die Roheit überkommt mich, ich schlage ihm den Karabinerlauf über den Schädel. Da liegt er.

Ich lasse rasch den Hügel über dem Gehöft besetzen. Selbst steige ich auf einen großen Apfelbaum, um mit dem Glas Umschau zu halten. Von oben sehe ich da meine Soldatitschki stehen: Der eine hat einen Handkarren mit Butter, der andere einen Sack mit Mehl, der dritte einen Kübel mit Sahne, der vierte und fünfte dies und jenes . . . eine rechte Räuberbande, aber gute Kameraden und ausgezeichnete Soldaten.

Ich lasse sie in Schützenlinie den Waldrand besetzen, und rasch, trotz dieser Bepacktheit, ist die Stellung eingenommen. Wie ich nun mit meinem Glas ausspähe, schreit ein Unteroffizier: »Die Weißen sind hinter uns.« Und wirklich tritt im selben Augenblick, wie ich mich nur umsehe, eine starke Abteilung, wohl hundert Mann stark, aus der Scheune hinter uns. Ich sehe sie anlegen mit hochgehobenen Gewehren, ich weiß, daß mir dies gilt. Sofort lasse ich mich zwei bis drei Meter vom Baum fallen, lande unten ganz 133 gut und höre, wie die Kugeln der Salve durch die Zweige pfeifen. »Auf die feindliche Kette Schnellfeuer«, kommandiere ich, während die Weißen mit Hurra auf meine Leute zurennen.

Da wir im Walde gute Deckung haben, so sitzt unser Feuer sehr gut. Acht Weiße sehe ich fallen auf 200 Meter, der Rest hält unser Feuer nicht aus und geht zurück. Trotzdem ist dies eine verfluchte Situation. Hier stehe ich mit »verkehrter Front«, zwischen mir und den Unsern habe ich diese hundert Litauer. Und das weiß ich schon, daß ich aller Gesinnung zum Trotz nicht gefangengenommen werden darf, weil mich sonst keine Gesinnung vor dem Tode schützen wird.

Nun habe ich zum Glück gestern abend gründlich die Karte studiert: eine tiefe Schlucht führt von hier längs der Straße bis zu unserer Front zurück. Sie habe ich für den äußersten Notfall zur Rückzugslinie bestimmt. Und wirklich kommen die beiden Leute, die ich dort hinunterschicke, mit der Meldung zurück, daß der Schluchteingang frei sei.

Also hinunter! Im Eingang steht ein kleines Gehöft, dessen Bauer hetzt seine Köter auf uns, um durch deren Gebell uns den Weißen zu verraten. Nun, nicht ungestraft tut er das: zwei meiner Leute hauen ihm den Schädel ein. Wie Gespenster sind wir alle verschwunden.

Und nun geht der Marsch durch diese Mittagshitze wieder nach Osten. Dichte Nußbaumbüsche verdecken allenthalben unseren Weg, und ich werde die Sorge vor einem Hinterhalt nicht los. Auch habe ich jetzt erst Zeit, darüber nachzudenken, wie wohl die Weißen vorhin in unseren Rücken gekommen sind. Offenbar hat der in Mädchenkleidern betroffene und hinterher erschossene Telephonist uns eine Kolonne auf den Hals gehetzt, die uns dann umgangen hat . . . aber ganz kann man bei diesem merkwürdigen Krieg, wie wir ihn hier führen, solche Rätsel nicht lösen.

So kommen wir in unmittelbare Nähe unserer Front, als wir plötzlich Gefechtslärm hören. Die Plänkler melden eine 134 starke weiße Truppe, die sich mit unserer Front herumschießt. Schnell schwärmen wir aus, fassen die Weißen im Rücken. Eins, zwei, drei haben sich meine lieben Räuber entwickelt und sitzen den Weißen am Hals. Da sie gute Schützen sind, so kommen sie rasch vorwärts. Neben mir steht bei diesem Gefecht so ein junger Jude . . . er schießt wie ein Teufel und verschmäht es, sich hinzulegen, er schilt die anderen, die sich hinwerfen. So schießt er und flucht zwischen jedem Schusse . . . bis es ihn im Halse trifft, und noch im Liegen flucht er auf die Feigheit der anderen.

Die Weißen schicken eine Warnungsrakete in den Mittagshimmel hinauf und verschwinden. Nun haben wir freien Weg. Es ist die 5. Kompagnie der 32er, bei der wir landen . . . mit Schinken, geräuchertem Speck, mit Mehl und Butter und Lammfleisch beladen wie eine Karawane. Und nun, kaum daß wir unsere Hütte erreicht haben, da beginnt es auch zu duften nach heißer Butter und gebratenem Fleisch, und da sitzen meine lieben Soldatitschki wie die Raubritter und essen und trinken und liegen bald und schnarchen, und nur in irgendeiner Ecke da fliegen die Karten. Wir sind keine Politiker, wir sind weder rot noch weiß, wir pfeifen auf diese Ansicht der Westler, die dem Krieger immer mit »Gesinnung« kommen wollen. Soldaten sind wir und nichts weiter.

