Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Fünf Stunden später fuhr ein Reisewagen zu demselben Tore der Hauptstadt hinaus und lenkte dann nach einer Straße in westlicher Richtung ein, welche nach einem sehr besuchten, eine Tagereise von der Hauptstadt entfernten Luxusbad führte.

In dem Reisewagen, welcher geschlossen war, befand sich die Baronin von Seltern, Schön-Minnele und die Baroness Eleonora. Sie waren alle drei in Trauer gekleidet.

Diese Reise war von der Baronin beschlossen worden, weil eine schnelle Luftveränderung, eine Gelegenheit, Neues zu sehen, für Minnele eine Lebensbedingung im wahren Sinne des Wortes war.

Der Akt der Vermählung am Sterbebette, die Gemütserschütterung während und nach derselben konnten in ihrer Nachwirkung eine gefährliche Nervenkrankheit zur Folge haben.

Was waren auch das für Erlebnisse! Welche Möglichkeiten, Folgen und Schrecken mussten erst jetzt, nachdem alles vorüber war, in Minnele peinvoll lebendig werden!

Wenn nun die Nachricht heimkam, Minnele sei einem alten, reichen Manne vermählt – wer half ihr die ganze Begebenheit darstellen, dass sie glaubhaft erschien, wie sie wirklich geschehen war?

Wenn nun Wolfgang Granach – der vielleicht doch mehr, als sie dachte, an ihr hing, der vielleicht nicht heiraten wollte in der Hoffnung, Minnele werde über kurz oder lang wieder kommen und alles zum Besseren wenden – ach, wenn nun Wolfgang vernahm, wie schnell dagegen sie die Braut und Gattin eines steinalten Mannes – vielleicht des ersten besten reichen Mannes geworden ... wo war sie ihr Leben lang sicher von seinem Abscheu?

Minnele fiel von einem Schauder in den anderen.

Ihr himmlischen Scharen – wenn es einer Laune der Natur gefallen hätte, das der sterbende Onkel nicht gestorben, dass der für den Tod angetraute Gatte sich erholt uns erhoben hätte, um plötzlich als ein Gatte für das Leben aufzutreten; es wäre zu entsetzlich, zu entsetzlich gewesen!

Es gehörte während des Tages nach der Vermählung die glänzende Überredungsgabe der Baronin, die erhöhte Zärtlichkeit der Baroness, die von Salbung triefende Zusprache des Priesters und die zum ersten Mal nach keinem Opfer dürstende Bemühung des Doktors dazu, um Schön-Minnele bei ihrem tief verwundeten Bewusstsein erträglich aufrecht zu erhalten.

Aber was den Bemühungen und dem Lärm des Tages gelungen war, gelang der Stille und Einsamkeit der Nacht nicht ebenfalls.

Die finstere Wolke des Kummers, der Angst, des Entsetzens, welche im Lauf des Tages nur verscheucht und nicht zerstreut werden konnte, zog sich dichter und grauenhafter über Minneles Schlummer von Neuem zusammen und entlud ihre vollen Stürme und Schrecken.

Um Mitternacht glaubte man, Minnele habe den Verstand verloren; sie war aus dem Bette gesprungen und auf den Korridor hinausgeeilt, mit Jammerton rufend:

»Meine Hand ist kalt, meine Hand ist kalt, meine Hand muss verdorren und verderben!«

Dabei streckte sie ihren rechten Arm fortwährend steif in die Luft und blickte klagenden, starren Auges vor sich hin.

Erst nach einer Stunde gelange es mehr der Erschöpfung ihrer Natur als den Anstrengungen und Zusprüchen der Hausbewohner, Minnele wieder zu Bett zu bringen, worauf sie ruhiger entschlief und nicht mehr erwachte bis um sieben Uhr des Morgens.

Minnele fühlte sich wieder ziemlich wohl und stimmte gerne in den Vorschlag einer Reise, weil sie fühlte, dass ihr, je weiter weg vom Schauplatz schrecklicher Vorfälle das Herz umso leichter werden müsse.

Ohnehin gieß es, die Leiche des Onkels werde nach kurzer Einsegnung aus der Stadt auf ein fernes Stammgut in die Familiengruft gebracht, und man könne also abreisen, ohne einer Bestattung beizuwohnen.

Ziemlich früh am Morgen war daher das nötige Gepäck auf dem Wagen, man stieg ein und fuhr davon.

Den Badeort erreichte man erst in der Nacht und stieg im »König von Holland« ab.

Es lag in der Absicht der Baronin, trotz der natürlichen Abspannung von der Reise nicht sogleich zu Bett zu gehen, sondern mit vieler Gemächlichkeit ein reichliches Nachtmahl einzunehmen und während demselben das Reisegepäck in den gemieteten Zimmern wohlgeordnet unterbringen zu lassen, damit man, wie sie sagte, am nächsten Morgen sich von seiner gewohnten Behaglichkeit umgeben sehe; durch dieses Hinhalten des Schlafes und der Ruhe wollte die Baronin Minneles Leib und Seele so ermüden, dass ein langer, wo möglich traumloser Schlaf sich umso gewisser einstelle.

