Fritz Reck-Malleczewen
Von Räubern, Henkern und Soldaten
Fritz Reck-Malleczewen

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Die Kerenski-Offensive

Ungewolltes Blutvergießen.. Die Infanterie sabotiert das eigene Artilleriefeuer. Bestrafte Popularitätshascherei. Gefecht bei Krewo. »Maladjez!« Ein deutscher Überläufer. Frauen im Artilleriefeuer. Verwundet.

Am nächsten Morgen versammelt A. die Soldaten, hält eine große Rede und stellt ihnen eine große Schlacht in Aussicht. Gleichzeitig sollten sie auf alle unzuverlässigen Elemente in den eigenen Reihen acht geben, damit nie wieder die Bourgeoisie (ich denke, wir haben doch eigentlich eine rechte Bourgeois-Regierung in Petersburg?) das Haupt erhebe!

Unglückseligerweise haben in dieser Nacht die Soldaten der Polizeischwadron drei Leute im Gespräche mit feindlichen Posten erwischt. Das Kriegsgericht, nach revolutionärem Recht bestehend aus vier Offizieren und drei Soldaten, verurteilt sie zu je 10 Jahren Zwangsarbeit, wobei alle Offiziere für Strafe, alle Soldaten für Freisprechung stimmen.

Die Arrestanten werden mir übergeben, ich bringe sie bis zum Abtransport in einer Heuscheune unter der Bedeckung von 10 Husaren unter. Kaum bin ich damit fertig, so ruft eine Stabsordonnanz mich ins Quartier. Was ist? Der Angriffsbefehl . . . der Hauptstoß wird weiter südlich bei Krewo erfolgen . . . wir selbst werden seine Flanke durch einen Scheinangriff decken. Die vier Obersten werden zum Befehlsempfang ins Divisionsquartier geholt . . . A. spricht begeistert von der kommenden Schlacht: da diesmal gleichzeitig auch in Frankreich angegriffen werde, so muß es gelingen, die Deutschen über den Haufen zu rennen! Er bleibt mitten im Reden plötzlich vor dem Kommandeur der Neunzehner stehen. »Bei Ihnen allerdings . . . in Ihrem Regiment habe ich von revolutionärem Geiste nichts gemerkt! Sie verstehen es nicht, die Soldaten zu begeistern, 38 Sie versteifen sich auf die alten Einrichtungen . . . ich bin unzufrieden mit Ihnen.«

Der Oberst schweigt und zuckt die Achseln. A. schickt mich, da für diesen Abend sieben Uhr der erste Schuß befohlen ist, in die Artilleriestellung zur Berichterstattung. Wie ich das Quartier verlasse, läuft mir der Husarenwachtmeister von der Polizeischwadron entgegen: ein Arrestant, einer der drei Verurteilten, ist entkommen. Wie er es sagt, sehe ich auch schon den Flüchtling, einen langen Grusinier, über die Wiesen auf den Wald zulaufen. Die Husaren jagen hinter ihm drein, sie schießen vom Sattel aus, der Mann überschlägt sich und bleibt liegen. Man bringt die Leiche. Die zahlreich im Stabe herumlungernden Soldaten drohen den Husaren, sie sind sowieso schlecht zu sprechen auf die Kavalleristen. Mir tut der Tote leid. Aber kann ich wohl dafür? Ich muß zu gleicher Zeit Polizei- und Ordonnanzoffizier sein . . .

Ich reite inzwischen zu den Stellungen. Die Neunzehner sind die ersten, zu denen ich komme. Die Leute lachen die Pioniere aus, die gerade die Gestelle für das Herausklettern der Truppe aus den Gräben bauen. »Geht nur allein los auf die Deutschen . . .« Die Offiziere begünstigen diese Stimmung der Leute. Die Frauenbataillone freilich sind begeistert, sie werden angreifen, ohne Zweifel. Sie haben einen deutschen Landsturmmann zwischen den Graben erwischt, sie sind stolz auf ihren ersten Gefangenen. Der Deutsche lacht vor sich hin, er amüsiert sich über die verkehrte Welt, in der die Frauenzimmer Soldaten spielen.

