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Zwölftes Kapitel

Es war gegen Mitternacht.

Der Mond, welcher um zehn Uhr aufgegangen war und eine Stunde lang freundlich geleuchtet hatte, verbarg nun sein Angesicht in einen dichten Wolkenmantel und überließ die Erde wie eine schauernde Wache, die ein Gespenst sieht, den Finsternissen der Nacht.

Tiefe Stille herrschte um die mit Landsitzen gezierte Hügelreihe außerhalb der Stadt; alle Lichter waren aus; der Schlaf schien Meister zu sein über alles bewusste und unbewusste Leben rings herum.

Horch!

Was war das für ein dumpfer und melancholischer Klang, der, vor sich selber schaudernd, durch die stillen, nächtlichen Lüfte zog?

Ein Glockenschlag der Domuhr war's; ihm folgte ein zweiter und allmälig, als widerstrebe er, so einsam ins geheimnisvolle Dunkel der Nacht hinausgeschickt zu werden, ein dritter Glockenschlag.

Drei Viertel auf zwölf Uhr war also die Glocke.

Horch! Und sieh?

Eine schwarzgekleidete Frauengestalt stand regungslos eine Weile zwischen den weißen Torsäulen der Villa des Onkels ...

»Gleich Mitternacht«, lispelte die Gestalt – »Ihr Engel und Engelscharen steht mir bei und beschützt mich in dieser Einsamkeit und Not!«

Der Mond, seinen Wolkenmantel dichter um sein bleiches Antlitz ziehend, streute einen flüchtigen Dämmerschein auf Park und Villa; es entstand eine Weile ein gespensterhaftes Regen der Schatten, bis sie die eine allgemeine Finsternis wieder aufnahm und verschmolz.

Auch die allgemeine Stille ward nicht weiter unterbrochen.

Jetzt regte sich die schwarzgekleidete Gestalt.

Sie schritt langsam die Terrasse der Villa herab, indem sie schüchtern nach allen Richtungen spähte; sie erreichte die letzte Stufe der Terrasse, hielt wieder an, horchte, atmete tief auf und trat in den Park.

»... Gnade mir Gott! ... Gekreuzigter sei mit mir! ... Alle guten Geister steht an meiner Seite!«

So lispelte die Gestalt von Neuem, seufzte und ging mit kaum hörbaren Schritten langsam einen Weg des Parkes rechts hinunter.

Es war Minnele.

Sie befand sich mit ihrer Dienerschaft seit zehn Uhr abends allein in der Villa.

Die Baronin hatte sich um diese Stunden wie eine Abschiednehmende empfohlen, die morgen sehr frühe von ihrer Stadtwohnung aus abreisen müsse.

Bevor sie sich entfernte, ließ sie noch einmal die sämtliche Dienerschaft des Hauses zusammenkommen, trat unter sie und hielt, Minnele an der Hand führend, eine Staatsrede an sie, goldene Leitsätze aus dem Texte schlagend: ihr seid die treuen Diener dieser Herrin! Dann umarmte, drückte, küsste sie »ihr schönes, treugeliebtes, einzigwertes Kind« und ging – ein weiblicher Judas – um den Verrat in Eile folgen zu lassen, nachdem der Verräterkuss der Unschuld aufgedrückt war.

Minnele, obwohl nicht ahnend, was schon diese Nacht geschehen solle, brachte die folgenden Stunden schlaflos, unter Schauern, Angst, Gedanken und Beschlüssen für die Zukunft hin; – jetzt um die zwölfte Stunde wollte sie zum großen Nussbaum an der Gartenmauer schleichen, um sich zu versichern, dass Justus Erdlein wirklich wie ein treuer Freund erschienen sei.

Als Minnele in die Nähe des großen Nussbaums kam, meinte sie ein Rauschen zu vernehmen; sie blieb stehen und horchte, glaubte aber sich geirrt zu haben, da es wieder stille war.

Aber horch! Sie hatte kaum aufs Neue einige Schritte getan, als sich jenes Rauschen wieder hören ließ und etwas lauter als zuvor.

»Das sind vielleicht Erdleins Schritte«, dachte Minnele bewegt, »er kommt, er kommt, der treue Freund!«

Sie eilte nun wie mit Flügeln unter die Äste des Nussbaums, lehnte sich an die Mauer und horchte aufs Neue atemlos.

