Fritz Reck-Malleczewen
Von Räubern, Henkern und Soldaten
Fritz Reck-Malleczewen

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Im bolschewistischen Armeestab.

Fahrt nach Dünaburg. Zarenmörder. Rote Kommissare. Bolschewistische Requisitionen. Armeebefehl: »Laßt euch begraben!« Flucht vor den Weißen. Chinesen als Armeepolizei. Im roten Dünaburg. Spitzel. Särge auf Rädern. Das unterirdische Lupanar. Kommissar und Zarenhymne. Im Mordkeller der Tscheka. Chinesische Henker. Rußland schreit! Zum Brigadestab. Lettischer Sadismus. Rußland wird nicht vergessen!

Ich steige auf dem Dwinsker Bahnhof ein . . . einigermaßen seltsam nimmt sich da inmitten dieser neuen Umgebung von Straßenrednern, bolschewistischen Maiplakaten und Propagandazügen proletarischer Schuljugend dieses Denkmal aus, das man vor Jahrzehnten auf dem Bahnhofplatz errichtet hatZum Gedächtnis an die Errettung Alexanders III. bei dem großen Eisenbahnunglück von Borki.! Nun gut, augenblicklich kann man es nicht ändern: die Eisenbahnwagen der ersten und der zweiten Klasse sehen wie fahrbare Hundebuden aus, man hat die Polster abgeledert, die Türklinken gestohlen, die Zwischenwände verheizt. Ich begebe mich also in eine einfache TepluschkeViehwagen. mit Rotgardisten und SackmenschenHamsterer., ich bin leicht betrunken, aber nur leicht. Abends fahren wir ab, in der Dämmerung passieren wir Kurtenhof. Hier habe ich im letzten Jahre des Friedens mit dem Regiment der kaiserlichen Chevaliergarde gelegen . . . damals war man also Offizier im vornehmsten Regiment der kaiserlichen Garde . . . und nun bin ich Offizier im Bataillon »Karl Liebknecht« und habe mich in einer schmutzigen Tepluschke ausgestreckt, weil das Fahren in den Klassen in den Verdacht bringt, daß man ein Bourgeois ist . . . Nun gut, sehen wir, was morgen ist . . .

Sehr langsam fährt der Zug, ich liege in einem Winkel auf faulem Stroh, eine trübe Laterne brennt, es wird sehr kalt in der Nacht. Hier nun höre ich folgendes Gespräch . . . 76 ich muß bemerken, daß ich auch dies Wort für Wort in Erinnerung habe. Irgend so ein mobilisierter Rotgardist, ein Bauer aus dem Witebskschen, fängt an. »Ach ja,« sagt er, »so wird dieser Krieg denn ewig dauern . . . sei er verflucht, dieser Krieg.«

Ein zweiter: »So wird es sein, Bruder! Dich wird man totschlagen . . . an dir wird der Tod nicht vorübergehen. Im Dorfe krepieren sie vor Hunger und Kälte.«

Sie zünden, da wir alle vor Kälte zittern, ein Feuer an auf dem Holzboden des Waggons, diese Esel . . . ich sehe ihnen zu und rühre mich nicht.

Ein dritter, ein schöner Mann mit einem großen Bart, hält die Finger über das Feuer und beginnt von neuem das Gespräch: »Das ist ihr Wille, mein Täubchen . . . da kannst du den Teufel was machen, selber weißt du es ja. Wenn sie dich mobilisieren und du kommst nicht, so zerstören sie dein Haus, beleidigen deine Frau und nehmen dir das letzte Kuhchen aus dem Stall.«

Der erste: »Aus meinem Dorf sind einige junge Burschen nicht gegangen – es kamen die Roten oder die Kommunisten . . . Gott allein kann sie unterscheiden . . . haben das Dorf verbrannt und das Gut mitgenommen.«

Ein fünfter, ein junger Mensch, der neben mir in der Ecke liegt, der einzige Fabrikarbeiter unter den Bäuerlein, kommt aus seinem Winkel: »So habt ihr's auch verdient. Wollt ihr nicht die rote Arbeiterarmee unterstützen, so kommt die Bourgeoisie wieder und haut euch den Hintern voll, daß ihr die Freiheit gesehen habt!«

Alles ist still, einer seufzt halblaut: »So eine Freiheit! Zusammengebogen haben sie uns die Hörner wie beim Bock . . . man kann nicht einmal atmen.«

Und da klettert von seinem Kartoffelsack ein alter kleiner Bauer mit leuchtenden Augen . . . einer der wenigen Nichtsoldaten: »Das können wir nicht verstehen, und die Unseren daheim auch nicht, daß der Zar so wenig nach seinen Ministern schaut und so wenig Ordnung im Lande ist!« 77

Alle schauen auf von dem Feuer, das allmählich ins Brennen kommt. Wie denn, kommt der Alte da vom Monde her, daß er vom Zaren redet? Aber es ist kein Zweifel, er hat von ihm gesprochen! Der junge Arbeiter von vorhin bläst gleichgültig in die Glut . . . gleich wird er den ganzen Wagen anstecken, so prasselt es auf: »Großväterchen,« sagt er, »wie bist du doch ein dummer Kerl! Der Kaiser, die Kaiserin, die Töchter alle sind ja längst erschlagen!«

Der Bauer: »Wieso erschlagen? Dies kann ich nicht glauben, selbst der Dorfälteste hat neulich gesagt, daß es so nicht weitergehen kann und daß man eine Deputation zum Zaren schicken müsse.«

Der Junge wird ärgerlich: »Ein dummes Volk seid ihr doch . . . es lohnt nicht, euch zu lehren! Aber das wisse, mein Lieber: Euer Zar ist tot, sag' das Eurem Dorfältesten!«

Der alte Bauer, gleichmütig und sehr bestimmt: »Möglich ist es ja, daß man die Kaiserin totgeschlagen hat . . . man sagt, sie war uns fremd. Aber daß man den Kaiser totgeschlagen hat, das kann ich nicht glauben, und das kann ja auch nicht sein!«

Der Junge kramt hastig in seinem Sack: »Glaub du, was du willst. Ich bin ja selbst dabeigewesen, wie man sie in den Keller riß und sie erschossen hat . . . da . . .« Und nun hat er gefunden, was er suchte, und zeigt es herum. Da ich sein Nebenmann bin, so sehe ich es zuerst; es ist ein langer Frauenfinger . . . noch jetzt, obwohl er ganz hart ist, sieht man ihm die gute Pflege an. »In der Kiesgrube hat man sie dann hinterher verbrannt, wir haben dies und noch einiges von ihnen gefunden.«

»Von der Kaiserin selbst?« fragt einer der alten Soldaten und schlägt, wie er den Finger in die Hand nimmt, das Kreuz trotz des Sowjetsternes da an seiner Mütze.

»Von der Kaiserin oder einer der Töchter oder einer der Damen, da man welche mit ihnen zusammen totgeschossen hat. Aber daß man sie totschoß und daß eine der Frauen eine der kaiserlichen Töchter, die noch nicht tot war, mit ihrem 78 Leibe decken wollte, das habe ich mit meinen Augen gesehen . . . Nachher hat man sie alle, soweit noch Leben in ihnen war, mit Gewehren erschlagen . . . und die Kommissare liefen nachher herum und machten sich wichtig und sagten, daß sie bei der Kaiserin, als sie schon tot, aber noch warm war, angefaßt haben.«

»Das Feuer,« schreit einer, »paß doch auf!« Das Feuer steigt plötzlich, da die beiden Türen offen sind, mannshoch auf im Zugwind, die Decke beginnt zu glimmen, der ganze Waggon steht plötzlich in Flammen. »Pißt herauf, Genossen,« schreit es, »pißt herauf, wer gerade kann.«

Nun, es geschieht also nach Möglichkeit. Wir fahren gerade im Bahnhof Römershof ein. Während sie wieder vom Kaiser sprechen, schlafe ich ein. –

Morgens kommen wir in Dünaburg an. Sofort gehe ich zum Hauptstab des Armeesektors. Es ist die alte Sappeurkaserne an der Düna . . . Der Stab macht einen guten Eindruck, man meint fast im Frieden zu sein . . . man sieht gut disziplinierte Schreiber und alte Generale, nur daß niemand Achselstücke trägt. Der Chef des Stabes, bei dem ich mich melde, ist ein junger Mann, ich höre, daß er zu kaiserlichen Zeiten Oberst im Generalstab gewesen ist. »Bekennen Sie sich«, sagt er, während er in meine Papiere schaut, »zur Sowjetregierung?«

Nun denke ich im stillen: Was würdest du antworten, wenn ich dich jetzt fragen würde, ob du dich zur Sowjetregierung bekennst?

