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Fünfzehntes Kapitel

Am nämlichen Morgen ließ Granach den Justus Erdlein zu sich kommen, ging mit ihm in das Hinterstübchen und sagte da:

»Erdlein, jetzt erzählet mir alles, vom Kleinsten bis zum Größten, was Ihr von Schön-Minnele wisst; ich verlange es nicht, weil ich neugierig bin – Erdlein, ich verlange es um einer wichtigen Sache willen.«

Erdlein bedachte sich nicht lange und erzählte haarklein, was er über Minnele wusste, von der Wanderung aus der Heimat an bis zur gestrigen unglückseligen Rückkehr.

Da Erdlein nach der Flucht aus der Villa durch Minnele selbst erfahren hatte, was sie seit ihrer Aufnahme in das Haus der »Baronin von Seltern« erlebt und erlitten, so gab er auch dieses Stück wunderbaren Lebens als unumstößlich wahr zum Besten.

Minnele war hiernach weder rechtlich vermählt, noch haftete auf ihrer Tugend ein Flecken; über die Art und Weise der Flucht gab er folgendes Nähere an:

Minnele hatte sich durch den Sprung von der Mauer des Parks den rechten Fuß etwas verrenkt und fühlte nach einer Stunde Weges einen solchen Schmerz, dass sie nicht mehr von der Stelle konnte und auf den Rand der Straße sitzen musste.

Getrieben und gestachelt von Furcht, dass Minnele, wenn ihre Flucht entdeckt würde, von ihren Feinden verfolgt und gewaltsam zurückgeführt werden könnte, wussten Erdlein und Minnele eine Weile nicht, was zunächst zu tun und zu lassen sei; denn nach der Stadt war noch weit, und ein Wagen in dieser Ferne und so spät in der Nacht war nicht zu haben.

Da sollte es ein glücklicher Zufall also fügen. Ein Fiaker, welcher den Grafen und die Baronin nach der Villa gefahren hatte und der wahrscheinlich, da er auf die Rückkehr der Genannten warten musste, sich die Zeit und die Schauer der Nacht ein wenig vertreiben wollte, fuhr Schritt für Schritt und, allerlei Weisen pfeifend, nicht weit von der Villa die Straße ab und zu und schien an alles in der Welt zu denken, nur an keine Passagiere, welche ihn um eine Fahrt nach der Stadt ersuchen würden. Auf einmal aber geschah gerade dieses. Eine bebende Männerstimme, Erdleins Stimme nämlich, bat ihn unvermutet, dass er ihn und noch eine Person nach der Stadt in den Gasthof zur »Rose« fahren möchte.

Der Fiaker erschrak anfangs über diesen Zuruf in der Nacht, fasste sich aber bald und sagte, wenn er so und so viel haben und ohne Aufenthalt fahren könne, so wolle er seine Rappen »schießen« lassen, denn er müsse längstens in Dreiviertelstunden wieder da am Platze sein.

Das wurde ihm zugesprochen, Minnele wurde hierauf in den Wagen gehoben, Erdlein stieg bescheidentlich zu dem Fiaker auf den Bock, und das Gefährt »schoss dahin«.

So kamen sie wohlbehalten in der Stadt und in der »Rose« an.

Die Wirtin, eine brave, häusliche Frau, war noch wach und ihre Verwunderung, den Erdlein so spät im Fiaker und mit einem Fräulein, so schön »wie ihr noch gar nichts vorgekommen« anfahren zu sehen, war groß genug.

Erdlein bat um ein Zimmer für das Fräulein, sagte, er selber wolle alles bezahlen und wolle schon Auskunft geben, was das alles bedeute; hierauf bezahlte er den Fiaker, beschwor ich, niemand zu gestehen, wen und wohin er um diese Stunde gefahren, und ließ ihn dann auf seinen Posten eilen.

Indessen hatte die Wirtin einige Worte mit Minnele gewechselt, hielt sich sofort überzeugt, das Kind müsse das beste Herz und die Tugend selber sein, führte Minnele eigenhändig in ein abgelegenes, stilles Zimmer, ließ zu essen hinbringen und bat, ihr nur etwas von dem gewiss merkwürdigen Geheimnis zu berichten.