Ich trinke das Meine und esse und schlafe.

Am Nachmittage erwache ich von den Donnerschlägen eines starken Gewitters . . . Ich gehe zu den Leuten, um nach dem Rechten zu sehen. Aber die schnarchen und sind nicht zu wecken, nachdem sie eine der beiden Kühe schon aufgefressen haben. Ich gehe zu meinem Regimentskommandeur, meinem Bauernjungen in Hemdchen und Schleppsäbel. Wie er mir gratuliert! Nun, aber eben, als er es tut, da kracht es über uns, und wir denken, daß der Blitz eingeschlagen hat, und nur darüber wundern wir uns, daß das eigentliche Gewitter doch schon vorüber ist. Gleich darauf aber klingelt das Telephon. Es ist der Brigadestab, und 135 zwar ist der Chef der Rekognoszierungsabteilung selbst am Telephon. Verwirrt reicht mir mein Bauernjunge den Hörer, und nun erfahre ich, daß eben die Brücke, die bewußte hölzerne Dünabrücke, in die Luft gegangen ist. Ja, so sehr bin ich in den letzten zwei Tagen schon roter Soldat gewesen, daß ich die ganze Brückensache vergessen habe, und nun fällt sie mir wieder ein. Mein Bäuerlein ist auch ganz trostlos. »Sie müssen morgen mit sechs Kompagnien einen Vorstoß machen. Denn das ist mir schon sicher, daß dies Verrat ist und daß morgen die Weißen angreifen werden.«

So trennen wir uns. Und das muß ich sagen, daß ich eigentlich recht traurig bin. Die Stäbe, zu denen sie mich gezwungen hatten, diese Stäbe mit ihren verfluchten Schreibern und diesen arroganten lettischen Lümmeln . . . sie sind schon widerlich gewesen, die Stäbe. Und da, wie ich diese verfluchte Mordwirtschaft der Kommissare gesehen habe und wie man mich grundlos verdächtigt hat, wie ich auch sah, daß sie meinen guten T. ans Messer liefern wollten . . . da habe ich meinen Plan gefaßt.

Aber hier sind gute brave Soldaten, ganz etwas anderes ist es, in ihrer Mitte zu kämpfen, als unter diesem Literatenpack. Und schwer wird es mir beinahe, von ihnen fortzugehen. Nun aber, da einmal jener alte Stabskapitän auf der Brücke sein Werk besorgt hat und da die Brücke in die Luft gegangen ist, so bleibt mir, wenn ich mein Leben behalten will, nichts anderes übrig, als überzulaufen. Sonst bin nicht nur ich, sondern auch alle übrigen Mitwisser des Planes verloren. Man soll keinen Menschen, der eine Sache haßt, zum Kampf für diese Sache zwingen.

Gut also! Am Abend sehe ich, ob meine Papiere in Ordnung sind. So viel, denke ich, kommt auf einmal und nie hat man Ruhe. Sehr müde bin ich von diesem heißen und schweren Tage. Nun ziehe ich doppelte Wäsche übereinander, nehme Pistole, Glas und Karte. Zu meinen Soldaten sage ich, daß morgen ein starker Angriff beginnen 136 würde, daß ich mich mit den Kompagniechefs besprechen müßte und daß sie heute mich nicht mehr suchen sollten.

Wirklich gehe ich noch einmal zu dem Chef der 5. Kompagnie, durch dessen Frontabschnitt die bewußte Schlucht führt. Dem Scheine nach bespreche ich mit ihm das Ansetzen des morgigen Angriffs, das Einsetzen der Maschinengewehre, de facto erkundige ich bei ihm, an welcher Stelle der Schlucht die Nachtposten zu finden sind. Dann verabschiede ich mich von ihm für heute, gehe aber nicht nach Hause, sondern lege mich in den Wald hinter der Front, um noch zu schlafen. Sehr hungrig und müde bin ich. Da es dort viel Himbeeren gibt, kann ich dem Hunger wenigstens abhelfen. Als ich aber zu schlafen versuche, will es nicht recht gehen: zu sehr arbeiten die Gedanken über das, was vor mir liegt. Denn dieses weiß ich schon gewiß: nichts Leichteres gibt es, als von der roten Armee zu desertieren. Nirgends aber ist der Tod gewisser, als wenn man hierbei erwischt wird!

Nun aber, ich habe doch so einen Hebel im Gehirn, mit dem ich die Sorgen ausschalte und die Gedanken gewaltsam auf etwas anderes lenken kann. Schließlich schlafe ich ein und schlafe, schlafe und erwache in tiefer Dunkelheit von einem starken Kältegefühl: es regnet nicht, es gießt, und ganz und gar bin ich durchnäßt! Ich sehe nach der Uhr: zehn Uhr ist es . . . will ich heute hinüber, so muß ich auf der Stelle handeln!