Ich schweige.

Er sieht mich an: »Ich rate Ihnen, ›ja‹ zu sagen.«

»Ja«, sage ich.

Er: »Vorzüglich. Da fahren Sie nach Rakischki und melden sich beim Stabe der zweiten Lettischen Armee!«

Rakischki, wohin ich noch am gleichen Abend abfuhr, liegt an der Strecke nach Poniwesch. Im Zuge sind außer mir rote Offiziere und Kommissare, die ihren Urlaub in Dwinsk verbracht haben und nun zur Truppe zurückkehren . . . sie 79 sprechen Russisch. Irgendwo auf einer Station wird ein Jude aufgegriffen, der sich ein paar Silberrubel in den Rock genäht hat; ich sehe, wie er an unserem Zug vorüber nach der Bahnhofswache gebracht wird. »Er hat seinen ganzen Teekessel voll Geld gestopft bei sich gehabt,« erklärte einer der mitfahrenden Offiziere . . . offenbar ist es ein Lette, der sich Mühe gibt, einen russischen Eindruck zu machen . . . »nun, die Kugel ist ihm sicher!«

Einer der Kommissare am Fensterplatz spuckt aus: »Kann es nicht verstehen, wenn man noch diese Zeremonien mit ihnen macht. Warum erschlägt man sie nicht auf der Stelle? Bei uns gab es auch einen . . . wir wußten, er mußte sein Geld versteckt haben, konnten aber nichts finden. Noch einmal kommen wir nachts in seine Wohnung, holen den Mann heraus. Das Weib im Bett heult. Wir schreien sie an: »Was heulst du, zeige uns lieber, wo er Geld und die Flinten versteckt hat . . . wenn nicht, geht's deinem Mann nicht gut.« Sie schreit: »Wir haben nichts, meine lieben Genossen . . . wir haben doch nichts.« Wir reißen die Dielen auf, zerschlagen die Spiegel, alles kehren wir mit dem Boden nach oben . . . nicht einen Schwanz finden wir. Wir nehmen ihn also mit uns . . . am Tage ließ ich ihn schlafen, in der Nacht aber, da habe ich ihn ordentlich vorgenommen mit VerhörenDas Verhören der Gefangenen bei Nacht ist eine Praxis, die die Bolschewiken von der kaiserl. russ. Polizei übernommen haben.. Da hättet ihr sehen sollen, wie ihm vor Angst die Adern schwollen . . . hier am Halse eine besonders starke Ader . . . da haute ich ihm mit der Faust herein . . . ›Bekenne, oder ich schlage dich tot wie ein Vieh.‹ Er immer weiter so: ›Ich habe ja nichts . . . nein, nein, nein.‹ . . . ›Lüg, wie es dir bequem ist‹, schrei ich ihn an, ›ich sage dir ja . . . ja . . . ja . . .‹ Die Wut überkommt mich, ich hielt's nicht mehr aus . . . ich bohre ihm das Messer in den dicken Wanst . . . hier vor meinen Füßen ist er krepiert. Am 80 andern Tag kommt das Weib: ›Lieber Genosse . . . ach, geben Sie doch meinen Mann heraus‹; da mir die Alte langweilig wird mit ihren Bitten, so sage ich ihr: ›Morgen schicke ich dir deinen Mann ins Haus‹, und schicke ihr am nächsten Tag die blutigen Kleider . . .«

Ich habe später viele Kommissare kennengelernt, so weit, daß sie sich vertraulich äußerten. Aber jeder von ihnen hatte solch eine Geschichte, wo er solch einen persönlich ausgeführten Mord bekannte, wo ein Messer und ein dicker Bauch vorkamen . . . immer wurden ihre Augen rund, wie sie es erzählten. –

Abends kommen wir nach Rakischki. Ich suche mir ein Quartier bei einem der hier wohnenden Juden. Er ist erst unfreundlich, als ich darum bitte. Als ich ihm aber sage, daß ich ein mobilisierter Offizier bin, wird er entgegenkommender. »Wo ist der Armeestab?« frage ich.

»Hier im Schloß des Grafen Tyskiewicz.«

Ich kenne dieses Schloß; im Jahre 1914 war ich hier. Ich frage nach dem Grafen. »Man hat ihn totgeschlagen und ebenso die Gräfin. Die Amme hat die Kinderchen gerettet.«

Auf meine Frage nach den Mördern sieht er mich mit seinen hoffnungslosen Augen an: »Wer . . . das weiß Gott allein. Die Weißen gingen, die Roten kamen. Den Grafen und die Gräfin fand man tot im Park.«

Wie es sich lebe am Ort, fragte ich. »Ach,« sagte er, »wie ist denn doch unser Leben, Ew. Hochwohlgeboren . . . verzeihen Sie, daß ich Sie immer noch so nenne, obwohl es verboten ist. Ach, mein Herr Offizier . . . schwer haben wir es gehabt. Aber alle haben wir doch das große gemeinsame Rußland geliebt und sein Brot gegessen. Jetzt . . .« Er hebt hoffnungslos die Hände, geht in sein Zimmer.

Am Morgen gehe ich durch den noch immer wohlgepflegten alten Park zur Meldung ins Schloß. Ein Posten in Zivil mit roter Feder am grünen Filzhute, das Gewehr am Bindfaden über dem Rücken – die Lederriemen hat man inzwischen zu anderen Zwecken verbraucht –, dazu eine 81 Freitreppe und eine Empfangshalle wie in Versailles! Ich gehe in den oberen Stock, wo das Zimmer des Stabes ist. Ich höre zwei laut gegeneinander anschreiende Männerstimmen. Ich trete ein: der Armeekommandant Oberst Andrejew schläft in einem Lehnstuhl. Der Stabschef Oberstleutnant Kupitschnikoff zankt sich mit einem jungen, auffallend eleganten Mann herum, der, wie ich später erfahre, der Stabskommissar ist. »Können Sie mir sagen,« schreit Kupitschnikoff ihn an, »wie es kommt, daß 90 Prozent aller von unseren Gerichten verurteilten Leute Angehörige Ihrer kommunistischen Partei sind?«

Der andere schweigt verlegen. Er ist ein Lette, ein ehemaliger Volksschulmeister. Ich mache meine Meldung. Kupitschnikoff, früher kaiserlicher Generalstabshauptmann, sieht in meine Papiere, fertigt mich sehr barsch ab. Er behandelt, um nicht unliebsam aufzufallen, jeden ehemaligen Kameraden so, während er die Roten mit Handschuhen anfaßt.

Ich werde in das Arbeitszimmer des Stabes geführt. Drei junge Burschen von achtzehn Jahren . . . alle drei Letten . . . stehen dort am Arbeitstisch. Man übergibt mir die Papiere der Operationsabteilung, man tut es höchst mürrisch, mit dem unverhohlenen Mißtrauen, das man dem ehemaligen Berufsoffizier entgegenbringt. Dafür beginnen diese ehemaligen Advokatenschreiber ein demonstrativ laut geführtes und mit technischen Ausdrücken reichlich gespicktes Gespräch über strategische Fragen . . . man sollte meinen, daß diese dummen Jungen soeben die Schlacht an der Brücke von Lodi gewonnen hätten . . .