Während Minnele vor Ermüdung, Schmerz und Schrecken wortlos auf ein Sofa sank, berichtete Erdlein nur im Allgemeinen, Minnele sei eine Landsmännin, seinem Schutze anvertraut und erst vor etwa vier Monaten in die Hauptstadt gekommen; sie sei hier wegen ihrer Schönheit schnell von allerlei Netzen umschlungen worden und sei in Gefahr gewesen, eben einem reichen, alten Gauner ausgeliefert zu werden; aber da habe die höhere Gerechtigkeit sich noch glücklich ins Mittel gelegt, und das gute Kind sei hier und soweit gerettet.

Die Wirtin ließ sich vor der Hand den Bericht genügen, glaubte ihm auch, da sie Erdlein, der im Dienste dieses Hauses stand, durchaus als ehrlich kannte, bat nur, wenn alles schön gelöst sein würde, ihr das Weitere mit Namen, Stand und Ort genau zu nennen.

Dies wurde ihr versprochen; und nun blieb Minnele die Nacht und den folgenden Tag verborgen im Stübchen, wurde unentgeltlich mit Speise und Trank versehen, und ein Doktor sorgte, dass Minneles Fuß alsbald wieder in Ordnung kam.

Indessen bemühte sich Erdlein, dass eine Landsmännin als Minneles Reisegefährtin aufgefunden wurde. Am zweiten Morgen brach man auf und ging, um einer Entdeckung zu entgehen, vor Beginn des Tages zu einem anderen als dem nordöstlichen Tore der Stadt hinaus, lenkte dann nach der heimatlichen Straße ein und suchte es so einzurichten, dass man auf einer Station eine Landkutsche zur Weiterfahrt benützen konnte.

Es gelang. Minnele hatte in der Nacht ihrer Flucht eine ansehnliche Summe Geld zu sich gesteckt gehabt, um es beim Stelldichein dem Blaumeisle für ihre Mutter mitzugeben; ein Teil dieses Geldes musste nun für Reisekosten dienen. Bis jetzt hatte Erdlein gezögert, Minnele zu gestehen, was es mit ihren Briefen an die Mutter und mit Wolfgang Granach für Bewandtnis habe; nun aber sagte er ihr, von ihren Briefen sei nicht einer an ihre Mutter gekommen, und Wolfgang Granach sei in der Hauptstadt gewesen und habe sehr viel von Minnele gesprochen, habe lange nach ihr gesucht, habe das Beste von ihr geredet und ein Vertrauen gezeigt in Minneles Bravheit, die feststehe wie der Felsen, auf den die Kirche gebaut sei.

Auf diese Nachricht hin sei Minnele steif und starr geworden, habe alle Sprache verloren, habe nicht mehr geweint und gelacht, nicht mehr gegessen und getrunken, habe nur immer nieder geguckt, als wäre was zu suchen und nicht zu finden – und endlich – bei Reichersheim sei das geschehen, was er schon erzählt, dort sei es wie der Sturmwind über sie gekommen und hätte ihren guten Geist mit Nacht und Wolken umzogen! ...

Granach horchte, als Erdlein geendigt hatte, noch eine Weile ergriffen vor sich hin, als müsse noch immer Neues und Unerwartetes kommen, dann sah er auf, reichte Erdlein die Hand und sagte:

»Erdlein, Ihr habt Gotteslohn verdient um Euer braves Betragen.«

»Schenkt nur Gott dem Minnele das Leben, dann bin ich schon belohnt genug«, erwiderte Erdlein.

Der Kreisarzt fand Minnele bereits im vollen Nervenfieber.

»Das Kind ist gerettet von einem dauernden Wahnsinn«, sagte er, »jetzt handelt sich's nur darum, ihr Leben zu retten.«

Er rüstete sich, die schöne Kranke nach bestem Wissen und Gewissen zu behandeln.

»Es koste, was es wolle, Herr Doktor«, sagte Granach, als der Doktor nach dem ersten Besuche wieder zu Wagen stieg – »Es ist mir nichts zu viel, wenn das Kind am Leben bleibt und wieder gesund wird.«

»Wir wollen unsere Pflicht tun, im Übrigen Gott und der Natur das Beste überlassen«, erwiderte der Arzt, indem er weiterfuhr: »Wenn ich wiederkomme, kann ich vielleicht mehr zu euerm Troste sagen.«

Einige Tage nachher sollte das Dorf durch eine neue Begebenheit wieder in Bewegung kommen.

Toni Fähringer wurde zwangsweise von der Polizei nach ihrem Geburtsorte heimgeschafft.