Richtig! Ja! Es war das Geräusch von Fußtritten; – aber wie? Wie? Sollte Erdlein nicht allein sich nähern?

Das waren die Fußtritte zweier Personen.

Minnele regte sich nicht.

Die zwei nächtlichen Wanderer kamen in die Nähe des Nussbaumes, sprachen leise, sehr leise, gingen am Nussbaum vorüber und bis ans eichen Parktor.

»Das ist Erdlein nicht«, dachte Minnele, »er hätte vor dem Nussbaum stille gehalten, denn dieser ist sichtbar trotz der Nacht.«

In einiger Entfernung hörte man jetzt einen Wagen in Bewegung kommen, halten, wieder in Bewegung kommen und dann abermals halten.

Wahrscheinlich hatte dieser Wagen die nächtlichen Wanderer bis in die Nähe der Villa gebracht und wartete jetzt ihre Rückkunft ab, um sie wieder nach der Stadt zu bringen.

Aber horch! Horch! Was war das? Wurde nicht plötzlich ein Schlüssel in das Schloss des eichenen Parktores gesteckt? Drehte nicht eine feste, sichere Hand den Schlüssel jetzt im Schlosse um?

In der Tat, es war so, Minnele konnte dies umso deutlicher hören, als der Nussbaum, unter dem sie stand, nicht zehn Schritte vom Tor entfernt war.

Kaum war der Schlüssel zwei Male umgedreht – als das Tor auch willig und wie schlaftrunken gähnend aufging.

Minnele erbebte an allen Gliedern.

Die eintretenden Personen bestanden aus einem Herrn und einer Dame; sie hatten ein Laternchen bei sich, dessen flüchtiger Schimmer es Minnele leicht machte, beide Gestalten zu unterscheiden.

Der Herr war groß und hager und einfach städtisch gekleidet. Über den linken Arm hatte er einen Männershawl geworfen, wahrscheinlich um sich gegen die kühler werdende Nachtluft vorzusehen; die Dame aber hatte über ihre gewöhnliche Kleidung eine abenteuerliche Hülle, wahrscheinlich ein Stück vom letzten Maskenball her umgeworfen.

Nachdem die beiden Gestalten in den Park getreten waren, machten sie Front gegen das eichene Tor und schlossen es wieder sorgfältig, indem die Dame leuchtete und der Herr den Schlüssel im Schlosse drehte.

»So – so – so«, sagte der Herr, die Türe zwei bis dreimal sorgfältig prüfend, ob sie auch richtig verschlossen sei: »Es ist gut; sie ist zu. Gib nun her die Laterne, Hermine.«

»Hier«, erwiderte die Baronin, denn sie war die Angeredete, »hier teure Exzellenz, mögen Sie auf lichten Pfaden der Liebe wandeln und mögen Ihre Freuden groß sein jetzt und immerdar.«

Seine Exzellenz schloss das Laternchen und sagte nun:

»Ah! Da wären wir denn ... Da wären wir, Hermine. Wie ein verliebter Marder schleiche ich in mein eigenes Haus, wo ich sehnsüchtig gegirrt habe wie eine Turteltaube, wo ich mich tot gestellt habe wie ein Fuchs, wo ich mich hinaus habe tragen lassen wie ein verendeter Jagdhund, wohin ich wieder zurückkehre« –

»Wie ein verliebter Marder, um Ihre eigenen Worte zu gebrauchen«, fiel ihm die Baronin lachend in die Rede.

»Du scherzest, Hermine, nachdem mir die ganze Geschichte ja Verdruss genug verursacht hat!«

Während dieses kurzen Gespräches waren beide langsam nach der Laube vorgegangen, welche sich ganz in der Nähe des Nussbaumes befand.

»Ja, ja, das sind schwere Wochen gewesen, Wochen der Prüfung, der Geduld, der bebenden Erwartung, der blassesten Angst, der größten Gefahren ... Dank, Dank dem Schicksal, sie sind vorüber; auf die Schmerzenssaat soll nun die Freudenernte folgen ... Doch da ist die Laube, Hermine, lass und hier niedersitzen und rasten, bis es Zeit ist, wenigstens eine halbe Stunde noch ...«

»Ja, Exzellenz, und lassen Sie uns beim schwachen Laternenschimmer mit Kraft und Feuer unsere Gläser leeren!« rief die Baronin, indem sie unter ihrem Maskenüberwurfe einen kleinen Flaschenkorb hervorzog und auf das Tischchen in der Laube stellte.

