Fritz Reck-Malleczewen
Von Räubern, Henkern und Soldaten
Fritz Reck-Malleczewen

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Der Ausbruch des Feuers

Schlachtenlärm im Telephon. Das Geheimpaket. Was wird aus Rußland? Persönliche Erinnerung an Nicolai II. Erste Begegnung mit der Revolution. Die Niederlage am Stochod. Wie soll man weiterleben in solchem Rußland?

Seit dem November 1916 bin ich nun Ordonnanzoffizier bei der x-ten Schützenbrigade, trage aber meine alte Ulanenuniform noch immer. Wir vom Divisionsstabe liegen in den Birkenhütten, die seinerzeit, ehe wir die Stellung genommen haben, die Österreicher gebaut haben . . . Wir haben es nicht allzu schlecht. Wir haben unsere vier Schützenregimenter drüben in der Brückenkopfstellung auf dem anderen Stochodufer, acht hölzerne Brücken führen hinüber, jede ist an die zwei Kilometer lang der Sümpfe wegen, die das Vorflutgelände des Stochod bilden.

Unseren vier Regimentern gegenüber ist die österreichisch-deutsche Fuge. Solange uns die österreichischen Dragoner gegenüberstanden, hatten wir bei der allgemeinen Frontruhe es besonders gut. Wir trafen uns mit den österreichischen Offizieren oft in dem Sumpfgelände des Stromes und haben im vergangenen Herbst manche gemeinsame Entenjagd veranstaltet. Nun sind da drüben deutsche Landsturmbataillone eingezogen, und die tüchtigen deutschen Generale haben den gemeinsamen Jagden bald ein Ende gemacht. Wozu eigentlich? Kann man sich nicht begegnen, wenn man nicht gerade kämpft? Der Teufel hole diese nationalistische Verbitterung dieses Krieges. Es wird nichts Gutes dabei herauskommen!

Der Teufel hole diesen verfluchten Winter, der kein Ende nehmen will. Seit Wochen schon will der Schnee nicht schmelzen, unsere Leute drüben haben Skorbut von dem ewigen Salzfleisch. Die Deutschen freilich sollen noch mehr hungern, wie man uns sagt . . .

Hier also überrascht sie uns, diese Petersburger 12 Revolution! Dunkle Gerüchte über Meutereien in den Moskauer und den Petersburger Ersatzregimentern laufen nun schon seit Wochen, ich möchte sagen, seit Rasputins Ermordung um. Aber kein Mensch weiß irgend etwas Sicheres. Es ist auffallend,. daß sie uns seit zwei Tagen schon keine Zeitungen geschickt haben. Was soll man da machen?

Unser Divisionsgeneral Taranowski ist auf Urlaub. Er ist in England erzogen, er ist ein vornehmer Mann, er ist gleichmäßig beliebt bei Soldaten und bei Offizieren. Nun haben wir zu seiner Vertretung diesen alten tauben Papa Lewicki, der immer ein Hörrohr wie eine Klarinette bei sich trägt und jeden Morgen in den Wald schleicht, um aus einer angebohrten Birke Baumsaft zu trinken und so seine gewohnte Karlsbader Kur zu ersetzen. Noch vor wenigen Wochen ist mit diesem tauben General Lewicki folgende Geschichte passiert: Wieder einmal wollte er einen neuen Orden haben . . . ich glaube den Wladimir am Halse. Er mußte also, um seine Verdienste berichten zu können, ein Gefecht inszenieren, eine gewaltsame Erkundung über den Stochod hinweg. Er gab also die Befehle zum Einsetzen der Division an mich. Kaum hört der Stabschef davon, so wirft er alles um: »Der alte Esel . . . er wird ja doch nur Dummheiten machen!« Und er weist mich an, dem General Lewicki zu melden, daß alle Gefechtsbefehle ausgegeben, daß die gewaltsame Erkundung in vollem Gange sei. Da Lewicki selbst nichts hören kann, so werde ich ans Telephon gestellt und muß ihm berichten, daß das feindliche Feuer schon nachlasse und daß unsere Artillerie Herrin der Lage sei. Dabei fällt in unserem Abschnitt schon seit Wochen kein Schuß. Der ganze Stab krümmt sich, während ich die erdichteten Heldentaten der Division am Telephon wiedergebe, vor Lachen, da jeder über das Theater Bescheid weiß . . . außer Lewicki.