Das Schand- und Spottwägelchen, auf welchem zwischen zwei Gendarmen noch mehrere Schicksalsgefährtinnen der Toni saßen, fuhr langsam vor das Haus des Gemeindevorstandes, dieser wurde herausgerufen und gefragt, ob ihm »das Weibsbild« da bekannt sei und ob es richtig in diesen Ort gehöre; dann, als beides bejaht war, musste Toni vom Wägelchen steigen und, von einem Gendarm begleitet, in die Stube des Gemeindevorstandes treten.

Hier wurde die Fähringer von einer Hand und Fußfessel befreit, die ihr angelegt war, weil sie auf dem Wege aus der Hauptstadt öfter Fluchtversuche gemacht hatte; hierauf wurden zwischen dem Gemeindevorsteher und dem Sicherheitswächter einige Papiere gewechselt, und der Transport des Wägelchens ging weiter.

Die Fähringer-Toni hatte keine Eltern mehr, aber ein bejahrter Bruder lebte noch im Dorf und nährte als Schuster sich und einen Bienenschwarm von Kindern; er war von Natur gar kränklich und durch Sorgen und Plagen körperlich heruntergekommen; sonst aber stand er als braver Mann in vollen Ehren.

Um ihn wurde nun geschickt.

Aber bevor er kam, umschwärmten schon Nachbarn das Haus des Gemeindevorstandes, und zu allen Fenstern guckten Köpfe von Jungen und Alten herein.

Die Fähringer-Toni hatte sich an dem großen Ecktisch niedergelassen, legte ihre Arme und ihren Kopf darüber hin und verbarg so der Neugierde der Landsleute ihr Gesicht.

Sie regte sich kaum; nur dann und wann sah man ihre Schultern wie von Zorn oder Weinen zucken.

Dieses Zucken wurde heftiger, als man aus der Ferne die Stimme ihres Bruders hörte.

»Nun – du« ... Schandfleck der Familie, wollte er in die Stube tretend sagen; aber das »Elend« übermannte ihn und er sagte schluchzend: »Schwester, was hast du angefangen?«

Toni zuckte wieder mit den Schultern, aber sie sagte nichts und hob auch ihren Kopf nicht.

Der Schuster setzte sich neben seine Schwester und weinte bitterlich.

Es war in der Tat ergreifend, das arme, beschmutzte, kränklich gebückte Männlein neben der blühenden Schwester zu sehen – ihn ehrlich trotz seines Elends und Körpers; sie in der Fülle ihrer Gesundheit, trefflich ausgestattet für ein braves, glückliches Los und dennoch elend und verworfen.

Der Gemeindevorstand reichte dem unglücklichen Bruder die Schrift mit schwerem Herzen, die einen Polizeibericht über Tonis Leben in der Hauptstadt enthielt.

Der Schuster nahm die Schrift in die linke Hand und las, indem er mit der rechten unablässig seine Tränen von den Wangen wischte:

»April – angekommen – erst im Dienste einer vortrefflichen Herrschaft gewesen – dort mit einem Herrn von Sentis in Liebeleien eingelassen – aus dem Dienste gejagt wegen Faulheit, Unverträglichkeit, gemeiner Streitsucht und Lauferei – hierauf nicht wieder in ehrliche Dienst gegangen, sondern in schlechter Gesellschaft gefunden und aufgegriffen worden usw.«

Der Schuster ließ die Amtsschrift fallen.

»Hast du mir nicht geschrieben, dies alles sei dem schönen Minnele zur Last zu legen?« rief er, vor Zorn und Schmerz entstellt.

Toni regte sich nicht und gab keine Antwort.

Nach einer Weile sagte der Schuster, wieder bitterlich weinend:

»Du hättest meinen Kindern Mutter sein können« –

Und nach einer langen, schmerzlichen Unterbrechung fuhr er fort und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen:

»Und jetzt haben wir alle nichts, und du hast auch noch deinen guten Namen verloren!«

Es war ein seltsamer und beherzigenswerter Anblick, eine Viertelstunde später diesen Bruder und diese Schwester nebeneinander durch das Dorf gehen zu sehen.

Er drückte, vor Kummer sprachlos, seine schwarze, schwielige Hand über das Gesicht, sie aber drückte – von der Schmach des Augenblicks niedergeschmettert – den Rest ihres glänzenden Lebens, ein Battistsacktuch mit Spitzen in die Augen.

Sie führte jetzt, als abschreckendes Beispiel durch das Dorf hingehend, dasselbe grasgrüne Kleid am Leibe, in welchem sie einst so großen Sieg über den liebenswürdigen Herrn von Sentis beim Stelldichein davongetragen... 


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