»Das wollen wir, liebholdeste Hermine«, sagte Seine Exzellenz, an dem Eingang der Laube stehend und die Blende des Laternches wieder öffnend.

Der volle Schein des Lichtes fiel dabei einige Sekunden auf das Gesicht desselben, und Minnele konnte leicht den ihr so schreckhaft gewordenen Mann im Reisewagen mit dem Shawl, den Geistergouverneur, erkennen.

Dieser trat nun zur Baronin in die Laube, stellte neben den Flaschenkorb das Laternchen hin, so groß das Licht desselben auf die Hinterwand der Laube fiel und ließ sich nieder, während die Baronin bereits scharf daran war, zwei Gläser mit kostbarem Tokayer zu füllen.

»Ah«, sagte Seine Exzellenz – »was sind doch das für Wandlungen in uns, wenn uns dies Gefühl ergreift? Was ist doch Liebe bei einem so bejahrten Manne?«

»Frühlingssonnenschein auf altem Mauerwerk«, sagte die Baronin lachend, stieß an das Glas, welchen für Seine Exzellenz bestimmt war, und setzte dann hinzu: »Auf! Und zugetrunken! Minnele soll leben und Sie, der verstorbene Onkel, daneben!«

»So sei es! Sei es!« erwiderte Seine Exzellenz, stieß an und trank sein Glas aus. Dann fuhr er fort, indem die Baronin wieder einschenkte:

»Hermine, sag' doch, sag': Wie kommt doch Liebe?«

»Sie kommt, und sie ist da«, antwortete die Baronin des Dichters berühmte Worte zitierend.

»Sie kommt, und sie ist da! Du hast diese Parthenia einst so überaus entzückend gespielt, Hermine, deine Worte klingen mir noch in den Ohren. Damals freilich hab' ich kaum geahnt, was hinter diesen poetischen Worten steckt: Die Liebe kommt, und sie ist da!«

»Sie geht auch wieder, verlassen Sie sich drauf, Exzellenz. Sie macht sich einige Wochen den Spaß, bejahrt-ehrwürdige Männer, wie Sie, zu Seufzerbrücken über das trübe, laue Gewässer dieses Alltagslebens zu machen. Da hocken und ducken sie sich eine Weile, diese verliebten Jeremiasseelen, glauben immer die süße Last noch auf dem Rücken zu haben – paff! Da ist sie fort – und der nasse Pudel springt ans Ufer. Exzellenz, sagen Sie mir nur, was man jetzt noch für ein Wunder, für eine große Narrheit auf der Welt ausgeben soll, wenn Ihnen so was passieren konnte!«

»Ja, ja, Hermine, klage mich nur an, fälle das Urteil, verdamme mich – ich, ein erbärmlich Gefangener, muss es hören und ertragen.«

»Unter die Gefühlsmenschen und Poeten zu gehen in Ihren Jahren, nach Ihren Erlebnissen und Genüssen!«

»Ein Blitz hat mein altes Herz getötet, die junge Seele desselben hat sich aufgeschwungen in ein besseres, reineres Dasein! ... Nein, Hermine, ich will das Lächerliche meines Zustandes nicht wegleugnen und bemänteln, aber gestehen muss ich, dass eine Verrücktheit um dieses Minnele mir der höchste Verstand, die tiefste Weisheit, des Alters unvergängliche Ehre zu sein dünkt.«

»Das mag wahr und gut sein, Exzellenz; aber Ihr bloßes Seufzen, Ächzen, Augenverdrehen soll doch nicht« –

»Nein, nein, Hermine ... mit dem Seufzen uns Sehnen soll's auch ein Ende haben. Minnele ist in meinen Händen, Minnele soll auch mein sein und nun ohne Verzug.«

Die Baronin rechte ihm ein Glas hin und sagte:

»Angestoßen! Auf diesen männlichen Entschluss hin, Glück auf, Exzellenz!«

»Glück auf«, sagte seine Exzellenz, das Glas bis auf den letzten Tropfen leerend.