A. telephoniert herüber, daß ich den Feuerbeginn in der Stellung abwarten solle. Da ich mit meinem Rundgange fertig bin, gehe ich in Sonjas Unterstand. Wir trinken Tee. Der weibliche Bataillonskommandeur stört uns fortwährend, indem er alle Augenblick Sonja rufen läßt. Sonja ist empört. »Sie kann keine Ruhe geben, wenn ein Mann in ihrer Nähe ist.«

Kurz vor sieben Uhr stehe ich vor einem eisernen 39 Beobachtungsturm, den man wie einen Baumstumpf bemalt hat. Das Land ist friedlich, die Frösche schreien, und auf der zerschossenen Scheune vor mir balancieren die jungen Störche. Die Deutschen drüben singen. Ich sehe auf die Uhr, die ich genau gestellt habe. Zehn Sekunden noch . . . zwanzig Sekunden . . . nun ist es sieben Uhr. Ich sehe mich erstaunt um: links von mir schießt auch wirklich so eine klägliche alte Donnerbüchse, Signale steigen über der deutschen Front auf, und ich bemerke auch eines unserer neuen Aeroplane, die wir von den Franzosen erhalten haben. Was zum Teufel ist denn aber bei uns los? Von der Artilleriestellung her höre ich nur Gewehrfeuer . . . dazwischen nur immer wieder diese alte Donnerbüchse, die durchaus lächerlich wirkt.

Ich krieche aus meinem Turm heraus, ich suche mir den Weg durch die alten Gräben zur Artillerie. Ich komme endlich in die Nähe einer Batterie, komme bei einem Latrinenunterstand vorüber und finde dort einen gebundenen und vor Wut weinenden Artillerieleutnant, der mir Aufschluß gibt: die Neunzehner sind bei den Artilleristen eingedrungen, sie haben sich mit Gewalt der Verschlüsse bemächtigt und haben sie fortgeschleppt.

Ich befreie den Leutnant und lasse mich von ihm zur nächsten Batterie führen. Die Artilleristen sind außer sich. »Was soll man machen? Bataillonsweise sind sie über uns gekommen!« Hinten unterhält lediglich unsere armselige schwere Artillerie ein dürftiges Feuer.

Ich laufe zu den Neunzehnern zurück. So wie ich aber auf den ersten Posten stoße und nach dem Regimentsstabe frage, dreht der Mann sich auf den Hacken um, läuft fort, kommt mit drei Kameraden wieder. »Sie sind selbst vom Divisionsstabe . . . Sie sind verhaftet.« Ich ziehe die Pistole und schieße dem Unteroffizier am Schädel vorbei. Ein Offizier kommt und befreit mich. Er klärt mich kurz auf: Die Neunzehner hätten sich nicht nur der Geschützverschlüsse bemächtigt, sie seien auch auf dem Wege, um General A. zu verhaften, der ihnen zu kriegslustig sei. Ich 40 solle machen, daß ich fortkäme, das Regiment dächte nicht im entferntesten an einen Angriff . . .

Ich mache mich davon. Durch das Birkengehölz laufe ich zurück. Es ist schon dunkel, die Scheinwerfer der Deutschen suchen die Höhen ab. Wie ich aus dem Gehölz trete, werde ich plötzlich um den Leib gefaßt. Ich kann mich nicht wehren: es sind vier oder fünf Mann, die mich festhalten. »Sind Sie von der Polizeischwadron?«

Ich begreife sofort, daß die Leute – es sind Sappeure – wegen des heute früh erschossenen Grusiniers nach dem Kommandanten der Polizeischwadron fahnden. »Geh zum Teufel,« sage ich, deute auf meine Uniform, »siehst du nicht, daß ich von den Ulanen bin?«

Die Leute werden sofort höflich, entschuldigen sich. Ich kann weitergehen.

Der Ort, in dem der Divisionsstab liegt, ist voller Neunzehner. Vor unserem Quartier stehen ein paar hundert Infanteristen, heulen und johlen. Zwei Maschinengewehre sind auf die Tür gerichtet, außerdem haben sie zwölf Feldkanonen aufgebaut. Aber auch eine Musikkapelle steht bereit. Unser Kasinokoch kommt jämmerlich verprügelt mir entgegen. »Was ist los?« Der Mann berichtet mir, daß die Nennzehner zuerst allen Schnaps im Kasino ausgetrunken, dann die Offiziere verhaftet hätten und nun nach General A. suchten. Der Mann zittert vor Angst. Fort ist er.