Da sich nach einer halben Stunde alle drei entfernen, so bleibe ich allein mit meinen Papieren. Ich gehe auf und ab im Zimmer. Es ist ein großer Raum mit prachtvollen Stuckdecken, ein paar eingelegte Barockmöbel stehen umher . . . von einer Wand blickt mit ihren beiden Kindern die ermordete junge Gräfin herab. Nun, denke ich, von diesen Hunden, die dein Halsband trugen, wurdest du also 82 erschlagen. Aber wir werden es gerade so machen, wie sie es mit dir gemacht haben . . . so, das Messer in den Leib . . . Und ich muß an die Worte des Kommissars aus dem Zuge denken. Ich trinke viel in meinem Elend an diesem Tage. –

Ein paar Tage vergehen so. Auf hundert Werst Länge liegen wir hier so mit unseren Rotgardisten, haben die Deutschen unter Goltz, ferner antibolschewistische Polen und Litauer uns gegenüber. Dabei gleicht unsere Front eigentlich einem Idyll: Schützengräben gibt es nicht . . . man besetzt einfach die wenigen vorhandenen Gehöfte, stellt einen Posten auf das Dach und die Maschinengewehre ans Fenster, vergnügt sich drinnen mit Karten und Weibern. Schießt die Artillerie überhaupt, so schießt sie prinzipiell mit dem höchsten Visieraufsatz, um wenigstens nicht die eigenen Leute zu treffen.

Bei einem der Ritte, die ich in jenen Tagen mache, sehe ich die rote Kavallerie in kleinen Piketts die Bauerngehöfte abgrasen. Mit einiger Regelmäßigkeit ergibt sich dabei folgende Auseinandersetzung. Ein Kavallerist klopft an das Fenster: »Heda, Bauer, hast du eine Kuh?«

»Ja, meine lieben Herren . . . aber was für eine! Bloß solch ein mageres kleines Kuhchen und dabei solch große Familie . . . schont mich Armen doch!«

Der Soldat geht in den Stall: »Genug geweint! 500 Rubel ist sie wert. Kaufe sie uns ab für fünfhundert, wenn du sie behalten willst.«

Der Bauer schwört, bekreuzigt sich, er habe doch kein Geld! Er bietet aber, um sie doch zu behalten, zweihundert Rubel. Die Soldaten nehmen die zweihundert und gehen. Nach zwei Stunden ist dann ein neues Pikett da, der Handel beginnt von neuem, wieder muß der Bauer seine zweihundert bezahlen, bis er schließlich nach dem Besuch der fünften Patrouille weder eine Kuh noch einen Kopeken hat.

Ja, so ist unser Leben hier. Wir bekommen »nationalisierte Frauen« aus Samara, die für Kurzweil sorgen. Es 83 gibt ihrer in Hülle und Fülle. Jede muß je nach ihrem Alter nachweisen, daß sie zwei- bis fünfmal in der Woche einen Freiheitskämpfer mit ihrer Gunst beschenkt hat. Wir schicken zum Plündern der umliegenden großen Güter Kolonnen aus, die alles an Möbeln, Teppichen, Bildern requirieren, was noch zu finden ist. Die Kommissare, deren Privatgeschäft dies ist, schicken ganze Karawanen nach Petersburg.

Am 21. Mai werde ich aus dem Mittagsschlaf aufgeweckt. Es ist der junge lettische Hauptkommissar, der erregt um mich herumtanzt. »Was soll man nur tun . . . um Gottes willen, was soll man tun?« Jenseits des Parkes fallen, als ich ans Fenster springe, ein paar Schüsse, einige Kavalleristen jagen vorüber . . . ostwärts, in der Richtung nach Dünaburg zu. Es kostet mich einige Mühe, aus dem armen Kerl da herauszubringen, daß die Weißen unversehens angegriffen, daß sie binnen einer halben Stunde unsere Front über den Haufen geworfen haben. »Was soll man bloß tun?« fragt er noch immer.

Mit einigem Wohlbehagen erkläre ich ihm, er solle die Petersburger Generalstabsakademie besuchen, um sich Rat zu holen. Inzwischen kommt der Armeekommandant Oberst Andrejew, legt seinen dicken Bauch über den Tisch, schwankt ein wenig, erklärt, daß das Telegramm, das er uns übergibt, sofort hinausgegeben werden müsse. Ich schaue hinein, während von draußen tatsächlich einiger Geschützdonner zu hören ist. Ich lese den unvergeßlichsten aller Armeebefehle. Hier ist er.

»Begrabt euch wie die SuslikiFeldmäuse. und steckt den Kopf heraus, dann wird es euch besser gehen. Der Armeekommandant: Andrejew.«

Es ist dies die Antwort des Feldherrn auf die Frage der Abschnittskommandanten nach seinen Dispositionen. Freilich: der Feldherr ist in dieser kritischen Stunde sehr stark betrunken. Das Telegramm wird trotzdem befördert. 84

Kupitschnikoff ist vor einer halben Stunde mit dem einzigen Automobil, über das wir verfügen, an die Front gefahren. Da die Telephone, die uns mit der Front verbinden, nicht mehr antworten, so gehe ich hinaus, um zu sehen, was es gibt. Im Treppenhaus nimmt eine Kolonne die Bilder ab: ein Zeichen, daß unser Bleiben hier nicht mehr lange währen wird. Ich sehe, da niemand sich um mich kümmert, eine Weile zu. Ich bewundere den Geschmack, den die Leute bei der Auswahl der Sachen entwickeln: sie halten sich nicht etwa an Bilder, die durch ihre Größe imponieren, sie suchen mit großer Sorgfalt kleine holländische Landschaften und Teppiche aus.

Inzwischen kommt Kupitschnikoff mit seinem Automobil zurück. Wir sollen zurück, der Stab soll sich sofort mit der Bahn nach Dwinsk begeben. Während wir unsere Papiere einpacken, flutet die zurückgehende Armee vorüber. »Dreck, Huren und Pferde durcheinander . . .«, wie ein altes russisches Wort sagt. Ach, da kann man so schöne Gestalten sehen: Kavalleristen, die mit ihren Frauenzimmern in Equipagen fahren und auf die Pferde einhauen . . . Infanterie auf Kühen . . . ein Leiterwagen mit maskierten Frauenzimmern und Soldaten . . . Pierrots, Harlekins durcheinander . . . man hat gerade da vorn in irgendeinem Abschnitt eine Maskenredoute gefeiert. Ab und zu mache ich mir, als wir schon im Bahnhof unsere Lokomotive erwarten, den Spaß, einen der Flüchtlinge zu fragen, wohin er so eilig laufe. »Aida . . . nach Rußland!« ist die stereotype Antwort. Alles will zurück nach Rußland, hat den Krieg gründlich satt. Hinten donnern die Geschütze der Weißen.

Abends fünf Uhr fahren wir ab. Wir vom Stabe verlassen eigentlich als letzte den Ort. Wir fahren unsäglich langsam, wir machen keine fünf Kilometer in der Stunde mit unserer asthmatischen Lokomotive. Andrejew singt, noch immer schwer betrunken, fröhliche und kräftige Lieder, der kleine lettische Kommissar jammert noch immer über die Schlappe, die jungen Strategen aus dem Stabe sind sehr 85 kleinlaut geworden. Alle Augenblicke gibt es einen Halt: Gegenrevolutionäre Bauern haben die Schienen aufgerissen, wir müssen selbst Hand anlegen, um mit unserem Maschinchen weiterzukommen. So nähern wir uns Dwinsk.