Diese Absicht gelang auch ganz.

Minnele lag um zehn Uhr des nächsten Morgens noch im tiefsten Schlaf und wäre vielleicht noch lange nicht erwacht, hätten nicht die Töne einer heiteren Musik an ihr Ohr gerührt.

»Nun Minnele?« sagte die Baronin vor ihr Bett hintretend: »Wie gefällt dir das Morgenständchen, das uns eben gebracht wird?«

»Uns, Mutter?« fragte Minnele verwundert und schlaftrunken.

»Ja, uns, liebes Kind. »Diese Karte da, welche mir eben ein Diener gebracht hat, erklärt mir das Geheimnis.«

»Welches Geheimnis?«

»Nun, es trifft sich zufällig, dass im gegenüberstehenden Hotel zur Kaiserkrone einer der vertrautesten Bekannten meines verstorbenen Onkels wohnt, welcher, da er von unserem Verlust und unserer Ankunft gehört hat, bemüht ist, uns irgendein Zeichen seiner Aufmerksamkeit zu geben. Um das Aufsehen zu vermeiden, hat er die Musik nicht auf der Straße, sonder in eines seiner Zimmer gerade gegenüber gestellt und wünscht nun, wie er sich auf der Karte ausdrückt, dass die Musik unsern Schmerz mildern und unsern Geist angenehm zerstreuen möchte ... Jetzt steh' auf, Minnele, wir wollen frühstücken und uns, bevor die Wärme lästig wird, das Neue und Schöne der Badewelt besehen.«

Die Musik fuhr fort, noch einige Stücke vorzutragen, dann schickte der »Graf von Guttenhof« – derselbe, der die Musik auf seinem Zimmer hatte – ein prachtvolles Blumenbouquet mit der Bitte, ihn eines Besuches vor der Hand zu überheben, da er einer leichten Fußverletzung wegen das Zimmer hüten müsse.

Minnele erschien nun ziemlich gestärkt am Frühstückstische; ihre Geistes- und Gemütsverfassung hätte nach so heftiger Erschütterung nicht leicht besser sein können.

»Jetzt lasst uns aber auch der Natur ihr Recht wieder, soweit es billig ist, einräumen und lasst uns genießen, was uns das Leben zuvorkommend und liebreich bietet«, sagte die Baronin: »Man lebt nur einmal, und wer geweint hat, sehe zu, dass er auch das Lächeln nicht verlerne!«

Die Baroness Eleonora schien eine solche Aufmunterung sehnsüchtig genug erwartet zu haben, denn im nächsten Augenblick war nichts mehr traurig an ihr als die Farbe ihres Kleides und nichts mehr niedergeschlagen als der Spitzenkragen um ihren Hals.

Minnele, nicht gewohnt, sich zur Freude oder zur Trauer kommandieren zu lassen, blieb ernst und gefasst, wie sie war, aß mit Appetit und ließ ihre Tischgenossinnen nach ihrer Art bei einer Flasche Madeira heiter und gesprächig werden.

Plötzlich horchte Minnele verwundert auf.

Eine Uhr schlug elf; die Silberglockentöne mussten aus einem Fenster des gegenüberstehenden Gasthofes kommen; der elfte Schlag war kaum vorüber, als die Uhr äußerst lieblich aus Don Juan die Melodie zum Texte spielte:

Reich' mir die Hand, mein Leben,
Komm in mein Schloss mit mir!

Minneles Verwunderung kam daher, dass sie die liebliche Melodie – von derselben Spieluhr schon spielen gehört hatte, und zwar – in der Villa des »Onkels«, als sie das erste Mal in der Nachtschattenlaube des Parkes gesessen hatte.

Sie konnte sich nicht enthalten, dies ausdrücklich gegen die Baronin zu bemerken, welche den sogleich mit einer wunderlichen Erklärung der Sache bei der Hand war.