Und nun sehe ich ein ganz artiges Schauspiel. Von der kleinen Krämerbude aus, die unserem Quartier gegenüberliegt, sehe ich, wie man den General A., den revolutionsbegeisterten A., bringt. »Zieh die Stiefel aus!« Da der General dick ist und nicht sehr rasch gehorchen kann, helfen die Neunzehner mit Fußtritten nach. Mit Fußtritten wird er vorwärts gestoßen, zu den alten Drahtverhauen hin, die noch vom Herbst 1915 hier sind. »Hinüber mit dir!« Der General versteht nicht. Ein Unteroffizier tritt mit dem Bajonett auf ihn zu: »Da du uns doch heute über die Verhaue der Deutschen hast gehen lassen wollen, so wollen wir 41 doch zuerst einmal sehen, wie du hinüberkommst.« Ein Kolbenstoß trifft A., er springt. Mit seinem Fettbauche springt er natürlich zu kurz, er ist mit seinen grauen Strümpfen mitten in dem rostigen Drahtknäuel gelandet, er hat sich die Füße arg verletzt. Er schreit kläglich. Die Leute wiehern vor Lachen: »Ein zweites Mal!« Er wird herausgeholt aus dem Draht, zu gleicher Zeit fällt die Regimentsmusik mit einer lustigen Polka ein. Und A. springt, wie er nur springen kann . . . er, der die Gunst der Soldaten durch volkstümliche Redensarten, durch Beschimpfungen seines Vorgängers zu erringen hoffte!

Ich lache und lache. Nun, und wenn noch die Deutschen angreifen, während sie den General hier über rostigen Stacheldraht springen lassen . . . dann werden wir ja einen allerliebsten »Kawardak«Kohl . . . Unsinn. haben. Immerhin reite ich zum Korpskommando nach Woloschin ein paar Werst zurück, um Ordnung zu schaffen. Nicht um A.s willen, dem ich die Lektion gönne . . . wahrhaftig nicht! Als ich zur Polizeischwadron laufe, um mir ein Pferd geben zu lassen, fällt mir A.s Frau ein, die im Dorfe Quartier genommen hat. Ich will sie warnen. Als ich zu dem Hause gehe, finde ich sie schon in den Händen der Soldaten. »Fort mit dir, alte Hure.« Es gelingt mir schließlich, sie frei zu bekommen und sie zur Polizeischwadron zu bringen.

Ich reite in gestrecktem Galopp nach Woloschin. Von dort werden die sechs in der Umgebung liegenden Kavallerieregimenter konfiguiert. Schweres Feuer dröhnt, während ich reite, von Süden herüber. Betrunkene Soldaten lungern umher, sie liegen im Straßengraben. Dazwischen sehe ich auf der Straße fremde Uniformen und fremde Gesichter. Ein großer Wagentrain, zum Teil mit Motorgefährten, kommt mir entgegen: es ist japanische Artillerie, die weiter nach Süden, nach Krewo, zur Unterstützung unseres dortigen Hauptangriffs geht. Sie sitzen wie die Bleisoldaten 42 auf ihren Plätzen, diese nachgemachten Preußen, die Chargen reiten an den vorgeschriebenen Stellen, die Offiziere erwidern meinen Gruß mit sichtlichem Hochmut. Haben wir es besser verdient, als von diesen Gelben so behandelt zu werden?

In Woloschin sind gerade die berittenen Jäger anwesend. Mit zwei Schwadronen trabe ich zurück. Aber als wir zum Divisionsstabe kommen, ist der Platz leer. Der Stab wird, wie ich erfahre, nebst A. in einem Unterstande der Neunzehner gefangengehalten, der Platz ist bedeckt mit Trümmern der Schnapsflaschen und den Konservenbüchsen, die man aus dem Kasino geraubt hat. Das Feuer der Deutschen ist eingeschlafen.