Sieben Uhr früh ist es, und die lange Holzbrücke. die die beiden Dünaufer bei Dwinsk verbindet, ist gerade vor uns, als ich von vorne heftiges Gewehrfeuer höre. Da wir mit einem Überfall der GrünenAntibolschewistische, aus Bauern und ehemaligen Offizieren gebildete Truppen, die noch heute die Staatshoheit der Sowjets empfindlich stören. rechnen müssen, so schickt der Stabschef mich zur Erkundung nach vorn. Von einem Trainoffizier höre ich, was sich begeben hat: Das Dwinsker Festungsgouvernement hat, um die Flucht der Armee zu hemmen, die östlich der Brücke liegenden Gehöfte mit ihren chinesischen Elitetruppen besetzen lassen, das zurückgehende vierunddreißigste Regiment hat in seiner Panik die Chinesen überrannt . . . es ist gerade damit beschäftigt, die Gefangenen zu Tode zu martern. Vorwärts laufend, finde ich denn auch einen schreienden Soldatenhaufen, der sich um einen solchen Gelben drängt. Der Mann ist mit Blut überströmt, ein Auge ist ihm ausgeschlagen. Er bringt es trotzdem fertig, eine Zigarette zu rauchen, während man ihn an das Brückengeländer führt. Er wird von den wütenden Leuten hochgehoben und hinabbefördert in das gelbe Hochwasser der Düna. Nie im Leben habe ich ein höhnischeres Gesicht gesehen als das dieses Mongolen. –

Andrejew hält von der Plattform der Maschine eine Rede, die kein Mensch anhört. Im übrigen aber gelingt es diesem Eingreifen des Festungsgouvernements wirklich, die Truppen noch auf dem westlichen Dünaufer anzuhalten, so daß wenigstens die Brückenkopfstellung behauptet wird. Wir vom Armeestab beziehen am gleichen Tage unser Quartier in einem Eisenbahnwagen erster Klasse auf dem Bahnhof.

Am nächsten Morgen, als ich die wenigen Unterschriften 86 erledigt habe, kommt ein jüngerer Kavallerieoffizier zu mir in irgendeiner Pferdeangelegenheit. Er benützt die Gelegenheit, um demonstrativ auf das alte Regime zu schimpfen und sich als überzeugter Kommunist zu gebärden. Ich sage ihm auf den Kopf zu, daß es mich freue, endlich einen so überzeugten Monarchisten gefunden zu haben wie ihn. Im übrigen aber solle er gefälligst nicht so laut auf die Monarchie schimpfen. sonst erkenne ihn schließlich jeder als Zarenanhänger. Wir lachen nun beide und erkennen uns. Es ist D . . ., einst beim Gardegrenadierregiment zu Pferde . . . ein alter Kamerad vom Yalufluß und Mukden. Da ich vor der Hand nichts zu tun habe, so verabreden wir einen gemeinsamen Ritt für den Nachmittag. –

Nach dem Essen aber gehe ich zuerst einmal über den »Skwer«Bekannte Promenade in Dünaburg., seit dem September 1915, als Se. Kaiserliche Majestät in Dwinsk war, bin ich nicht hier gewesen. Ich erkenne noch den Baum, unter dem Nicolai Alexandrowitsch damals stand, klein und unscheinbar in seiner einfachen Kubankosakenuniform. Aber ich erinnere mich, wie gut damals seine Ansprache auf die Truppe gewirkt hat. Damals, als die Deutschen im Begriff waren, Dwinsk zu überrennen und die ganze Dünalinie aufzurollen, war es der Wille Sr. Majestät, persönlich als Truppenoffizier an der Verteidigung der Front teilzunehmen. Wieviel besser wäre es gewesen, wir hätten ihn damals an diesem Vorhaben nicht gehindert und unser kaiserlicher Herr hätte damals den Soldatentod gefunden!

So bummele ich über den Skwer: Generale, Offiziere in leidlichen Uniformen, Ordonnanzen . . . dazu die Militärmusik, die die historischen Märsche der alten Garderegimenter spielt . . . es ist beinahe ein Bild aus einer kaiserlich russischen Friedensgarnison. Allerdings . . . diese übertriebene Eleganz der anwesenden Frauen: in meinem Leben habe ich nicht so viel Brillanten gesehen wie an diesem Mittage auf 87 der Promenade einer proletarischen Stadt! Nun ja . . . es sind die von den Kommissaren ausgehaltenen und mit gestohlenem Schmuck behängten Weiber. Und da nachgerade jede Frau in diesem Staate zur Prostitution gezwungen ist, so gibt es eigentlich, gleichgültig, ob es sich um Offiziers-, Bürger- oder Arbeiterfrauen handelt, überhaupt keine mehr ohne die bekannte korrumpierte Dirnenphysiognomie.

Ich setze mich auf eine Bank, schaue. Ein junger Mensch spricht mich an, beginnt auf die Zeiten, die Sowjets, die Rote Armee zu schimpfen. Ich stehe auf, ohne zu antworten, gehe ein paar Bänke weiter, erlebe das gleiche mit einem fetten, alten und ganz behäbig aussehenden Bürger. Auf einer dritten, vierten, fünften Bank ergeht es mir ebenso. Es sind Spitzel der Tscheka, die auf Unvorsichtige warten. Als ich dann am Musikpavillon vorübergehe, vertritt mir an der Barriere ein kleiner stämmiger Mensch ostentativ den Weg. Da ich seine Absicht, mich zum Ausweichen zu zwingen, sofort bemerke, trete ich ihm mit aller Gewalt auf seine eleganten Lackschuhe, so daß er mir Platz macht. Ich sehe sein Gesicht: es ist ein Chinese. Und nun erst bemerke ich die Fülle von Mongolen, die sich hier auf der elegantesten Promenade der Stadt breitmachen: es sind die berühmten chinesischen Henker des Hauptkommissars Peters . . . alle in hypereleganten Uniformen, alle mit Brillantringen an den Fingern, alle mit einer Selbstgefälligkeit, die aufreizend wirkt. –

Am Nachmittag reiten wir – D. und ich – vor die Glacis. D., der nun seit vier Monaten in Dwinsk ist, erzählt mir mehr von diesen Chinesen. Es sind ehemalige Arbeiter der sibirischen Bahn, man hat sie in den elegantesten Hotels der Stadt untergebracht, man verwöhnt sie in jeder Beziehung . . . man hat sich so eine absolut zuverlässige Leibgarde geschaffen. Ach, was ist aus diesem armen Lande geworden!

Ich bin froh, die Stadt hinter mir zu haben mit ihrer Gesinnungsschnüffelei und ihrem arroganten Pöbel. Es ist 88 ja noch kalt, aber es ist doch schon Frühlingssonnenschein, und die Lerchen singen noch immer so, als wäre die Welt ein altes, grasbewachsenes Rangiergleis, und hier geschieht es, daß plötzlich mein Pferd zu schnauben beginnt und steigt. Gleichzeitig spüre ich, daß wir in eine wahre Wolke pestilenzianischen Gestankes geraten sind. Wir merken sofort, daß es Leichengeruch ist. Dem Winde entgegentretend, komme ich, während D. die Pferde hält, an eine große Kiesgrube, in die ein Gleis der Bahn hinabführt. Das Loch ist noch ganz mit altem Schnee gefüllt, und aus diesem Schnee ragen zur Hälfte der Höhe drei verwitterte Eisenbahnwagen hervor. Herantretend sehe ich durch das obere kleine Fenster, daß sie mit Leichen vollgestopft sind, die jetzt erst auftauen und in Fäulnis übergehen. Wir beeilen uns, aus dieser Pestwolke zu kommen. Auf der kleinen benachbarten Station erzählt uns dann der Chef, daß es sich um Leute handelt, die während des Winters an Flecktyphus erkrankt waren . . . man hat den Infektionsherd loswerden wollen, indem man sich der noch Lebenden auf die allereinfachste Weise entledigte. Alle Rangiergleise der Dwinsker Bahn sollen voll solcher Leichenwagen sein . . .