Gut, auf der Stelle gehe ich in die Schlucht hinunter. Der Regen trommelt hart auf die Blätter. Das kommt mir gelegen: er übertönt das Geräusch der Zweige, die unter meinem Fuße brechen. Vorsichtig weiter wandernd, komme ich an eine Stelle, wo die Schlucht sich ganz tief senkt. Hier, weiß ich, müssen die Posten stehen . . . hier ist die entscheidende Stelle! Vorsichtig schleiche ich, nicht ohne daß das Herz klopft. Ärgerlich ist es, daß ich keinen Kompaß habe und daß die Sterne verdeckt sind. Schließlich merke 137 ich, daß die Sohle der Schlucht steigt, und hieraus glaube ich schließen zu können, daß ich über die Posten hinaus bin: sie standen nach den Einzeichnungen der 5. Kompagnie auf der tiefen Stelle der Sohle.

Schnell gehe ich weiter, mit etwas beruhigtem Herzen . . . gehe und gehe, merke, daß der Regen aufhört und daß es ein wenig klar zu werden scheint, glaube mich schon gerettet, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verliere und bis zum Halse im Wasser sitze. Schnell klettere ich hinaus und vergegenwärtige mir mit geschlossenen Augen das Kartenbild: Dieser Graben, der am Tage noch ohne Wasser war und den ich bei meinem Erkundungsmarsch einfach übersehen habe, durchfließt eine Querschlucht . . . ich habe mich verirrt und bewege mich parallel zu den beiderseitigen Fronten!

Nun, das ist gefährlich genug. Ich suche nicht erst lange nach der Hauptschlucht, sondern klettere hinaus, sehe oben zu meiner Freude klaren Himmel, kann nach dem Polarstern die Westrichtung nehmen und schreite munter geradeaus über das freie Feld. Kaum bin ich ein paar Schritte gegangen, als ich drei- bis vierhundert Meter hinter mir Schüsse höre . . . die Kugeln gehen ziemlich hoch über mir durch die Bäume. Das sind also die roten Posten, an denen ich durch ein Wunder vorübergekommen bin und die mich nun gehört haben. Schnell gehe ich weiter westlich, erkenne nun das »Niemandsland« des gestrigen Tages. Ich vermeide wohlweislich in Gedanken an das dort sich herumtreibende Mord- und Raubgesindel alle die Gehöfte, die ich längs der Straße erkenne, mache mich schleunigst aus dem Staube, wo ich die Hunde alarmiert habe, und sehe schließlich ein Dorf mit einem viereckigen, hohen Kirchturm.

Dieses Dorf kenne ich von der Karte: hier muß die weiße Front sein! Ich verdoppele meine Schritte, werde nun doch wieder irre, weil ich noch immer keinen Soldaten sehe. Bin ich am Ende unversehens auch durch die weiße Front gelaufen? Ich zünde mir eine Zigarette an. Da ein kalter 138 Wind bläst, so will sie erst beim sechsten Zündholz Feuer fangen. Und als ich dann glücklich den ersten Zug nehme, kracht es und ich bekomme eine Salve um die Ohren, daß mir die Schläfenhaare fliegen. Sofort werfe ich mich hin, höre noch eine Garbe über mich hinwegsausen. Nun schreie ich aufs Geratewohl: »Nicht schießen! Ein Überläufer kommt!« Und dann sehe ich wirklich 8 Mann auf mich zukommen.

Es sind Letten. Ich bleibe ruhig liegen und warte auf die weitere Entwicklung. Einer setzt mir ein Bajonett auf die Brust, fragt in einem Russisch, dem ich den lettischen Akzent leicht anmerke: »Bist du allein?«

»Ja«, antworte ich.

»Du lügst«, sagt der Mann. »Hinter dir kommen noch mehr, sechs Feuer haben wir gesehen.« Er meint meine Streichholzblitze. Ich werde unter Bedeckung nach hinten in eine Hütte gebracht, der dort kommandierende Unteroffizier eröffnet mir, daß er eine Patrouille ausschicke, um nachzusehen, ob ich allein gekommen sei. Seien noch andere da, so würde ich auf der Stelle kaltgemacht.

Sehr angenehm ist meine Lage nicht. Was weiß ich, ob da nicht tatsächlich eine rote Patrouille im Walde steckt. Aber sie kommen Gott sei Dank nach einer halben Stunde zurück, ohne etwas gefunden zu haben, und so wäre ich denn glücklich herübergewechselt.

Nun werde ich in der Morgendämmerung von zwei Leuten in den zugehörigen Regimentsstab gebracht. Der haust, wie üblich, in einer Scheune, der Regimentsadjutant empfängt mich freundlich, sorgt für Waschwasser und gibt mir Tee.