Wie ich noch überlege, erreicht mich eine Ordonnanz des Korpskommandos. Der Stab sei von den Truppen losgelassen, A. werde ebenfalls in Freiheit gesetzt werden, nachdem er seine Demission gegeben habe. Für alle Fälle behalte ich die Jäger bei mir.

Im Divisionsquartier haben die Unteroffiziere die über unseren Angriff bei Krewo eingehenden Meldungen aufgenommen. Ich lese die Nachricht, daß die Russen dort auf breiter Front die deutschen Linien überrannt hätten. Ich gehe hinaus und lausche. Tatsächlich scheint mir unser Feuer dort weiter nach Westen gerückt zu sein. Auch meldet mir eine Ordonnanz, daß auf der Minsker Straße zahlreiche deutsche Gefangene . . . lauter alte Landsturmmänner . . . zurücktransportiert würden.

Inzwischen sehe ich einzelne Gestalten aus dem Birkengehölz treten: es sind unsere Offiziere vom Stabe, die inzwischen in Freiheit gesetzt sind. Sie seien übrigens gut behandelt worden, die Neunzehner hätten ihnen versichert, daß man nur mit A. habe abrechnen wollen. A. selbst wird im Morgengrauen mit einem Bauerngefährt zurückgebracht. Seine Füße, die er sich erheblich verletzt hat, stecken in gewaltigen Filzpantoffeln. So fährt er nach Minsk zurück . . . ein ekelhaftes Jammerbild. Ich glaube, daß ihn später die 43 Bolschewiki, seiner revolutionären Gesinnung zum Trotz, erschossen haben.

Langsam schaffen wir Ordnung, die durchschnittenen Telephonleitungen werden wiederhergestellt. In regelmäßigen weiten Abständen geht eine deutsche Granate nach der anderen auf unsere Stellung nieder. Bei uns schießt man jetzt lebhaft . . . die Artillerie scheint endlich wieder im Besitze ihrer Verschlüsse zu sein! Nein . . . es ist, wie ich erfahre, die japanische Artillerie, die sich auch hier bei uns in unsere Front eingeschoben hat . . . drei alte Fesselballons, die uns die Franzosen gnädig wie abgelegte Kleider geschickt haben, stehen im Lichte der aufgehenden Sonne über der Front. Was aber sollen wir mit unserer verwahrlosten Infanterie machen?

Vom Korpsstab her kommt der Befehl, um 10 Uhr früh die Frauenbataillone einzusetzen, wenn bis dahin die männliche Infanterie nicht angetreten ist. Inzwischen unterhandeln Regimentsdeputationen: ja, sie würden angreifen unter diesen und jenen Bedingungen. Die Achtzehner verlangen Schnaps, die Neunzehner wollen angreifen, wenn der Regimentspope und die Ärzte den Sturmtrupps vorangehen würden.

Während der Stabschef mit den Leuten verhandelt, stößt so ein kleiner deutscher Aeroplan vom Himmel herab . . . gerade wie ein Habicht. Die Leute werden unruhig . . . kann man wissen, was diese Deutschen für eine neue Teufelei vorhaben? Nein, sieh mal . . . er geht auf die Fesselballons los. Er schießt einen zusammen, er geht brennend nieder. Der Deutsche wirft sich auf den zweiten . . . man sieht den Beobachter im Fallschirm zur Erde gehen . . . gerade auf den alten Drahtverhauen hinter uns landet er. Der Deutsche erledigt den dritten, ohne daß es einem von uns einfällt, etwas dagegen zu tun. ›Maladjez‹ sagen unsere Leute und lachen. »Forscher Kerl!« Das Lob gilt dem deutschen Flieger, der unsere schönen Fesselballons zerschossen hat. Unsere Flieger lungern faul in unserer Mitte herum. 44 »Was sollen wir fliegen? Die Franzosen schicken uns ja doch nur ihr verbrauchtes Zeug.«

Ein Lastautomobil mit englischen Journalisten kommt. Sie kommen vom Süden her, sie bestätigen den gestern bei Krewo erfochtenen russischen Sieg. In zwanzig Kilometer Breite sind die Deutschen fünfzehn Kilometer weit zurückgeworfen worden . . . nun soll es auch in Galizien losgehen. Die Engländer machen einen zuverlässigen Eindruck, wir glauben ihnen. Inzwischen sausen neue Lastwagen mit frischen Truppen heran. Allen Ernstes schiebt das Korpskommando gewaltige Verstärkungen in unsere meuternde Front. Es ist ein Infanterieregiment aus dem Orenburgschen, das sich zwischen die Neunzehner und die Frauenbataillone einschieben soll . . . viele Tataren sind dabei.