Er selbst reicht am nächsten Morgen einen herrlichen Gefechtsbericht mit allen ihm von uns beigebrachten Daten ein . . . über dieses Gefecht, das nie stattgefunden hat. Er 13 schlägt sich für den Wladimirorden vor und – erhält ihn zwei Wochen später . . .

Am ersten MärzAlten Stils = 13. März neuen Stils. Die Abdankung Nicolais II. war de facto noch nicht erfolgt, sie wurde vielmehr, wie später gewisse andere Abdankungen, dem Heere aus Propagandagründen »mitgeteilt«. werde ich vom Korpskommando – wir gehören zum dritten Armeekorps – angerufen: General Lewicki soll sofort an den Apparat kommen. Lewicki horcht mit seiner Klarinette in den Trichter; es wird schließlich ermittelt, daß ein Offizier des Stabes sofort beim Korpskommando ein »Geheimpaket« abholen solle.

Der Befehl trifft mich. Ich reite die vier WerstEtwas über vier Kilometer. durch den Wald zurück, ich empfange das Geheimpaket . . . ahnte ich, als ich das versiegelte Ding in die Hand nahm, daß es das Schicksal des großen gemeinsamen Rußlands enthielt?

Als ich die Treppe hinuntergehe, begegnet mir D., der persönliche Adjutant des Korpskommandeurs, nimmt mich für eine Tasse Tee zu sich in sein Zimmer und erzählt mir, was wir damals ja wohl schon ahnten: daß Se. Majestät der Zar abgedankt habe . . . Ich bin nun doch wie vor den Kopf geschlagen. Wir kannten die unruhige Stimmung in den Hauptstädten – an ein Abdanken Sr. Kaiserlichen Majestät hat keiner geglaubt! Die Soldaten vielleicht am allerwenigsten!

Sofort reite ich pleine chasse zurück. Es ist nasses Schneewetter, man möchte sich am liebsten vor den Schädel schießen bei solchem Weltuntergangsabend! Was wird werden? Was wird aus Rußland? Erst beim Absitzen im Divisionsstabe merke ich, daß ich mich ganz zerschunden habe beim Reiten durch den Wald . . . nichts habe ich gemerkt in der Aufregung . . .

Ich gebe Lewicki mein Paket ab. Er wird totenblaß, als er es öffnet, er befiehlt mit versagender Stimme, den 14 Stabschef herbeizurufen. Ich tue es und warte im Vorzimmer. Hier werde ich zum unfreiwilligen Zeugen der beiden, da der schwerhörige Alte brüllt. Ja, es ist also wirklich wahr, daß der Enkel jenes Romanow, der aus dem Ipatjewkloster kam und Rußland Sitte und Ordnung brachte, der Krone entsagt hat! Die neue Regierung: Kerenski, den niemand kennt, Gutschkow, Tereschtschenko, der Zuckerkönig, auch so ein Industrieritter, einer von denen, für die das alte Rußland in den Krieg gezogen ist und der dieses Rußland nun von sich wirft wie einen umgekehrten Handschuh . . .

Befehl der neuen Regierung: Die Vorgänge sind den Truppen zunächst geheimzuhalten. Sie haben also offenbar doch noch Angst, die Petersburger Advokaten! Ich zittere vor Wut, als ich schließlich das Zimmer verlasse.

Ich gehe in das Offizierszimmer der Nachbarbaracke. Und siehe da: sie wissen alle schon etwas! Ich habe doch nichts gesagt. Lewicki ist noch immer allein mit dem Stabschef – und trotzdem weiß jeder schon etwas. Es gibt bekanntlich unsichtbare Träger von solch weltumwälzenden Nachrichten. Noch lange sitzen wir zusammen. Der eine erzählt dieses und der andere das. Der eine weiß bereits zu berichten, daß an der ganzen Geschichte in Petersburg ein Offizier schuld sei, der auf dem Newskiprospekt einen betrunkenen Soldaten wegen schlechter Ehrenbezeigung geohrfeigt habe. Das Volk habe die Partei des Geprügelten genommen. Lieber Gott, als ob so etwas genügen könnte! Hinter dieser Revolution sind ganz andere Dinge zu suchen als ein betrunkener Soldat und ein prügelnder Offizier! Wir haben uns an die Westler verschrieben, wir haben für die Westmächte diesen Krieg geführt, nun werden wir umgeworfen von dieser selben Revolution, die vor hundertundfünfzig Jahren Frankreich umgeworfen hat.