Auf meine Aussage, daß ich wichtige Papiere bei mir habe, werde ich schon nach einigen Minuten in ein Wägelchen gesetzt und unter Bedeckung zum Armeestab gebracht. Ziemlich lange dauert die Fahrt, auch sie führt durch das alte Etappengebiet der deutschen Armee. Schließlich langen wir in einem alten Gutshof an, dessen Herrenhaus von 139 Schreibern wimmelt. Der Chef des Stabes, ein alter russischer Generalstabsoberst, der heute noch die Generalstabsstreifen und den schwarzen Samt an der Mütze zur Friedensuniform trägt, begrüßt mich freundlich in chevaleresken Formen. Wie das immer ist, wenn ein Soldat auf den anderen stößt und nicht dieses dumme moderne Gerede von Gesinnung und Nationalismus aus dem Soldaten so einen halben Agitator macht.

Nun also, Oberst K. ist bewegt, als er erfährt, wer ich bin, und als ich ihm aus meinen Papieren beweise, welchem Regiment der kaiserlichen Gardekavallerie ich angehört habe und wie ich zum Dienst in der roten Armee gekommen bin. Nun erst, als der Verhandlungsmodus zwischen uns beiden gesichert ist, ziehe ich meine Beute an Papieren und Plänen hervor, erzähle ihm meine mit General T. getroffenen Verabredungen, erzähle ihm von der Verhaftung T.s, den mein Gegenüber wohl gekannt hat, und erwähne zuletzt, daß gestern nachmittags die Dünabrücke in die Luft gegangen sei. Er springt bewegt auf, schüttelt mir die Hand: »Ist das wahr?« »Sie können sich«, antworte ich, »darauf verlassen, ich bürge mit meinem Leben.«

Nun erzähle ich von den Grausamkeiten der lettischen Kommissare. Ich nenne den Namen Putnins, ich nenne die Namen der hingeschlachteten Gefangenen. Alles wird protokolliert. Und trotzdem ich so wohl aufgenommen bin, weiß ich, daß ich schlechten Tagen entgegengehe, wenn ich aus der Nähe dieses freundlichen Russen in die Einflußsphäre lettischer Unterführer komme: der nationale Haß ist denn doch zu groß, und ich kann den meinen gegen dieses Volk auch nicht recht unterdrücken.

So bitte ich denn meinen Oberst, daß ich in Gefangenschaft litauischer Regimenter bleiben dürfe, die lettisch-litauische Fuge sei ja sowieso hier.

Er schlägt es mir leider ab. »Es tut mir leid, Ihre erste Bitte schon nicht erfüllen zu können. Aber Sie sind nun 140 einmal von lettischen Truppenteilen gefangengenommen. Dagegen kann ich versprechen, daß ich heute noch den lettischen Etappenkommandanten anrufe und dafür sorge, daß man Sie anstandslos frei läßt.«

Noch lange sitzen wir, er behält mich zum Mittag . . . ach, wie lange schon habe ich nicht an sauberer Tafel mit einem Standes- und Gesinnungsgenossen gesessen!

Abends werde ich dann wieder in ein Fuhrwerk gesetzt und nordwestwärts gefahren . . . dem Etappenkommando zu. Dies ist nun schon baltisches Gebiet . . . man sieht große Edelsitze und saubere Straßen. Auf diesen Straßen lungern nun merkwürdige Gestalten herum: Leute in deutscher Kavallerieuniform, und zwar in den bunten Friedensuniformen . . . Kürassiere . . . schwarze und apfelgrüne Husaren . . . sogar einen Menschen im weißen Koller und Adlerhelm der Gardedukorps sehe ich. Sieht man genauer hin, so bemerkt man unter diesen Kolpaks, Tschapkas und Nickelhelmen diese lettischen Fischdiebsgesichter . . . es sind Etappenbummler, die irgendein vergessenes Kleidermagazin der Deutschen geplündert haben. Mir aber tut es von Herzen wehe, daß dieses Gesindel, das noch dazu mit so einem Zuhälterdeutsch renommiert, sich mit den Emblemen einer so ruhmvollen und ehedem so gewaltigen Armee brüstet . . .

Ein Auto kommt uns entgegen, ein wohlbekanntes Gesicht ist zu erkennen: Es ist General K. Persönlich ist er bei dem Etappenkommandanten gewesen, ganz fest ist ihm meine sofortige Freilassung zugesagt worden!

Ich bedanke mich bei dem freundlichen Mann und fahre weiter. So komme ich zu dem Etappenkommando, das in einem großen GesindeBauernhof. liegt. Ein junger Lette von drei- oder vierundzwanzig Jahren kommt mir als Etappenkommandant entgegen . . . ich erkenne sofort den ehemalig russischen Reserveoffizier, kann aber bei dieser Physiognomie 141 das Gefühl des Widerwillens nicht loswerden. Auch dieser trägt eine deutsche Husarenuniform . . . russische Achselstücke dazu . . . weiß er wohl, wie lächerlich er ist?