Ich erhalte den Auftrag, mich diesem neuen Regiment anzuschließen, den Angriff mitzumachen und zu berichten. Nun schwillt unser Artilleriefeuer gewaltig an . . . Ja, nun wird es wirklich Ernst werden. Ich begebe mich, als wir bei den Gräben ankommen, zur ersten besten Kompagnie. Der Hauptmann ist sehr pessimistisch, Er ist vor zwei Jahren bei Gorlice gewesen. »Mögen Sie es erst einmal versuchen, selbst in ihrem eigenen Feuer auszuhalten, die Deutschen . . .«

Um halb neun liegen wir in den vordersten Ausgangsgräben, zum Angriff bereit, rechts Sonjas Bataillon, links von uns, wo die Neunzehner liegen, herrscht Mord und Totschlag. Offenbar debattieren jetzt, ein paar Minuten vor dem Angriff, die Soldaten, ob sie sich beteiligen sollen oder nicht. Wir liegen unter mäßigem Feuer. Diese Orenburger, die noch nie im Gefecht waren, ducken sich wie die Kinder in die Gräben, mit großen runden Augen, sie schauen mich an, als ob ich ihnen helfen könnte. Inzwischen werde ich noch eine halbe Stunde vor dem Angriff zu den Weibern herübergerufen: ein deutscher Horchposten ist zu ihnen als Überläufer in den Graben gekrochen. Es ist ein junger Infanterist, der als Grund des Überlaufens angibt, daß sein Feldwebel ihm keine neuen Stiefel gegeben habe. Er 45 ist wütend, er ist bereit, alles auszusagen, was auszusagen ist. Gefechtsstärke, Standort der Stäbe . . . daß heute Verstärkungen erwartet werden würden. Er hat geglaubt, mit offenen Armen empfangen zu werden, er ist sehr erstaunt, daß ich so barsch mit ihm bin. Ich schicke ihn nach hinten und gehe in meinen Graben zurück.

Pünktlich um 10 Uhr klettern wir aus den Gräben. Ich sehe mich um: rechts von uns geht man wohl ebenfalls vor, es sind nicht die Neunzehner, wie mir scheint. Dagegen greift das Frauenbataillon mit beispielloser Bravour und lautem Hurra an.

Übrigens ist das deutsche Feuer schwächlich . . . ein paar Schrapnells, die man nicht sonderlich beachtet. Meine Orenburger halten sich gut, wir kommen rasch vorwärts. Wir erreichen den ersten deutschen Graben und finden ihn leer. Wir gehen sofort weiter auf die zweite Linie zu. Von der Kompagnie, bei der ich mich befinde, fehlen zwei Leute, die Fleischschüsse haben, die Stimmung ist gehoben, es ist kurz vor halb elf Uhr.

Ich berechne mir die mutmaßliche Entfernung bis zum zweiten deutschen Graben, ich ahne, daß nun das Schwerste kommt. Ich habe mir im Vorgehen den Helm abgenommen, um mir den Schweiß abzuwischen, als das deutsche Feuer über uns hereinbricht. Ich habe niemals etwas Ähnliches gesehen und will diese Hölle nie wieder erleben. Wir ersticken fast in einer Staubwolke, das Krachen der krepierenden Geschosse ist so stark, daß man meint, es reiße einem die Seele aus dem Leibe. Ich weiß, daß sie da seit dem vorigen Jahre so einen Gürtel von Sperrfeuer legen, und bringe meine Tataren in rasches Tempo. Der Hauptmann, mit dem ich vorher sprach, liegt mit aufgerissenem Leib neben mir, die Leute wimmern kläglich wie die Kinder. In diesem Augenblick höre ich ein wüstes Kreischen, das beinahe noch lauter ist als diese krepierenden Granaten, und nun sehe ich links das Frauenbataillon vom Feuer überrascht. Ich sehe sie fallen wie die Fliegen, sie werden ganz 46 entsetzlich dezimiert. Der Rest geht mit lautem hysterischen Schreien zurück, im Augenblick ist das ganze Feld hinter uns voll dieser kreischenden Frauen, die zurücklaufen.