Am Abend essen wir dann auf dem Bahnhof. Auf dem Wege sehe ich die Chinesen durch die Stadt patrouillieren und Versprengte abfangen. Sie fassen die Leute mit einer Brutalität an, die sich kein russischer Mensch vor einem Jahre von einem Gelben hätte gefallen lassen. Im Bahnhof selbst speist die neue Gesellschaft: die üblichen Kommissare, kommunistische Parteifunktionäre, rote Krankenschwestern, denen man es sofort ansieht, daß jenes alte russische Gesetz, nach dem Prostituierte nicht zur Krankenpflege zugelassen waren, aufgehoben worden ist.

Ja, und da sitzt nun auch der rote Offizier. Meist sind es frühere Arbeiter . . . man sollte eigentlich erwarten, daß sie auch in ihrer neuen Stellung aller Erinnerungen an die alte Uniform sich enthielten. Nun . . . sie tragen alle englische Reithosen, sie paradieren alle, auch wenn sie 89 hoffnungslose Infanteristen sind und nie auf einem Pferd gesessen haben, mit riesigen Anschnallsporen wie Kürassiere, alle tragen den gewaltigen Kavallerieschleppsäbel. Man sollte meinen, im Kasino eines Reiterregiments zu sein.

Die üblichen TatarenIn Rußland mit Vorliebe als Kellner verwendet, weil sie als Mohammedaner keinen Alkohol trinken dürfen und ihn so auch nicht in dem landesüblichen Maße stehlen. bedienen . . . man sagt nicht mehr »Mensch« zu ihnen, sondern »Genosse« . . . das Essen ist vorzüglich, der Schnaps ist sündhaft teuer und sündhaft schlecht. Einmal betritt eine chinesische Patrouille den Raum, sucht ihn nach Deserteuren ab. Aus der Ecke hören wir einen Ruf: »Ach, ihr Teufel mit euren schiefen Augen, seid ihr wieder da?« Irgendwo wird so ein uniformiertes Bäuerlein von den Gelben abgeführt. Jeder nimmt es wie ein unabänderliches Schicksal. –

Als wir gehen, kriecht aus dem Dunkel des Bahnsteiges ein alter Jude heran: »Meine Herren Genossen . . . wenn Sie Geld haben . . . ich kann zeigen, wo es lustig hergeht und wo man trinken kann.«

Wir lachen: »Gut, führe uns, aber betrüge uns nicht.«

Wir folgen ihm. Durch die ganze nach der Moskauer Seite sich erstreckende Vorstadt, an langen Bretterzäunen und Schuppen vorüber, ein paar Werst weit. »Du hast uns betrogen . . . wir hängen dich auf!« Der Jude windet und dreht sich: »Gleich, meine Herren . . . gleich sind wir da.«

Wir sehen uns um. Wie, hält er uns zum Narren? Wir stehen da vor den Ruinen eines großen, wohl von den Deutschen noch zusammengeschossenen Hauses . . . nur die Brandmauern stehen noch, und der Mond bescheint einen Kachelofen, der da hoch oben im vierten Stock noch an der bröckeligen Wand klebt.

Der Jude setzt sich auf den Kaftan . . . »Hier, bitte, kommen Sie nur.« Damit verschwindet er vor unseren Augen, 90 indem er in ein Erdloch hinabrutscht. Wir folgen, nachdem wir unsere Pistolen entsichert haben, rutschen über Geröll und Schutt drei Meter hinab, finden uns wieder in den Kellern des Hauses, in einem langen Gang, an dessen beiden Seiten kleine gemauerte Abteilungen im Lichte einer qualmenden Petroleumlampe sichtbar werden. Bei jedem dieser Abteile hat man den Eingang durch eine alte Pferdedecke verhängt . . . da aber der kalte Nachtwind gegen diese Lumpen bläst, so können wir recht deutlich sehen, was sich da vollzieht: in diesen kleinen Räumen, in denen die früheren Bewohner ihre Kartoffeln verwahrt haben mögen . . . auf Holzpritschen, auf elendem faulen Stroh, zwischen diesen triefendnassen Wänden liegen Menschen . . . in einer Stellung liegen sie da, die einen Zweifel an der Bestimmung des Lokales nicht mehr gestattet. Soldaten, Arbeiter . . . ältliche Prostituierte mit grauen Haaren und Gesichtern, die in irgendeiner Prügelei blau geschlagen sind . . . vor aller Augen feiert man Orgien in Feuchtigkeit, Kälte, Schmutz.

Am Ende des Ganges ist eine große Höhle. Eine grüne Papierlaterne brennt, man erkennt die Aufschrift: »Für Offiziere.« Die Exklusivität hat sich hierher in dieses unterirdische Bordell geflüchtet. Der Raum ist nicht einmal so ungemütlich. Es gibt Tische und Bänke, es gibt sogar ein paar gestohlene Teppiche, in der Ecke sitzen zwei Brigadekommissare, die mit ein paar alten Offizieren zechen. Die Kommissare bezahlen, sie leisten es sich, mit den Repräsentanten des alten Rußland zu trinken wie mit Stalljungen.

Nun, wir setzen uns also. Es gibt alles, was das Herz begehrt: französischen Champagner, einen Kognak, wie ich ihn selten getrunken habe . . . es ist ja alles sündhaft teuer, dafür aber von ausgezeichneter Beschaffenheit.

Nach einer Stunde kommen die Kommissare an unseren Tisch. Es sind brave Bauern aus dem Tambowschen . . . man kann gut reden mit ihnen, es gefällt ihnen sichtlich, sich in der Gesellschaft von Herren zu betrinken. Dann erscheinen auch diese abscheulichen alten Weiber, grauhaarig, 91 käseweiß die Gesichter, mit Lumpen die Gelenke umwickelt der rheumatischen Schmerzen wegen, die sie sich in der feuchten Kellerluft zugezogen haben. Der Preis, den sie verlangen, ist ein Stück Brot oder ein faustgroßer Zuckerwürfel . . . Trotzdem ist man schon so elend, daß es in dieser Umgebung zu einer scharfen Zecherei kommt. Schließlich sind wir alle betrunken, schimpfen . . . rote Kommissare und zaristische Offiziere Arm in Arm . . . auf die Roten, fangen alle an, die Zarenhymne zu brüllen. Ja, ja . . . auch die Kommissare singen »Gott sei des Kaisers Schutz« . . . Am Morgen klettern wir zur Oberwelt empor mit dem Gefühl, daß man in der Unterwelt toleranter sei als hier oben.

Der Brückenkopf, den wir nun besetzt haben, soll unter allen Umständen gehalten werden. Um elf Uhr kommt Kupitschnikoff mit einem der Festungskommissare, so einem neunzehnjährigen Friseur in eigelben englischen Reithosen. Ich erhalte den Befehl, mich in die Zitadelle zu begeben und dort für das Armeekommando die Pläne des Dünaburger Festungsrayons zu kopieren. Der Friseur geht. Ich sehe, wie dieser grüngelbe Bengel auf dem Bahnsteig einen Schreiber, der ihm versehentlich in den Weg läuft, mit der Reitpeitsche prügelt. Wieder denke ich an das Messer der Kommissare aus dem Zug . . . an das »Messer in den Bauch«, an das Bild der Gräfin Tyskiewicz . . . aber noch komme ich mit meinen Gedanken nicht so weit, wie ich mit ihnen ein paar Tage später komme . . .

Ich begebe mich in die Zitadelle zum Hauptkommissar des Festungsrayons. Er heißt PetersDie Berliner Polizei kennt diesen Peters sehr genau. Er sollte im Februar 1924 verhaftet werden, weil er dringend verdächtig des Mordes an einem Berliner Barbier war, der kommunistische Parteigeheimnisse verraten hatte und der kommunistischen Feme zum Opfer gefallen war., ist ein Lette mit dem blonden Kinnbart und den wässerigen Augen seines Volkes, ich stehe dem blutdürstigsten der Dwinsker Mörder 92 gegenüber. Unsere Unterhaltung ist kurz und beschränkt sich auf das Notwendigste. Ich erhalte in der Zitadelle ein Bureau mit gut aussehenden Schreibern und Zeichnern und ein Schlafzimmer angewiesen. Dann übergibt mir Peters ein Paket mit den Dwinsker Plänen . . . ich bin im Besitz aller Armeegeheimnisse . . .