Kaum bin ich drinnen, so winkt er zwei uniformierten Subjekten: »Entkleidet ihn und durchsucht ihn!« Sie stürzen sich auf mich. Die Wut steigt mir in den Hals. »Wie kommen Sie«, schreie ich ihn an, »zu dieser Behandlung eines ehemalig kaiserlich russischen Offiziers?«

Er geht, ohne zu antworten, schnell zur Tür hinaus. Die Straßenräuber da durchwühlen meine Kleider, sie nehmen meine Uhr, mein Zigarettenetui, das einzige, was mir aus besseren Zeiten verblieben ist. Sie nehmen meine Stiefel und meine Wäsche. Man reicht mir ein zerrissenes russisches Soldatenhemd, eine Hose, die ich lieber nicht beschreibe, so unappetitlich ist sie! Ich bleibe barfüßig: nicht wie ein Landstreicher, sondern wie ein Zuchthäusler sehe ich aus. »Wo ist der Kommandant?« schreie ich die beiden Kerle an. Da ist er schon in der Tür. »Sie haben«, sage ich ihm, »vorher meine Frage nicht beantwortet. Jetzt frage ich, wie sich diese empörende Behandlung mit den Zusicherungen verträgt, die man mir im Armeekommando gegeben hat.«

Er zuckt die Achseln, er näselt vor Vornehmheit, wie ein Kommis, der einen Gardeoffizier spielt: »Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie nicht bei uns bleiben, sondern zur russischen FreiwilligenarmeeGemeint sind die Armeen Judenitsch (damals im Anmarsch auf Petersburg), Miller (kombinierte russisch-englische Truppen, damals bei Archangelsk), Denikin (damals von der Krimbasis aus operierend) und Koltschak (in Sibirien). Es läßt sich wohl sagen, daß alle diese Heere – das des ententefreundlichen Denikin vielleicht ausgenommen – die Rekonstruktion eines deutschfreundlichen monarchistischen Rußlands zum Ziele hatten. Wie nahe die Armeen ihrem Ziele waren, ist bekannt. Judenitsch kämpfte im Herbst 1919 in den Vororten von Petersburg, als die englischen Kriegsschiffe, die vertragsmäßig seine Flanke sicherten, ihm plötzlich die Hilfe aufsagten. England wußte sehr wohl, daß ein kombiniertes deutsch-russisches Heer, dem der Sieg über die Sowjets gelungen war, das alte deutsch-russische Bündnis und damit eine andere europäische Situation geschaffen hätte. Unter dem Druck der französischen Verbündeten hat England damals Judenitsch im Stiche gelassen, die Letten gegen Bermont unterstützt. Es galt die Schaffung der Randstaaten, deren Existenz durch ein starkes Rußland beendet worden wäre und beendet werden wird. So ist eben auch die Animosität des lettischen Etappenkommandanten gegen den monarchistischen Russen zu verstehen.
Dieses Buch hat andere als politische Ziele. Anderen mag die Untersuchung vorbehalten sein, ob deutsche Politiker bei dem Niederbruch der Judenitsch-Armee mitgewirkt haben.
überlaufen wollen.« 142

»So wundere ich mich,« antworte ich ihm, »daß Sie die kaiserlich-russischen Achselstücke tragen, die Sie mit Ihrem Benehmen jedenfalls verleugnen.«

Er schweigt, wieder entzieht er sich durch Hinausgehen. Die beiden Verbrecher in lettischer Uniform bringen mich hinaus . . . Ich werde auf dem Hofe von einer ganzen Bande solcher Kerle in Empfang genommen. Ich beschließe, meine Würde zu wahren und sie nicht zu beachten. So sperrt man mich, nachdem man mich an eine Kette gelegt hat, in eine Hundebude, sogar ein Hundenapf mit Essen wird mir hingeschoben. Die Nacht über amüsiert sich der Posten damit, mir Sommeräpfel zuzuwerfen . . . ob aus Mitleid oder Hohn, weiß ich nicht. Ich enttäusche ihn und die anderen, indem ich nichts esse.

Auf der anderen Seite des Hauses ist das Wachtlokal. Durch die Scheiben kann ich in den erleuchteten Raum sehen. Ein intelligentes Frauengesicht bemerke ich . . . es ist eine junge Russin, die der Spionage verdächtig sein soll. Der Posten drüben vergnügt sich damit, die ganze Nacht über durchs offene Fenster Zotenlieder den Gefangenen ins Ohr zu schreien . . . Natürlich werde ich zur freiwilligen russischen Armee! Wo ist denn mein Herz anders als bei dem alten großen Rußland?