Dann fuhr er fort:

»Aber nun, Hermine, du weißt, es handelt sich hier nicht bloß darum, das schöne Minnele auf ein schönes, einsames Schloss zu führen, Minnele dort abzusperren und mit Gewalt festzuhalten; ich muss es dahin bringen, dass mir dieses Kind, wenn auch mit einigem Sträuben, freiwillig und ergeben in das Unvermeidliche folge, wohin ich will. Minnele muss, gefesselt von dem Gedanken, dass sie meine durch die Kirche angetraute Gemahlin sei, nach und nach an meinen Umgang wie an eine vernünftige Notwendigkeit sich gewöhnen, muss, wie gesagt, freiwillig bei mir bleiben, muss mich hegen und pflegen wie eine liebe, treue Gattin – ohne dass ich selber natürlich daran denke, sie als meine wahrhafte Gattin zu betrachten. Dahin will und muss ich's bringen, wenn ich mit dem Fange zufrieden sein soll; und darum, o teure Hermine, eröffne mir deinen Plan zu diesem Meisterstück noch einmal – fürstlich sollst du belohnt werden, fürstlich, Hermine, darum sag' noch einmal an!«

Die Baronin trank nun wieder und sagte dann:

»Nun denn! Mein wohlerwogener Rat ist der: Morgen früh, anstatt abzureisen, wie ich Minnele bereits angekündigt habe, sende ich aus meiner Wohnung in der Stadt einen Expressen nach der Villa, der Minnele benachrichtigen soll, ich sei plötzlich krank geworden, die Reise sei aufgeschoben, mein liebes Kind möchte unverweilt bei mir erscheinen. Minnele natürlich wird dem Rufe augenblicklich folgen. Sie wird bereits den Doktor bei mir finden, der sehr besorgt meinen Puls fühlt, sehr nachdenklich seinen Kopf wiegt, überlegend, welches Mittel wohl am ersten ratsam wäre; endlich wird er sagen: Frau Baronin, Sie müssen heute noch die Stadt verlassen, müssen Landluft suchen, wo es auch sei, nur muss es in einer freien, gesunden, gebirgigen Gegend sein. Darauf erwidere ich nach einer Weile: Wenn ich gewiss wäre, eine weitere Reisetour zu vertragen, dann wüsste ich wohl, Herr Doktor, wohin ich reisen sollte: eines meiner Schlösser liegt so schön und gesund in den Bergen! Der Doktor billigt den Entschluss und drängt aufs Neue, schleunigst abzureisen. Hierauf will ich zu Minnele sagen – und ich stehe dafür, es soll ihr zu Herzen gehen: Minnele, willst du noch einmal mein geliebtes Kind sein und mich begleiten und pflegen in den Tagen des Übels? Ohne Zweifel geht Minnele freundlich darauf ein – wir reisen ab – wir kommen nach kurzer Fahrt auf der schönen Felsburg Ihrer vielen Abenteuer an – und haben die Taube im Schlag! Natürlich lasse ich den Doktor auf das Land nachkommen und schon infolgedessen – hahaha – werde ich mich gleich am ersten Tag nach unserer Ankunft schlechter fühlen. Plötzlich, Angesichts des Todes wird sich dann mein Gewissen regen. Ich sende einen Eilbote nach der Hauptstadt, lass den Priester, der die Vermählung so schön vollzogen hat, zu mir kommen, scheine ihm zu beichten, erhalte dafür von ihm die Absolution und die Hostie und die letzte Ölung; werde auf einmal äußerst fromm und tiefsinnig, rede viel von der Vergebung der Sünden, vom reinen Christenherzen, von den Kindlein, die zu mir kommen sollen, von den glücklichen Seelen, die entlastet aufwärts steigen – und rate dem Minnele, das natürlich sehr gerührt sein wird von diesen Sprüchen, rate ihr also, da ich meinen Gewissensrat bald in die Stadt entlassen müsste, die kurze Gelegenheit zu benützen und dem Geistlichen zu beichten. Minnele wird's mit Freuden tun. In der Beichte nun ...«, fuhr die Baronin fort, nachdem sie wieder getrunken und eingeschenkt hatte, »in der Beichte wird der Priester ganze Kannen kirchlicher Salbung über Minneles kindliche Seele gießen, wird ihr sagen: jetzt, nachdem sie ihm gebeichtet und alles anvertraut, müsse nun auch er ihr ein heiliges Geständnis ablegen, des Inhalts: dass mein Onkel oder vielmehr der Gatte Minneles damals nicht gestorben sei, sondern das er sich wunderbarlich wieder erholt habe, dass er lebe und das man nur aus Rücksichten bisher gezögert habe, ihr die große, wichtige Nachricht mitzuteilen. Nun, das wird eine klaftertiefe Wunde in Minneles Herz schlagen; aber sie wird zu heilen sein. Der Priester wird sie waschen diese Wunde, mit dem geweihten Wasser seiner Tränen, wird sie bestreichen mit dem heiligen Chrisam seiner Worte, wird sie verbinden wie ein handfester Chirurg auf ein jenseitiges Leben, wo alles Verrenkte wider tannengerade werden wird. Sobald nun hierauf das erste Wundfieber vorüber ist, erscheinen Sie, Exzellenz, auf einmal in dem schönen Felsenschlosse als Freund des Grafen von Guttenhof, und wenn sich die wunderliche Närrin so ziemlich an Ihr Gesicht gewöhnt hat, treten Sie auf als Graf von Guttenhof selbst; endlich kommen Sie als gestorbener Onkel zum Vorschein – und zuletzte kurz und rund als Minneles lebendiger Gemahl. Es wird sich zeigen, wie weit die Gewalt der Religion, die Überredung des Priesters, die Überwältigung der Umstände vermocht haben; – bleibt der schöne Trotzkopf immer noch steif und widerspenstig, dann, Exzellenz, verfahren Sie, wie ich Ihnen gesagt habe. Sie lassen ihr eines schönen Morgen Schmuck und Kleider nehmen, sperren sie zur Probe vierzehn Stunden bei Brot und Wasser pennsylvanisch ab, stelle sie dann in ihrem ländlichen Anzuge auf die Straße und lassen sie überlegen, ob sie als treue, fromme Gattin freiwillig zu Ihnen zurückkehren oder arm und elend nach ihrer Heimat wandern wolle, wie sie gekommen sei. Kehrt sie zu Ihnen zurück, dann gut, dann vortrefflich, der Sieg wird glänzend sein. Will dir Kreatur aber wirklich auf und davon – dann gebrauchen Sie Ihr Hausrecht und führen sie mit Gewalt in Ihr Schloss zurück, nebenbei bemerkt: sie seien nicht der Mann, der mit sich scherzen lässt – und Sie wissen aus Erfahrung, Exzellenz, was Ihre Mittel der Strenge schon Wunder getan haben!«