Unwillkürlich muß ich lachen, obwohl es eigentlich eine verteufelte Situation ist. Im gleichen Augenblick wird mir der Weidenknüppel, den ich – ich weiß nicht, wieso – mir aus der russischen Stellung mitgenommen habe, aus der Hand gerissen, ich fliege beiseite und finde mich sofort halb begraben in der Erde. Gleichzeitig sehe ich die abgerissenen Glieder meiner armen Tataren in der Luft herumfliegen, und dann erst merke ich, daß es mich selbst erwischt hat: hier vorn in die Brust, meine Uniform ist im Augenblick blutüberströmt. Es riecht widerlich nach den Gasen der Granaten, daß ich mich augenblicklich übergeben muß. Dann bin ich plötzlich bewußtlos.

Ich erwache am Nachmittage, um gleich wieder einzuschlafen. Ich finde, daß ich gerade auf einem der Tataren liege, dem es den halben Kopf fortgerissen hat. Das Feuer hat nachgelassen und hat sich weiter nördlich gezogen. Um mich herum ist alles still. Ich mache vorsichtig meinen Rock, der ganz steif vom Blute ist, auf und sehe, daß es von der Seite her mir die Brustmuskeln bis auf die Rippen durchrissen hat. Ich habe mäßige Schmerzen.

In der Dunkelheit, ehe der deutsche Gegenangriff zu erwarten ist, beginne ich zurückzukriechen. Ich komme zwischen den Toten des Frauenbataillons durch . . . sie müssen wohl sehr geblutet haben. Nun ist es still und friedlich um mich. Störche klappern, und Rohrdommeln schreien . . . es wird wohl einen schönen Tag geben, am morgigen Tag für Gottes Erde. Viele tote Feldmäuse liegen hier, wo die Deutschen ihr Gas abgeblasen haben, herum, eine tote Blindschleiche und dann auch eine Schweinigelmutter, die ihre Jungen gesäugt hat. Alle sind sie tot, Mutter und Kinder. Ich bin plötzlich sehr traurig. Es ist schon 10 Uhr, als ich den ersten russischen Graben erreiche. 47

Ich irre ziemlich lange herum, bis ich auf das erste Zeichen von Leben stoße: ich höre lautes Weinen und finde eine vom Frauenbataillon, deren Geist anscheinend verwirrt ist. Ich gehe weiter und stoße schließlich in dem Verbindungsgraben auf einen Mönch und einige Sanitätssoldaten, die nach Verwundeten suchen. Ich höre, daß wir tief zurückgegangen und daß alle Stellungen, besonders in unserer südlichen Flanke, von dem deutschen Gegenstoß überrannt sind. Der Mönch gibt mir Kognak, den ich gierig trinke des brennenden Durstes wegen. Ich bin schwer betrunken, als mich ein Krankenträger nach dem Verbandplatz bringt.

Die Scheune, in der er eingerichtet ist, steckt voller Verwundeter, die Ärzte arbeiten unter dem Fluchen der Soldaten langsam genug. Von einem am Kopfe verwundeten Artilleristen höre ich, daß das Frauenbataillon aufgerieben und zum Teil gefangen sei, daß die Deutschen in ihrem korrumpierten Russisch unseren Leuten von den Gräben aus zugerufen hätten: »Russe, ich amüsiere mich mit deinen Soldatinnen . . .«

Ich trinke, um der Narkose zu entgehen, noch mehr, ich bin, als man mir aus den Brustmuskeln den Hülsensplitter eines Schrapnells herausschneidet, so betrunken, daß ich nichts merke. Ich schlafe schließlich auf dem Stroh ein. 48



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