Am Morgen führen mich zwei ebenso konfisziert aussehende Subjekte zum Wagen. Unter ihrer Bewachung fahre 143 ich nach Stockmannshof, wo das lettische Armeeoberkommando liegt. Vierzig Werst rüttelt mich der federlose Wagen durch . . . ich bin todmüde von den letzten drei Tagen mit ihren ununterbrochenen Strapazen. In Stockmannshof frühstückte man früher in Friedenszeiten, wenn man nach der deutschen Grenze fuhr, auf dem ausgezeichneten Bahnhof . . . es gab dort einen Schnaps, den man nie wieder vergaß! Nun werde ich in einen großen Keller gesperrt, an dessen Boden, dicht aneinandergepreßt, viele Hundert zerlumpte Elendsgestalten kauern: es ist der menschliche Abschaum, den die Armeepolizei in der Nähe einer Front aufzugreifen pflegt . . . Räuber, Mörder, Marodeure, Spione, Huren, die ihrer militärischen Kundschaft Geheimnisse entlockt haben. Hin und wieder auch irgendein anständiger Kerl, der unverdient in diese Gesellschaft gekommen ist . . .

Ich werfe mich auf den Boden und schlafe. Ich liege auf dem verfaulten Stroh . . . ich höre, wie die Läuse darin rascheln. Nein, ich übertreibe nicht, das Ungeziefer raschelt wie Mäuse darinnen. Ach diese Laus . . . immer hat sie hier eine Rolle gespielt. Es war aber dieser Revolution vorbehalten, die souveräne Herrschaft der Laus zu stabilisieren! Und das will ich an dieser Stelle sagen, daß sie sich verändert hat in diesen Jahren . . . es ist eine andere Laus geworden! Sie kann – jeder, der das damalige Rußland gekannt hat, wird es bestätigen – weite Strecken fliegen, sie dringt in die Haut ein, wo sie wie in Schützengräben haust, sie ist trotz des Ansehens, das sie als graues, häßliches und bisher unterdrücktes Insekt bei den Bolschewiken genießt, der ärgste Konterrevolutionär: sie hat es erreicht, daß ganze Bataillone von Rotgardisten am Flecktyphus eingegangen sind . . .

Spät erwache ich am nächsten Morgen. Mein Kopf liegt auf den schmutzigen Hosen des Nachbarn, der auf der anderen Seite liegt wieder zur Hälfte auf mir. Beide sind sie scheußliche Kerle . . . aber »nur keinen Hochmut«, denke 144 ich . . . ich sehe auch nicht anders aus. Ich sehe mich um; dies ist der Vorraum zur Hölle, die Unterwelt. Viele wissen, daß ihr Todesurteil schon geschrieben ist, daß sie bald zerfetzt in irgendeiner Kiesgrube faulen werden. In einer Ecke spielen ein paar Kerle um eine Zigarette, Karten haben sie nicht. Einer von ihnen fährt sich mit der Hand unter sein Hemd, greift nach der Achselhöhle: »Paar oder Unpaar?« schreit er. »Paar« heißt die Antwort. Die Zigarette ist verloren. Man entscheidet Gewinst oder Verlust nach der Zahl der Läuse, die man erwischt hat . . .

Morgens kommt kein Essen. Mittags aber werden zwei Blechbottiche hereingetragen. Darinnen schwimmen in Schmutzwasser unausstehlich stinkende, verfaulte Kartoffeln. Da meine Gefängnisgenossen keine Eßbestecke haben, so schöpfen und trinken sie diese Brühe aus ihren Mützen, prügeln sich um die Rationen, voll »dreietagiger Flüche« ist die Luft. Ich für meinen Teil habe noch keinen Appetit auf diese Speise an diesem Tage. Mein Gott, am nächsten geht es schon besser damit . . .

Als die Nachmittagssonne ein wenig durch die Luken scheint, kann ich diese Physiognomien ein wenig besser sehen: Polen, Esten, Letten, ein paar Finnen . . . alle Völker des westlichen Rußlands. Ein paar sind blutig geschlagen, andere tragen auf dem Rücken Pappschilder mit Inschriften: »Spion . . . Verräter . . .« Zwei werden am Abend herausgeholt. Nach einer halben Stunde stößt man sie wieder in unser Loch. Der eine schleicht sich vorüber mit dem Blick eines verprügelten Hundes . . . man hat ihn nur auf die landesübliche Weise geschlagen. Den anderen hat man mit eingeweichten Weidenruten traktiert. Der Rock hängt in Fetzen, das darunterliegende Fleisch ebenfalls. Er stirbt in dieser Nacht. –

Ein hochgewachsener Mann mit gutem Gesicht fällt mir auf. Es ist ein russischer Offizier der kaiserlichen Armee, er hat sich mit zwei Leuten von Moskau bis hierher durchgeschlagen, er wird, wie ich, als gemeiner Verbrecher 145 festgehalten. Diese lettischen Offiziere, die mit den zaristischen Achselstücken prunken, vergreifen sich auf diese Weise an Rußland!

Am zweiten Tag, am Abend, ruft ein Soldat meinen Namen. Ich werde zum Höchstkommandierenden gebracht, der sich in einem Eisenbahnwagen eingenistet hat, wie üblich. Ein Stabsoffizier legt mir Karten vor und fragt nach den Stellungen der Roten Armee, nach den politischen Strömungen in ihren Reihen und dergleichen.