Am Nachmittage gehe ich durch die Festungsanlagen. Die zaristischen Embleme sind verschwunden, die Forts sind umgetauft. Es gibt ein Fort »Lenin«, ein Fort »Karl Marx«, ein Fort »Liebknecht«, versteht sich. Auch die Garnisonkirche besichtige ich. Man hat seinerzeit den Popen weggeschleppt und in die Düna befördert . . . das Christusbild über dem Altar hat als Zielscheibe gedient und ist jämmerlich zerschossen.

An dem nach der Düna zu gelegenen Kavalier, an dem die Petersburger Bahn vorüberführt, fallen mir starke chinesische Wachen auf. Da ich mit dem Petersschen Erlaubnisschein alle Räume betreten darf, so verschaffe ich mir Zutritt. In dem Dujourzimmer des Kavaliers finde ich einen alten Sappeurunteroffizier, der mir Aufklärung gibt: Im Kavalier, in den sich anschließenden Kasematten befindet sich der Hinrichtungsraum der Petersschen Tscheka . . . gegenwärtig warten 98 Mann vom 34. Regiment, das neulich beim Rückzug die Chinesen in die Düna geworfen hat, in Seitenräumen auf ihre Aburteilung.

Während ich mich zu dem zu den Räumen führenden Gang führen lasse, bringt man den Gefangenen das Essen: ich sehe große, schmierige Kübel . . . in der auf zehn Schritt stinkenden Brühe schwimmen neben den obligaten faulen Kartoffeln Pferdenüstern und Pferdeohren, die man, wie sie sind, mit den Haaren gekocht hat. Alles Fleisch ist völlig verfault . . . es ist die übliche Technik der Tscheka, auch auf diesem Wege ihre Opfer zu martern.

Ein Pesthauch schlägt mir entgegen, als ich die Keller betrete . . . Leichen und Blutgeruch. In diesem Loch, dessen Wände von Kugelschüssen durchsetzt sind, hocken und liegen 93 die Gefangenen: fast alle sind vollkommen apathisch, obwohl sie erst seit zwei Tagen hier sitzen, nur ab und zu richtet sich solch ein hoffnungsvoller Blick auf mich, als brächte ich die Rettung. »Ew. Hochwohlgeboren . . . wie soll man uns erschießen, da wir nicht einmal dabei waren . . .?« Ich gehe weiter. Ich sehe die Wände: in der feuchten Luft ist das Blut der früher hier Erschossenen noch nicht getrocknet . . . die Kasematten, in denen man die Leichen, wie mir der Unteroffizier berichtet, oft wochenlang hat liegenlassen, haben den Verwesungsgeruch nicht mehr losgelassen. Während ich den Raum verlasse, erzählt mir der Sappeur, der offenbar in mir den zum Dienst bei den Roten gepreßten alten Offizier erkennt, daß die Gefangenen nicht einmal überführt seien, daß Peters vielmehr innerhalb des an der Ersäufung der Chinesen schuldigen 34. Regiments jeden zehnten Mann, schuldig oder nicht, das Todeslos habe ziehen lassen.

Am nächsten Tage, als ich im Bureau gerade den Plan eines von mir zu kopierenden Westforts durchsehe, fällt mir in der Ecke des Papiers eine Kritzelei auf, so ein paar französische Worte. In der Ecke steht die offensichtlich an mich gerichtete Warnung: »Hüte dich vor Peters!« Während ich es lese, höre ich Schritte hinter mir. Gerade hinter mir steht dieser lettische Henker mit seinen wässerigen, stechenden Augen, beginnt mit mir ein Gespräch über den Stand meiner Arbeiten. Schließlich bin ich ebenso kaltblütig wie andere Menschen. Dies hier ist für mich im ganzen Kriege der Augenblick des tiefsten Schreckens gewesen . . . ich habe das Gefühl, daß der Tod selbst mit mir spricht. Wir beenden unser Gespräch übrigens ganz ruhig und sachlich, obwohl ich fühle, wie er mich im geheimen beobachtet. Wer mir diese geheimnisvolle Warnung auf das Papier gekritzelt hat und an was für einer Falle ich in jenen Tagen vorübergegangen bin, ohne es zu ahnen, habe ich nie erfahren.

Am dritten Tage in aller Frühe marschiert ein chinesisches Pikett an meinen Fenstern vorüber nach der Dünaseite der 94 Zitadelle. Da ich ahne, was hier geschehen wird, so schließe ich mich an. Wirklich sehe ich in dem Zugang die Gefangenen warten . . . Chinesenwachen an allen Ecken . . . Mauern sind rechts, Mauern links von dieser armen Schafherde und hinter ihr. Gerade ist der Befehl zum Ausziehen gegeben, man will die kostbaren Uniformen, die Beute der Chinesen, offenbar schonen. Während diese armen Kerle mit zitternden Händen die Kleider sich abstreifen, höre ich sie singen . . . sie singen das Otscvhe naschVaterunser. . . . sie haben ihre kleinen Kreuze in den Händen und manche wohl auch den Rosenkranz. So stellen sie sich an die Wand. Als die Aufstellung beendet ist, erscheinen drei Chinesen mit einem Maschinengewehr, ein Pikett von etwa hundert Mann sperrt die Kehle des Werkes ab. Ich beobachte die Gesichter der Delinquenten genau. Die Mehrzahl verharrt in ihrer Andacht; sie singen und beten inbrünstig, ohne sonderliches Zeichen einer Todesfurcht. Andere spielen die Zyniker, sie werfen die Mütze hoch, schreien »Hurra« und werfen ihre Zigarettenstummel nach den Chinesen. Sowie aber der Ladestreifen in das Maschinengewehr eingeführt ist, scheinen . . . das dauert den Bruchteil einer Sekunde . . . alle diese Menschen in der Stellung, die sie gerade einnahmen, zu erstarren, die Gesichter sind einen Augenblick wie gefroren. Der eine grinst . . . der andere harrt mit betendem Munde . . . aber plötzlich sind diese Lippen, diese Hände festgebannt in ihrer Stellung . . . es ist, als ob da ein Wachsfigurenkabinett mir gegenübersteht.

Das dauert nur einen Augenblick. Und dann stürzen sich mit einemmal vierzig, fünfzig von diesen armen Opfern auf die Chinesen, sie laufen auf diese drei Mongolen zu, die um das Maschinengewehr knien . . . es sieht wahrhaftig so aus, als ob sie sie überrennen würden. Im gleichen Augenblick beginnt das Maschinengewehr zu rasen, ich sehe, 95 wie schnell der Lauf die Linie abstreut. Gleichzeitig feuert auch das Pikett blindlings in die heranlaufenden Massen hinein, es gibt in dem engen Hofe ein ohrenbetäubendes Getöse, über dem man alle anderen Eindrücke, auch die des Auges, vergißt.

Dann schweigt das Feuer, und nun erst kann man wieder sehen: dort im Hintergrunde liegen diese 98 Menschen zu einem zuckenden, blutigen, fluchenden Haufen zerstampft! Gellendes Geschrei der Verwundeten ist zu hören. Da in der Eile des Augenblicks nicht gezielt worden ist, so ist höchstens ein Drittel tot, der Rest richtet sich zur Hälfte auf mit zerschossenen Armen und Rümpfen, droht zu den Henkern herüber, flucht, betet und schreit, schreit, so wie ich Menschen nie habe schreien hören.