Der Divisionspope setzt sich zu uns. Er meint, daß die Truppen ruhig und zuverlässig seien, man könne sie ohne weiteres gegen Petersburg in Marsch setzen, wenn man 15 wolle. Andere schreien dazwischen, daß das Verrat an die Deutschen bedeute, alle sind sich darüber einig, daß jetzt erst der Krieg ordentlich losginge, da die Petersburger doch den russischen Nationalismus würden anblasen müssen, um Feuer für ihre Revolution zu bekommen. Alle sind wir überzeugt, daß diese Rechtsanwälte und Fabrikanten bald fertig sein werden mit ihrer augenblicklichen Macht. Was aber kommt dann?

Früh lege ich mich zu Bett, ich bin todmüde vor Erregung. Ich kann trotzdem nicht einschlafen. Ich denke an eine Szene, die ich im vorigen Jahre in Mohilew im kaiserlichen Hauptquartier beobachtet habe. Sr. Kaiserlichen Majestät gefiel es, den Thronfolger nach der Tafel im Boot auf dem Flusse spazierenzufahren. Wir hatten nun im Hauptquartier da so einen Stabshauptmann namens Popow, dessen zwölfjähriger Sohn der erkorene Freund des Thronfolgers war. Keine Bootsfahrt ohne Popow den Jüngeren! Der kleine Popow wurde für diese Fahrten an die Dnjeprbrücke bestellt, wo er auf das kaiserliche Boot zu warten hatte. Popow auf den Kaiser und nicht etwa der Kaiser auf Popow! Ich habe es nun oft beobachtet, daß Popow zu spät zu kommen geruhte und daß Se. Kaiserliche Majestät der Zar ungeduldig weiterfahren wollte.

Da aber der Zarewitsch auf keinen Fall ohne Popow fahren wollte und da es bei diesem Vater keinen Willen außer dem der anderen gab, so geruhte Se. Kaiserliche Majestät auf Popow zu warten. Oft sah ich dann den Herrn über zwei Erdteile und so viele Millionen Menschen auf einen kleinen ungezogenen Hauptmannssohn warten. Mir fällt es in dieser Stunde wieder ein. Gott schütze den Zaren, Gott schütze das gemeinsame Vaterland Rußland. –

Noch immer keine Zeitungen am nächsten Tage! Dagegen nehme ich von Petersburg den Befehl in Empfang, daß die Truppen von der Umwälzung zu unterrichten und auf die neue provisorische Regierung zu vereidigen seien. Wie denn? Haben sie nicht gestern genau das Gegenteil 16 befohlen? Sie richten eine schöne Konfusion an, diese Rechtsanwälte, bald wird es ihnen gelungen sein, die Armee kopfscheu zu machen!

Während ich diesen Befehl ausfertige, tritt der Stabshauptmann N. zu mir, zeigt mir ein Petersburger Reskript, wonach Gutschkow die Ehrenbezeigungen der Soldaten abgeschafft hat. Wir sind wie vom Blitz getroffen. Nicht, weil wir uns in unserer Eitelkeit verletzt fühlen, wohl aber wissen wir Feldsoldaten, wie bedingungslos ergeben seinem Offizier der russische Soldat war. Jeder von uns hat es in diesem Kriege erlebt, daß die Leute im scharfen Artilleriefeuer mit dem eigenen Leibe aus freien Stücken uns Offiziere zu decken suchten. Ein solches Menschenmaterial aber kennt nur bedingungslose Disziplin oder absolute Meuterei. Herr Gutschkow ist auf dem besten Wege, die Armee in ihrer kritischsten Stunde in einen demoralisierten Haufen zu verwandeln.

Nun gut, am Nachmittage erscheinen die Regimentskommandeure bei Lewicki, sie äußern sich zuversichtlich über die Stimmung der Truppen; alle geben im übrigen ihr Urteil darüber ab, daß, wo eine revolutionäre Stimmung überhaupt zu merken sei, sie durch die Lazarette der Städte und des LandschaftsverbandesDie Semstwolazarette, entsprechend unseren Vereinslazaretten., besonders durch deren Ärzte, verbreitet werde. Wir beschließen im übrigen, von morgen an, da die Regimenter aus den Trancheen ja nur wechselweise entfernt werden können, mit der Vereidigung zu beginnen.