Nun, ich bin kein Bolschewik, ich nicht . . . ich werde diese Wirtschaft der Kommissare im Tode noch hassen. Aber diesen Läusen hier, soll ich ihnen die Stellungen verraten? Ich antworte sehr reserviert, ich mache allerlei mokante Bemerkungen über die große Anzahl lettischer Regimenter, die bei den Roten zu finden sind.

Der Stabsoffizier, auch so einer, kriegt einen roten Kopf und will das nicht für wahr haben. Ich bleibe sehr kühl. »Wollen Sie, bitte, Schritte tun,« sage ich, »daß man von Ihren Soldaten mir meine gestohlenen Wertsachen wiedergibt?«

Er bricht ab. Ich werde ins Gefängnis zurückgebracht. Ich schaue mich um: hier ist eine Flucht nicht möglich: die Fenster sind so klein, das niemand hindurch könnte, sie sind außerdem vergittert. Die Tür ist aus Eisen und außerdem scharf bewacht. So lebe ich Tag um Tag hier, wie ein schmutziges Tier.

Es ist einer der ersten Augusttage, als man mich hinausläßt. Wie ich bin, werde ich mit einigen Russen zusammen auf der Bahn nach RigaRiga war damals schon, nachdem es im Mai 1919 von der Armee Goltz (Reichsdeutsche, baltische Landeswehr, weißgard. Letten) erobert war, von Goltz unter Ententedruck geräumt und im Besitz der lettischen Regierung Ulmanis. Die Goltzarmee (zuzügl. russ. monarchistischer Eskaders, spätere Bermontarmee) stand damals in Mitau. transportiert. Mein Zustand ist 146 scheußlich, nichts hindert mich mehr, ebenso wie die da im Gefängnis »paar oder unpaar« zu spielen.

Sofort vom Bahnhof werde ich unter Bewachung zum »Kriegsministerium« gefahren. Das ist ein großes Bureaugebäude in der moskauischen Vorstadt . . . an dem ehemaligen »Lausemarkt«, dem Tummelplatz alter Trödelweiber in Friedenszeiten. Heute weht die rotweißrote Fahne vom Dach. Nun, denke ich, die roten Streifen werden am Ende noch einmal in der Mitte zusammenstoßen . . . ohne weiß . . .

Wieder befragt mich so ein Offizier, wieder verschmähe ich es zu antworten. Ich werde in ein anderes Zimmer geschickt. Da man mir einen Begleiter nicht mitgibt, so laufe ich die Treppe hinab, dem Ausgang zu. Sofort weist die Wache mich zurück, ich bleibe unter starker Bewachung wie ein Schwerverbrecher.

Abends wurde ich mit mehreren Häftlingen zusammen in den nach Norden gehenden Zug gesetzt. Die anderen Gefangenen sind Deutsche von der Goltzarmee, außerdem einige polnische Verbrecher. Wir fahren die ganze Nacht und werden am Morgen im Wolmarer Konzentrationslager abgeladen. Dieses Lager ist bereits bei unserer Ankunft überfüllt, es ist das gleiche Bild, wie ich es unten im Süden vor einigen Tagen gesehen habe. Ein paar Letten, die wegen eines in Estland verübten Notzuchtverbrechens hier sitzen, werden am zweiten Morgen auf eine kleine, von einer einsamen Fichte gekrönte Anhöhe geführt und erschossen . . . ich kann alles von meiner Baracke aus sehen.

Das Essen ist leidlich. Zum erstenmal sehe ich hier die Uniform der neuen lettischen Nationalarmee: sie haben aus allen Armeen der Welt etwas übernommen: russische Achselstücke, deutsche Reminiszenzen im Schnitt, Rangabzeichen am Kragen nach österreichischem Muster. Und ebenso ist das Reglement der Truppe, die ich da täglich exerzieren sehe: bar einer eigenen Kultur in jeder Hinsicht, 147 hat sich dieser nagelneue Staat von allen Seiten etwas zusammengeliehen.

Der Typhus wütet in unserem Lager, täglich sterben einige dieser Kranken, die in ihrem Schmutz mitten unter uns Gesunden liegen, täglich höre ich unter meinen Fenstern das Knirschen der Grabschaufeln. Ein deutscher Soldat von der Goltzarmee, der sich nach seiner in Riga lebenden »Braut« sehnt, hat sich an mich geschlossen, gemeinsam beraten wir über die Flucht. Wir warten geduldig das Augustende ab, als die Nächte anfangen, sich zu strecken. Obwohl die Türen stets offen sind, ziehen wir es vor, durch die Fenster der Baracke zu klettern, und wirklich gelingt es uns, durch die Posten zum nächsten Kartoffelfeld zu kriechen. Man schickt uns wohl ein paar Schüsse nach, aber wir sind bald in Sicherheit.