»Gut, gut«, sagte Seine Exzellenz und trank sein neues Glas aus: »Der Plan ist teuflisch, aber trefflich ausgedacht. Ich hoffen, dass mir die Anwendung der Gewalt erspart bleiben werde. Wenn der Geistliche seine Aufgabe recht erfüllt, so wird sich vieles machen lassen. Ich glaube, Minnele von der sanften, frommen Seite angepackt, wird endlich tun, was man fordert.«

»Um den Geistlichen ist mir nicht bange. Ein vor der Torsperre entsprungener Theologe und nunmehr wohl durchtriebener Advokatenschreiber, die geniale Karikatur zweier Stände, wird seiner Rolle gewachsen sein. Hat er nicht bei der Vermählung Minneles trefflich assistiert?«

»Das hat er, das hat er ... Namentlich muss Minnele durch den Gedanken, dass sie wirklich mittelst eines gültigen Eheverbandes an mich gefesselt sei, gefasst und gehalten werden.«

»Natürlich; und ist es einmal Zeit, wollen Sie den gleichgültig gewordenen Schatz wieder los sein, so machen Sie die Türe auf und sagen: mein Kind, eine Ehe, die ein Advokatenschreiber unrechtmäßig eingesegnet und sonst keine Behörde legalisiert hat, wirst du nicht für heilig halten; die Zeit ist da, die Täuschung hat ein Ende!«

Es entstand eine Pause; ringsum war es stille, nur zwei Gläser stießen in der Laube leise uns lustig wieder an.

Nach einer Weile sagte Seine Exzellenz:

»Was für eine stille, kühle, angenehme, zu verliebtem Ungestüm geschaffene Nacht ist das, Hermine!«

»Finster und närrisch genug, wenn man an der Seite des Freundes bei einem Glase in der Laube sitzt!« erwiderte die Baronin.