Gleich nach dieser Konferenz habe ich die erste Begegnung mit der Revolution. Ich muß nämlich in das Wachlokal der PolizeischwadronEntspricht unserer Stabswache. hinüber. Es fällt keinem der Soldaten ein, mir nach der Vorschrift die Tür zu öffnen und »Achtung!« zu rufen. Ich frage den Nächststehenden nach 17 dem Grunde. Er stammelt irgend etwas, ohne sich zu einer Ansicht zu bekennen. Aus der Ecke kommt der Barbier der Leute mit Zeitungen . . . er also hat schon Zeitungen . . . es sind die des Petersburger Soldatenrates . . . den Divisionsstab mit Zeitungen zu versorgen hat man nicht für nötig befunden. Der Mann klärt mich darüber auf, daß man in Petersburg die Ehrenbezeigungen vor den Offizieren abgeschafft habe, da sie dem menschlichen Rechte zuwiderliefen. Er redet mich dabei nicht, wie es die Vorschrift ist, mit Ew. Hochwohlgeboren an, sondern mit »Towarischtsch«Genosse. . . . hier höre ich zum erstenmal das Wort, das nun ein paar Jahre hindurch die russische Geschichte beherrschen wird. Ich merke es den Leuten sofort an, daß sie sich nicht wohl befinden bei diesen neuen Manieren, daß ihnen die alten Formen wohl lieber sind. Ich verweise in strengem Ton dem Barbier sein Benehmen, ich sage den Soldaten ruhig, aber mit Nachdruck: »Nach meinen Befehlen habt ihr euch zu richten, nicht nach Zeitungsartikeln.« Die Soldaten stimmen dem bei, der Barbier wird von ihnen aus dem Wachlokal gewiesen.

Als ich in das Adjutantenzimmer zurückkomme, treffe ich Lewicki. Er zittert vor Erregung und hält einen Wisch in der Hand; offizielles Telegramm: »An der Nordfront großer Sieg der nationalen russischen Armee über die Deutschen . . . zahllose Beute an Trains und schwerer Artillerie . . . zwanzigtausend Gefangene.« Wo dieser Sieg erfochten sein soll, ist freilich nicht gesagt, und ich mache mir meine Gedanken darüber. Aber der Alte freut sich wie ein Kind über die Nachricht, er befiehlt die Vereidigung des gerade in Ruhe liegenden neunzehnten Schützenregiments schon für diesen Nachmittag, er will die Siegesnachricht sofort der Truppe mitteilen.

Gut, es wird auch dieser Unsinn in die Wege geleitet, obwohl kein Mensch außer Lewicki an diese Dummheit glaubt. 18 Am Nachmittag wird dann auch das Regiment vor der Kirche von Grifki aufgebaut; wir stehen vor der Tür und sprechen mit den Frontoffizieren. Bei den Truppen sollen ein paar Hauptleute, und zwar gerade die tüchtigsten, bei der Nachricht von der Abschaffung der Ehrenbezeigungen ihre Säbel zerbrochen haben unter dem Beifall der Soldaten, die mit diesem Befehl unzufrieden sind. Während wir noch sprechen, bringt die Fahnenkompagnie die Regimentsfahne, die Frontoffiziere begeben sich an ihre Plätze. Als das Kommando zum Präsentieren gegeben wird, höre ich plötzlich Lärm, sehe vor der Front der dem Portal gegenüberstehenden Kompagnie Unteroffiziere und Soldaten erregt miteinander reden. Der Hauptmann dort kann gegen den Lärm nicht ankommen; Lewicki, der mit uns hinläuft, steigert die allgemeine Verwirrung nur noch mehr. Schließlich ergibt es sich, daß ein Teil der Leute sich geweigert hat, vor dem »Wensel«, dem auf der einen Seite der Fahne angebrachten kaiserlichen Monogramm, zu präsentieren. Da andererseits ein Teil der Kompagnie die Ehrenbezeigung bereits ausgeführt hat, so läuft ein Feldwebel, irgend so ein mobilisierter Revolutionär, vor die Front und reißt die Gewehre der Leute, die das Kommando schon ausgeführt haben, zurück. Es findet sich in dem allgemeinen Geschrei unter den höheren Offizieren kein einziger, der Ordnung schafft. Am allerwenigsten ist Lewicki dazu imstande. Schließlich einigt man sich unter allgemeinem Geschrei darauf, daß das Präsentieren zu unterbleiben habe. Mit zerrissenem Herzen betreten wir die Kirche, die Vereidigung geht ohne Zwischenfall vor sich, und dann kann vor der Kirche Lewicki endlich seine Tartarennachricht von dem Siege loswerden, indem er sie der nochmals angetretenen Truppe vorliest. Da er der einzige in der ganzen Division ist, der an diesen Unsinn glaubt, so geschieht das Ungeheuerliche, daß die Truppe in schallendes Gelächter ausbricht . . . es ist klar, daß zwei Tage dieser Revolution genügt haben, um eine Truppe, die vor einer Woche noch bedingungslos der 19 russischen Sache diente, vollkommen zu demoralisieren. Zitternd vor Ärger gehen wir in unser Quartier.