Die Chinesen stürzen sich auf sie, reißen die Pistolen aus den Futteralen und erledigen sie auf ihre Weise, vergessen auch nicht, den armen Bäuerlein da die silbernen Eheringe von den Fingern zu reißen. Eine Infanteriekompagnie, eine russische, kommt vorüber, als alles vorbei ist. Die Leute sehen finster auf das, was von allem Grauen übriggeblieben ist. Die Chinesen, stolz auf ihr Werk, drohen russischen Menschen hinüber. »Moi twoi puck dwadtzatj rublejKorrumpiertes Russisch. Ich erschieße dich für 20 Rubel.!« schreien sie ihnen mit ihren hohen Eunuchenstimmen in ihrem Papageienrussisch zu. Am Nachmittag treffe ich diese Henker wieder, wie sie, Frauenzimmer am Arm, die Pistolen im Gurt, Brillanten an den Fingern, animiert durch den Skwer schlendern. Nun, wie ist es, wird Rußland es diesen schiefäugigen Gorillas vergessen, was sie im Mai 1919 an Rußland getan haben?

Was diese Szene anbetrifft . . . bin ich nicht Zeuge so vieler Roheiten in diesem Kriege gewesen . . . habe ich nicht so viele Exekutionen angesehen, ohne so erschüttert zu sein? Nun, weswegen kann ich dieses Geschrei dieser Leute vom 34. roten Regiment nicht vergessen?96

Weswegen nicht? Ich weiß wohl, weswegen nicht! Ich will es sagen, weswegen: Es war nicht der Bauer Pawel Alexandrowitsch oder der Kleinbürger Ilja Iljitsch, die so schrien . . . es war das große gemeinsame Rußland, das so schrie. So werde ich es hören, bis über den Jammer dieser Erde die Erlösung gekommen ist!

Nach vier Tagen Kopierarbeit begebe ich mich in den Divisionsstab zurück. Der Oberkommandant Andrejew ist abgesetzt, seine volkstümlichen Redensarten haben ihm ebensowenig geholfen wie seinerzeit A. Als ich mein Paket an den Stabschef Kupitschnikoff abgegeben habe und in mein Abteil zurück will, stellt mich vor dem Coupé einer unserer »Stabsoffiziere«, einer von diesen achtzehnjährigen Lümmeln: »Laut Divisionsbefehl, Genosse, haben Sie Ihre Stelle zu verlassen und mir zu übergeben.« Dieses Gesicht mit den zahllosen Hautunreinlichkeiten und dieser arrogante Ton schicken mir die Wut in den Hals. »Wenn Kupitschnikoff«, sage ich, »mir einen Befehl zu geben hat, so wird er ihn mir jedenfalls auf eine andere Weise zukommen lassen als durch Sie, der Sie eine dreckige Laus sind.« Er wird totenblaß, wirft sich in Front. Ich haue ihm eine aufs Maul. Er entfernt sich, stottert vor Wut, kommt nach einer halben Stunde mit dem von Kupitschnikoff unterzeichneten Befehl wieder.

Gut, wieder einmal also . . . zum wievielten Male in diesem Kriege? . . . heißt es für mich, ein anderes Pferd satteln! Als ich mich bei Kupitschnikoff abmelde, sage ich ihm: »Ich bin nicht gekommen, um von Ihnen Abschied zu nehmen, auch nicht, um Ihnen für die Befreiung aus dieser Umgebung zu danken. Aber das will ich Ihnen sagen, daß ich eine solche Behandlung eines alten Kameraden Ihnen nie vergessen werde.«

Er wird dunkelrot. Er schämt sich im stillen seiner Stellung unter diesem Gesindel, und es ist eben Scham gewesen, was er hinter seiner Barschheit von jeher verborgen hat. 97

Gut, auf dem Trödelmarkt unter Fischweibern, Eckenstehern, Bauern verkaufe ich beim Handelsjuden meine letzten Seidenhemden, die ich noch vom mandschurischen Feldzug her habe und die mir den ganzen Krieg über gedient haben. Nun habe ich überhaupt keine Wäsche mehr, ich trage die verfaulte Uniform direkt auf dem Leibe, und das Ungeziefer kann nicht mehr gebändigt werden. So weit ist es mit einem Offizier der kaiserlichen Garde gekommen . . .

Da ich nun auch kein Pferd mehr habe, so begebe ich mich zu Fuß nach dem Standorte des zweiten Brigadestabes. In einem Birkenwäldchen an der Rigaer Bahnstrecke zeigt man mir einen sehr schoflen Eisenbahnwagen. Das ist das Standquartier . . . Soldaten der Stabswache liegen im Grase daneben und spielen Karten. Ich treffe auch den Stabschef, es ist ein Este namens Karo, ein ehemaliger Kapitän aus kaiserlichen Zeiten. Er lacht, als ich ihm erzähle, wie man mich hinausgeschmissen hat und was ich denen in der Division gesagt habe. »Endlich einmal«, sagt er, »haben sie das richtige Wort zu hören bekommen.«

Als ich nach dem Kommandeur frage, zeigt man mir einen langen Menschen, der auf dem Bahnsteig promeniert. Als er sich umdreht, erkenne ich T. von den Gardehusaren, den elegantesten und reichsten Offizier der kaiserlichen Gardekavallerie. Zum roten Brigadekommandeur ist er nun befördert, aber auch heute noch ist er so elegant und fröhlich wie früher. Er lacht mich aus, als er mich erkennt: »Ach, mein Lieber . . . ach, was bist du doch für ein roter Offizier, was bist du doch für ein guter Kommunist geworden!« Er hat sein Vermögen, seine Güter verloren, er lacht trotzdem die Welt aus: »Was braucht ein Soldat auch Geld zu haben?«

Er schenkt mir von seiner eleganten Wäsche, er stattet mich aus wie einen Junker. Und immer wieder lacht er darüber, daß er gerade mich, den er offenbar für einen hartgesottenen Reaktionär hält, als roten Offizier angetroffen 98 hat. »Nein, was du doch für ein Bolschewik bist . . . solch ein wahrer Robespierre . . .«

Hier stehen wir auf sechs Kilometer Breite in der Brückenkopfstellung westlich der Düna weißen Litauern gegenüber, in loser Fühlung mit ihnen. Ich bekomme die Rekognoszierungsabteilung, und als ihrem Chef liegt es mir ob. die Gefangenen zu verhören, die wir in spärlichen Vorpostengefechten machen. Für mich allein darf ich das freilich nicht tun, immer muß einer der Kommissare zugegen sein.

Wir haben deren fünf im Stabe: drei Russen, zwei Letten. Die Russen sind Fabrikarbeiter, nette, ruhige Leute, die keinem Menschen etwas Böses tun. Sie interessieren sich eigentlich mehr für die publizistische und propagandistische Seite ihrer Mission, sie lesen den Soldaten Dostojewski vor, sie geben ihnen politischen Unterricht etwa von folgender Art: »Was also ist Rußland nun? – Eine Republik, ein ›resh publika‹.« Da die Soldaten zuerst wörtlich das Wort »resh publika« mit dem fatalen Doppelsinn »Schlachte das Publikum« übersetzen, so haben die Kommissare Mühe, sie aufzuklären, und gewöhnlich endet dieser politische Unterricht damit, daß die Soldaten erklären: »Wir sind nun eine Republik mit einem Zaren an der Spitze.« Denn nicht nur in der Vorstellung jenes Bäuerleins aus dem Dwinsker Zuge regiert der Zar auch in diesen Zeiten unentwegt weiter!

Nun aber die Letten! Beide sind sie Volksschullehrer, halbgebildete Burschen mit dem üblichen Dünkel und einem Blutdurst, wie ihn eben nur ein Lette aufbringt. Bei uns zuerst wird jenes Prinzip eingeführt, daß alle ehemaligen kaiserlichen Offiziere, wenn man sie zum Dienst in der Roten Armee preßt, die Adresse ihrer Angehörigen angeben müssen. Läufst du über, weil du diesen Dienst haßt, so schleppen sie dir die Angehörigen ins Gefängnis, vergewaltigen deine Schwester, zerreißen deine Eltern in ihren Blutkellern. Kehrst du als Fliegeroffizier nicht zurück, sei es auch nur, weil deine Maschine defekt geworden ist, so wird hinter dir die ganze Flugstaffel erschossen. Es waren Letten, die 99 dieses Prinzip eingeführt haben. Rußland wird es nicht vergessen . . .