Und nun wandern wir südwärts auf Riga zu, von dem uns fast 200 Werst trennen. Wir haben einen Kochkessel, wir haben Salz, die Kartoffeln stehlen wir uns. Wir wandern in der Nacht und rasten am Tag, ängstlich vermeiden wir die Nähe menschlicher Gehöfte. Einmal kommen wir in tiefer Einsamkeit an einem deutsch-baltischen Edelsitz vorüber, dem vor Monaten die Bolschewiken einen Besuch abgestattet haben. Das Schloß ist geplündert, die Fenster eingeschlagen, der Park sieht verwildert aus, wie im Märchen . . . alles ist absolut menschenleer. An der Mauer der Familiengruft lehnen, von den Bolschewiken hingestellt, die Toten . . . Skelette mit noch zusammenhängenden Knochen . . . sie haben Tabakspfeifen im Mund, sind mit abgelegten Reitgamaschen ausgestattet und auch sonst in jeder Weise verhöhnt. So haben sie den lettischen Bolschewiken als Scheibe gedient.

Zwei Wochen dauert unser Marsch. Kurz vor Riga halten wir im Walde eine lange Rast bei schönem warmen Herbstwetter. Ich habe einen ellenlangen, verlausten Bart, ich sehe nicht mehr wie ein Verbrecher, sondern wie ein Waldmensch aus. 148

Am nächsten Tage gehe ich stracks, um mich nicht erst auf den Straßen abfangen zu lassen, zu einem in der Sandstraße wohnenden Bekannten. Er weint fast, als er mich sieht. Er hat die ganze Bolschewikenzeit der Stadt erlebt und erzählt mir abends folgende Geschichte, die mir übrigens später mehrere Augenzeugen bestätigt haben: Die Bolschewiken hatten bekanntlich in den Gefängnissen an den Sandbergen kurz vor der Einnahme der Stadt durch die Goltzarmee Hunderte von Geiseln der baltischen Aristokratie und Intelligenz zusammengetrieben, die dort an Hunger, Schmutz, Flecktyphus hinsiechten und schließlich, unmittelbar vor dem Einrücken der weißen Truppen, erschossen werden sollten. Stütze dieser armen, einst in so hochkultivierten Verhältnissen aufgewachsenen und nun so tief in den Kot gestoßenen Gefangenen war ein fünfzehnjähriges Fräulein v. X., das, durchaus noch ein Kind, durch ihr tägliches Beispiel alte gefestigte Leute zur Geduld und zur Haltung erzog.

Um zehn Uhr früh am Tage der bevorstehenden Einnahme rücken rote Henkerpikette in die Gefängnisse, die Gefangenen werden in die Höfe getrieben, gleich werden sie erschossen werden. Das kleine Fräulein v. X. fällt vor der Front der Opfer auf die Knie, sie beginnt zu beten für die Gemordeten und ihre – Henker. Sie betet so eindringlich, und so wahrhaftig ist das Ringen dieses Kindes um das Angesicht Gottes, daß die Henker die Gewehre niederwerfen und die Hinrichtung verweigern. Bewaffnete Megären – jene von mir gesehenen Flintenweiber – stürmen in den Hof, speien vor den Männern aus und erschießen endlich die Gefangenen. Auch jenes kleine Fräulein v. X. –

Noch am Abend wird für mich ein Friseur bestellt, der mir den Bart abnimmt, endlich – nach Wochen – kann ich mich säubern. Auch neue Wäsche und einen alten Anzug erhalte ich von meinem Freunde . . . als kompletter Kavalier verlasse ich am nächsten Tage das Haus und begebe mich in den Hafen. Diesmal meint das Schicksal es gut mit mir: 149 Am Kai liegt ein kleiner Dampfer, der heute noch mit einem Transport ausgewechselter deutscher Gefangener nach Mitau geht. Und wirklich, es gelingt mir, mich unter diese Leute zu schmuggeln. Sieben Stunden fahren wir, durch die Düna zuerst und dann durch die Aa. Kurz vor Mitau, da, wo die Besatzungszone der Goltzarmee anfängt, beginnt eine andere Welt. Man sieht auf den Straßen, die zur Stadt führen, Abteilungen von behelmten Truppen . . . diese Helme passen so gut in das mittelalterliche Bild dieser Landschaft . . . Und die Truppen erweisen vorüberreitenden Offizieren Ehrenbezeigungen wie vor zehn Jahren . . . wie lange schon habe ich dies nicht gesehen? Im Flusse badende Soldaten mit netten, frischen Gesichtern winken uns zu . . . mir ist eine große Last von der Seele gefallen.

Die Stadt ist voller Truppen, Marketender, Agenten, Juden und den unvermeidlichen bolschewistischen Agitatoren, die sich überall in den Standorten der weißen Truppen herumtreiben und die ein geübtes Auge wie das meine sehr bald erkennt. Ich gehe in die Apotheke, um mir graue Salbe für meine lieben Läuse zu kaufen. Ein paar verkommene russische Kameraden von der Armee Denikin lehnen vor der Lette, sie wollen von dem deutschen Apotheker, da sie schwere Kokainisten sind, für ihre schlechten Revolver durchaus etwas von ihrem Gift haben. 150



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