»Der Graf von Guttenhof und mein verstorbener Onkel«, sagte sie, »sind von Jugend auf Bekannte gewesen; sie haben die Zeit ihrer Jugendspiele und ihrer Studien, sowie ihre Reisen und Abenteuer so gemeinschaftlich zugebracht, dass sich nach und nach in alle ihren Bedürfnissen, ihren Wünschen, ihren Sitten und Manieren, ja zuletzt beinahe auch in ihren Gesichtszügen eine überraschende Gleichförmigkeit geltend machte. Sie waren ungefähr von gleichem Alter, ihre Familien mochten in ihren Vermögensverhältnissen auch kaum verschieden anzuschlagen sein, nur dass mein Onkel das einzige Kind seiner Eltern war. Von ihrem fünfundzwanzigsten Jahre an waren beide Jugendfreunde vollkommen unabhängig und im Besitze großartiger Reichtümer; sie wählten die Hauptstadt zu ihrem beständigen Aufenthalte, und keiner verließ dieselbe, ohne von dem anderen begleitet zu werden. Man sieht in der Prinz-Wilhelm-Straße drei Paläste gegenüber stehen, welche von Grund aus in gleichem Stile gebaut sind; diese beiden Paläste gehörten den Freunden, welche, nicht zufrieden mit der bloß äußerlichen Gleichförmigkeit ihrer Häuser, auch im Innern, in allen Einrichtungen die vollständige Übereinstimmung trafen, was umso leichter zu bewerkstelligen war, als beide frühzeitig beschlossen hatten, nicht zu heiraten, was sie auch wirklich und leider, muss man sagen, durchgeführt haben. Du wirst nun begreifen, liebes Minnele, dass mein verstorbener Onkel auf diese Weise keine Spieluhr mit Melodien aus Don Juan im Hause haben konnte, ohne dass ein ganz gleiches Exemplar auch in der Wohnung des Grafen von Guttenhof an der Wand hing. Beide Uhren so genau im gleichen Gange zu erhalten, dass sie aufs Haar die nämliche Stunde schlagen und zu gleicher Zeit das nämliche Stückchen spielen mussten, das war nun ein recht heiteres und wahrhaft schweißvolles Bemühen der beiden Herren. Dieses Gleichmachungsbestreben nun hatte endlich mit den Jahren so sehr zugenommen, dass man endlich gleichfarbige und gleichgeschirrte Pferde vor gleiche Equipagen spannte und auch die Dienerschaft in gleiche Livréen steckte. So ging es fort, bis vor etwa dreißig Jahren über meinen Onkel eine Art Lebensmüdigkeit Meister wurde, die nun seltsamer Weise auch seinen Freund, den Grafen von Guttenhof, befiel. Jeder fing an, die Einsamkeit dem Tumulte des Lebens vorzuziehen, sie verkauften ihre Paläste und kauften sich schöne Landsitze vor der Stadt, aber nicht wieder neben einander (das hätte sich mit ihrem Einsiedlerleben nicht vertragen), sondern vor den entgegengesetzten Enden der Stadt. Sie sahen sich selten mehr, fuhren aber fort, ihre Häuser und Einrichtungen wieder in eine vollständige Gleichförmigkeit zu bringen. In dem Maße als ihre persönlichen Besuche abnahmen, fing ihr Briefwechsel an sich breiter zu machen, wobei zu bemerken ist, dass jeder bestrebt war, die Handschrift des anderen so genau als möglich nachzuahmen. Freilich hat nun der Tod des einen seitdem in dies Verhältnis der Freunde eine schlimme Ungleichheit gebracht, aber nichts desto weniger fährt Graf Guttenhof noch immer fort, sein Leben, seine Sitten, seine Umgebung so zu führen und zu erhalten, als ob sein Doppelgänger noch immer auch am Leben wäre und dasselbe täte; aus diesem Grunde ist nun auch wahrscheinlich seine Spieluhr mit hierher in das Bad gewandert.«

Nach dieser Erklärung erhob sich die Baronin und sagte:

»Nun aber lasst uns aufstehen und dem Mittagsorchester vor der Konversationshalle einige Augenblicke widmen. Wir werden dort, wie ich aus früheren Zeiten weiß, so ziemlich den Kern des Badepublikums zu sehen bekommen.«

Die Konversationshallt befand sich nicht weit von dem »König von Holland«.

Man ging.

Aber ein neuer Ruf der Verwunderung entrang sich dem Herzen Minneles, als sie aus dem Gasthoftore tretend, gegenüber an der Einfahrt in die »Kaiserkrone« den blauen Kammerdiener des verstorbenen Onkels – oder Ehegemahls erblickte, der in weißer Halsbinde und schwarzem Frack dastand und jenen Reiseshawl in der Hand hielt, welcher für Minnele von der Reise aus der Heimat her unvergesslich und seit ihrem Traume vom Geister-Gouverneur so furchtbar geworden war.

Minnele wagte es nicht, auf letzteren Gegenstand aufmerksam zu machen; aber auf die Erscheinung des blauen Kammerdieners zeigte sie mit der Frage, wie es denn komme, dass auch dieser hier gesehen werde.

Die Baronin erwiderte ohne das geringste Befremden:

»Ei, dieser Kammerdiener ist weiter nichts als der Zwilling seines Bruders; das ganze Wunder besteht darin, dass mein Onkel und der Graf von Guttenhof es in ihrem Gleichmachungsbestreben endlich dahin gebracht haben, an Zwillingsbrüdern auch zwei ganz gleiche Kammerdiener zu besitzen ...«


 << zurück weiter >>