Nun geschieht es am zweiten Tage meines Dienstes, daß eines unserer Regimenter Gefangene einbringt . . . dreizehn Litauer und zwei Russen. Ich gehe zum Verhör. Ich nehme mir die beiden Kommissare und einen lettischen »Kommunistenaspiranten«Der Eintritt in die Kommunistische Partei Rußlands setzte damals eine Probezeit von sechs Monaten nach erfolgter Anmeldung voraus. Der Kandidat wurde aufgenommen, wenn er in dieser Zeit Proben seiner einwandfreien kommunistischen Gesinnung gab. PutninPutnin . . . lettisch = Vögelchen., der sich aber, um seinen lettischen Namen zu russifizieren, Putjin schreibt, mit. Die Gefangenen sind ruhige, anständig gekleidete Leute von guter Haltung . . . ach Gott, sie kennen ja ihr Schicksal noch nicht! Sie geben auf die Fragen alle an, von der Leitung der Weißen Armee zwangsweise eingezogen zu sein, was unser »Vögelchen« zu allerhand hämischen Bemerkungen veranlaßt. »Stellt euch auf!« Er läßt die 15 Leute in einer Reihe antreten und die Hände ausstrecken. Nun geht er an dieser Front vorüber und tastet die Handflächen der Leute ab. Wer Schwielen an den Händen hat und somit Arbeiter ist, tritt rechts, wer die weichen Hände eines Bürgers hat, tritt links heraus. »Lubitj«Erschießen. . . . Das Hinrichtungskommando steht schon bereit. Neun Mann, die ohne Schwielen an den Händen befunden wurden, werden in den nahen Birkenwald abgeführt. Sie marschieren ab, sie sind totenblaß, bleiben aber bei ihrer guten Soldatenhaltung. Sie werden an Bäume gebunden, sie winden sich, kurz ehe der Feuerbefehl gegeben wird, verzweifelt hin und her, als wollten sie sich der Fesseln entledigen. Aber sie sterben ohne Schrei . . .

Als ich, der ich auf das Urteil des Kommissars keinen Einfluß habe, warte, steht unser Lettvögelchen Putnin vor den übriggebliebenen sechs Leuten, er hat sich die beiden Russen 100 herausgesucht, er hat Schaum vor dem Munde, er kann kaum reden vor Wut. »Hier,« schreit er mich an, »hier sind zwei Genossen, die ich kenne . . . sie haben früher bei uns gestanden, nun sind sie bei den Weißen gewesen . . . Sie werden sie erschießen lassen.«

Ich sehe ihm sofort an, daß er lügt . . . kein Überläufer wird so töricht sein, in einen Truppenteil einzutreten, der seiner alten Formation gegenüberliegt. »Ich habe«, sage ich dem Letten ruhig, »die Leute ordnungsgemäß verhört . . . die Kommissare haben geurteilt und sie freigesprochen. Ich dulde nicht, daß Sie, der Sie kein Kommissar sind, ihnen etwas tun. Ich dulde es um so weniger, als die Gefangenen russische Leute und Sie doch nur ein dreckiger Lette sind.«

Bei den letzten Worten übermannt mich die Wut, die Funken spritzen mir aus den Augen, ich weiß nicht mehr, was ich tue. Putnin torkelt, als ich so blaß werde, ein paar Schritte zurück, er geht wie ein geprügelter Hund, er weiß, daß es nicht ratsam ist, in Gegenwart der herumstehenden russischen Soldaten jetzt etwas gegen die beiden Leute zu unternehmen. Ich sehe, wie die beiden Gefangenen mich mit dankbarem Blick streifen. Hätte ich sie doch damals sofort in Sicherheit gebracht!

Nun, aber der Brigadekommandeur T. schickt mich gerade an diesem Abend mit irgendeiner Beschwerde nach Dwinsk . . . ich habe bis zum übernächsten Abend auf einem der dortigen Depots zu tun. Es ist fast zwölf Uhr nachts, als ich zurück bin . . . todmüde bin ich. Als ich mich niederlegen will, höre ich vom Birkenwalde her ein lautes Kreischen, das ich zuerst für ein Katzenkonzert halte, bis es in ein entsetzliches Heulen übergeht. Ich merke sofort, daß es Menschen in tiefster Qual sind, die so schreien. Sofort gehe ich hinüber. Ich finde vier Sappeure und bei ihnen diese beiden gefangenen Russen von vor zwei Tagen. Sie liegen gefesselt am Boden, sie brüllen vor Schmerzen und winden sich. Es erweist sich, daß Putnin sie auf seine Weise behandelt hat: er hat sie fesseln und jedem einen zwanzig 101 Zentimeter langen Holzpflock in den After treiben lassen . . . die Sappeure erzählen, daß Herr Putnin diese Methode bei allen Gefangenen anwende, die er ohne Zeugen in seine Hände bekäme, und daß er zu diesem Zwecke ein ganzes Musterlager solcher Holzpflöcke mit sich führe. Er lasse seine Opfer so liegen, bis sie aufgetriebene Bäuche hätten, und lasse sie dann sich dem Tode entgegenquälen.

Ich gebe den beiden Leuten den Fangschuß und laufe sofort in das Standquartier zurück. Karo, der Stabschef, zuckt die Achseln, T. selbst ist nicht da. Der Brigadearzt krümmt den Buckel und kann auch nichts machen, und die sechs übrigen Stabsoffiziere sind längst stumpf geworden durch die Kette von Demütigung und Roheit. Als ich Herrn Putnin suche, um ihm . . . hätte Gott mir ihn damals doch geschenkt! . . . die gleiche Prozedur angedeihen zu lassen, ist er nicht zu finden. Er ist fort. Er hat ein Kommando . . .

Es ist schon ein großer Unsinn, wenn man das eine Volk gut und das andere schlecht nennt: Gott hat keine Unterschiede gemacht. Und bei den Weißen drüben haben sie, wie ich mich dann überzeugt habe, den Krieg auch nicht gerade mit Konfektschachteln geführt. Aber was der Roheit zu viel ist, das soll nun einmal zu viel genannt sein! Ich kenne den Letten von meiner Dienstzeit in Riga her, ich kenne ihn von der Zeit her, wo ich nach der Revolution 1905 mit unserem Petersburger Regiment in den baltischen Provinzen gelegen habe. Die alte lettische Generation ist gesund, sie ist treu, opferwillig, gutmütig. Aber diese junge Generation hat verfaulte Seelen . . . sie ist der böse Geist Rußlands und Europas. Die bestialischen Morde an russischen Soldaten im Baltikum, von Jungletten verübt, waren die hohe Schule für die Henkerkünste der Bolschewiken und der Weißen Armee. Von den sechsunddreißig Zarenmördern waren 35 Letten; wo in der Roten Armee ein Kommissar als Teufel bekannt war, war es ein Lette. Rußland wird nicht vergessen! 102

Bin ich nicht ein russischer Mann, der die Seele seines Volkes kennt, und sollen mich die westlichen Zeitungsschreiber über Rußland belehren, mich, der ich aufgewachsen bin mit dem russischen Menschen, Not und Glück mit ihm geteilt habe? Ja, das sage ich: Nie wird Rußland vergessen! Ob rot oder nicht rot: es wird das Blut der von den Letten geschlachteten Brüder nicht vergessen!

Denn das weiß ich schon: daß es gegen den Teufel nur eines gibt: Vernichtung. Und das sehe ich denn kommen, daß einmal dieses große russische Volk den Arm heben wird gegen seine Peiniger in einem einzigen Kreuzzug. Dann wehe auch dem Mörder dieser russischen Menschen, seinen Kindern noch und Enkeln! – 103



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