Es ist übrigens später gelungen, den Urheber der Nachricht von dem russischen »Siege« ausfindig zu machen. In diesem Falle war es ein der Rechten angehöriger Dumadeputierter, der in Kasan saß und von dort aus das Märchen in die Welt telegraphierte – um durch die unausbleibliche Enttäuschung die Truppen mißtrauisch zu machen. Andererseits setzte aber auch die Petersburger Regierung in den folgenden Tagen das Heer unter ein Trommelfeuer von kurzbeinigen Siegeslügen. An die Truppen der Nordfront kamen Nachrichten von Erfolgen der Südfront, an die Südfront von solchen der Nordfront. Dazwischen machten sich allerlei Privatleute den Spaß. durch den Telegraphen die ungeheuerlichsten Gerüchte in die Welt zu setzen, um die Verwirrung zu vermehren. Wenn man bedenkt, daß zu gleicher Zeit allerlei zarentreue Stäbe und höhere Kommandostellen sich Mühe gaben, telegraphisch Truppen, deren zaristische Gesinnung bekannt war, zur Befreiung des damals noch in Pleskau in seinem Zuge lebenden und die definitive Abdankung vorerst verweigernden Zaren herbeizurufen – es haben sich tatsächlich von der Südfront Truppen zu diesem Zwecke in Bewegung gesetzt –, wenn man sich dieser durch die Drähte jagenden Intrigen und der von Petersburg ausgegebenen Gegenbefehle erinnert, so wird man uns zugeben, daß wir in den nächsten Tagen Zeugen einer in der Geschichte aller Armeen beispiellosen Verwirrung waren und daß alles geschah, um das Heer zu demoralisieren. In einem solchen Chaos sollte nach einem dreijährigen verlustreichen Kampfe das russische Heer gesund bleiben?

Am Tage nach der Vereidigung sitze ich mit dem Chef der Wirtschaftsabteilung im Adjutantenzimmer; wir unterhalten uns über die Maßnahmen des Finanzministers Tereschtschenko, der so plötzlich seine volksfreundliche Seele entdeckt hat. Wir beide haben während der Revolution 1905 20 Gelegenheit gehabt, Fabriken dieses Zuckermagnaten, die ja über ganz Rußland zerstreut sind, gegen die Menge zu verteidigen, wir haben uns damals oft genug davon überzeugt, daß die Arbeiter gerade dieses nun so menschenfreundlich sich gebärdenden Millionärs in einer unerhörten Not lebten. Mitten in diesem Gespräch ruft mich die Front an: das deutsche Feuer, das uns solange in unserem Idyll belassen hat, hat mit einem Schlage eingesetzt; unsere vier Regimenter, die über zwölf elende Feldkanonen verfügen, werden mit schwerem Kaliber bearbeitet. Ich rufe Lewicki, ich muß ihm die Nachricht in seine Klarinette schreien. Die Situation ist um so bedenklicher, als der Stochod um diese Zeit schon Schneewasser führt, vier Kilometer breit ist und die Brücken für unsere vier auf der anderen Seite liegenden Regimenter wohl nicht mehr lange passierbar sein werden. Lewicki schickt mich hin. Ich reite in den anbrechenden Tag hinaus, komme des schweren Feuers wegen aber nur einen Kilometer weit, muß dann absitzen und mich zu Fuß weiterarbeiten. Mir fällt auf den Brücken sofort die Masse unverwundeter Leute auf, die zurücklaufen. Johlend und lachend, mit allen Zeichen der Demoralisation. Dazwischen sehe ich Massen von Verwundeten, die auf geradezu katastrophale Verluste deuten. Ein Leutnant, der mir fröhlich lachend entgegenkommt, ohne auch nur einen Hautritzer zu haben, erklärt seelenvergnügt, es sei ausgezeichnet, daß die Kerenski-Armee ihre Schläge bekäme . . . die in Petersburg würden nun wohl sehen, was sie angerichtet hätten.

Ich weise ihn gehörig zurecht. Gleich darauf begegnet mir, schon auf der Brücke, ein weiterer Schwarm solcher Offiziere. Von den mit ihnen zurückgehenden Mannschaften höre ich Ähnliches. Da ich gegen diesen Strom von Verwahrlosung ja doch nicht schwimmen kann, so versuche ich wenigstens, Lewickis Befehl an die Front zu bringen: Unter allen Umständen soll die Front gehalten werden. Gleichzeitig stelle ich fest, daß die Brücken zwar nach unversehrt sind, muß aber aus dem Feuer, das ich höre, auf 21 mindestens 350 deutsche Geschütze aller Kaliber schließen, die auf unsere armselige Front einhämmern. Das jenseitige Ufer, auf dem unsere vier Regimenter liegen, ist vollkommen in Rauch gehüllt, nur die Flammengarben der krepierenden Granaten leuchten auf.

Am jenseitigen Ufer finde ich unmittelbar am Brückenkopf den Hauptmann D. vom 17. Regiment. Er ist in Obhut seines Burschen, der ihn im Feuer außerhalb des Grabens durch schnelles Arbeiten mit dem Spaten zu schützen versucht und dabei einen Handgelenkschuß abbekommen hat. D. selbst hat einen Schuß in den Unterleib, er ist zufrieden damit. »Was soll man weiterleben in solchem Rußland.«

Ich gehe weiter. Ich sehe eine Menge von Leuten kommen mit den Anzeichen der Gasvergiftung . . . seit einer halben Stunde blasen die Deutschen ihre Gaswellen herüber. Die Gräben, durch die ich gehe, um zum nächsten Regimentsstabe zu kommen, sind zum Teil schon eingeebnet durch dieses infernalische deutsche Feuer . . . haufenweise liegen unsere Toten herum. Der Oberst W. vom 18. Regiment, den ich zunächst erreiche, sitzt in einem fast sechs Meter tiefen Unterstand, sein Adjutant, der beim Austreten getroffen ist, wird eben tot hereingebracht. Ich überbringe den strikten Befehl, die Stellung zu halten, ich gebe sie telephonisch von hier aus an die übrigen Kommandeure weiter. W. hält es für ein Unding, den Brückenkopf zu halten: »Was wollen Sie? Die Soldaten haben seit der Revolution nur noch den Gedanken an den Frieden, sie sabotieren . . . alles will nach Hause. Was soll man machen?«

Als ich rückkehrend die Brücke wieder passiere, sehe ich die benachbarte bereits brennen, der dort passierende Flüchtlingsstrom macht kehrt, stürzt sich auf die Brücke, auf der ich mich eben befinde. Gleichzeitig rückt das deutsche Feuer unerbittlich näher. Die auf meiner Brücke zurückflutenden Leute treffen auf eine in entgegengesetzter Richtung vorgehende Verstärkung, reißen auch diese Leute mit sich. Ich versuche die Horde aufzuhalten, indem ich auf sie einrede 22 und einem der Hauptschreier, einem Unteroffizier, mit der flachen Klinge über den Kopf schlage. Die Leute wehren sich nicht dagegen: »Ew. Hochwohlgeboren haben ganz recht . . . was soll man aber machen?« Sie laufen weiter.

Am jenseitigen Ufer treffe ich den Stab um Lewicki versammelt, der sich eben von Krankenträgern aufheben läßt. N. erzählt mir lachend, daß der General mal wieder Ordenshunger gefühlt und seine Verwundung hätte haben müssen. Er ist glücklich über seine leichte Gasvergiftung, vom Lazarett wird er sich für eine neue Auszeichnung eingeben können!

Am nächsten Tage kommt Taranowski zurück. Gott sei Dank, daß wir diesen tauben Idioten Lewicki los sind. Taranowski sehe ich zum erstenmal wieder beim Begräbnis der gefallenen Offiziere. Er ist erschüttert über den Zustand, in dem er seine Division wiederfindet. Vor allem rügt er den kleinen Anteil der gefallenen Offiziere. Er sagt, daß er Feldtruppen verlassen habe und nun eine Räuberbande wiederfinde . . .

Die Soldaten zeigen beim Begräbnis der gefallenen Offiziere ihre russische Seele: sie stehen ergriffen und weinend vor den Leichen, die Ehrenbezeigungen werden wie in alten Zeiten erwiesen. Von ganz Europa haben wir das herrlichste Menschenmaterial unter den Fahnen, es darf freilich nicht durch Advokatenphrasen verwirrt werden! 23



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