»Ob Minnele – dieses unaussprechlich herrliche Kind – ob es nun wohl schläft? – ob es wohl träumt? – ob es wohl mit seinem verklärten Geiste jetzt auch auf Erden ist, wo leider, leider so viel Sünde tückisch lauernd auf und nieder wandelt! ... O, mir ist – wie jener wackere Kavalier Mephistopheles gesagt hat – mir ist wie dem Kater, der sachte, sachte um eine Feuerleiter streicht!«

»Das ist Poesie, die ich auch liebe, Exzellenz – können Sie etwas mehr von diesem Goethe'schen Höllenzwange auswendig?«

»Leider nein – aber es wäre auch nicht lange Zeit mehr, holdeste Hermine – Horch! Es schlägt die zwölfte Stunde. Lass uns nach der Villa gehen.«

»Noch dieses Gläschen, Exzellenz. Tun Sie nur Bescheid. Nun, was wir wünschen, was wir lieben!«

Und die Gläser stießen wieder an.

»Hm ... Dass du ihr den Schlaftrunk nicht hast beibringen können, Hermine. Es ist sonderbar; es ist schlimm ...«

»Ja, es war mir ärgerlich genug. Es war ihr am Tage unwohl geworden, daher war sie abends nicht zu bewegen, auch nur eine halbe Tasse Tee, in die ich ihr das Tränkchen gemischt hatte, zu sich zu nehmen. Doch es hat nicht viel zu sagen. Schlafen wird sie; schon in Folge des Unwohlseins, Exzellenz – nun denn, meinetwegen, auf den Weg! Später wollen wir noch ein Fläschchen in der Laube trinken – Streichen Sie denn wie ein Kater, sachte um die Feuerleiter! ...«

Beide brachen nun auf und gingen leise und vorsichtig einen Sandpfad des Parkes nach der Villa hinauf ...

Eine Weile blieb es lautlos stille hinter ihnen; dann aber regte sich's in der Nähe der Laube, Schritte wurden hörbar auf dem Sande neben der Mauer, die Äste des kleinen Gesträuches rauschten und knisterten – und plötzlich brach eine schwarzgekleidete Frauengestalt unter dem Nussbaum hervor, die Arme entsetzt und stehend gen Himmel gestreckt, das Haar aufgelöst und fliegend im Nacken, die Schritte wankend und ungewiss, wohin sich flüchten und wenden.

So taumelte die Gestalt eine Weile, angetrieben von unaussprechlichem Entsetzen und wieder gelähmt von der Angst des Todes hin und wider, floh einige Schritte gegen die Villa, dann wieder zurück n der Richtung nach dem Nussbaum, immer die Hände gen Himmel gestreckt, verzweifelte Hilferufe auf den Lippen, die Haare aufgelöst und vollwogend im Nacken – bis es endlich schien, das Bewusstsein verlasse die arme Fliehende, die letzten Kräfte weichen aus den Gliedern. So stürzte sie auf einmal jäh danieder auf den Sand des Pfades, wiegt sich wie ein Rohr im Winde hin und her, begrub dann ihr Angesicht in beide Hände, neigte ihr Haupt zu Boden und berührte mit der Stirne den Sand des Weges ...

Es war Minnele.

In diesem Augenbick schlug eine Uhr in der Villa zwölf; man hörte die einzelnen Schläge ganz deutlich durch ein offenes Erkerfenster tönen; dann entstand eine kurze Pause – und die Spieluhr ließ die Melodie erklingen:

Reich' mit die Hand, mein Leben,
Komm' in mein Schloss mit mir;
Es hilft kein Widerstreben,
Zwei Schritt' nur ist's von hier!

Nachdem diese Melodie verstummt war, mochte es etwa drei Minuten stille bleiben, als in der Richtung des Nussbaumes die leisen Worte hörbar wurden:

»Minnele, Minnele! Bist du in der Nähe, Minnele?«

Da sich keine Antwort vernehmen ließ, verstummte auch die Stimme eine Weile wieder, bis sie aufs Neue etwas lauter fragte:

»Minnele, hast du Wort gehalten, bist du hier?«

Es erfolgte wieder keine Antwort.

In der Gegend des Nussbaums, außerhalb der Mauer, wurden jetzt vorsichtig hin- und hergehende Schritte hörbar, dann hielten sie wieder stille, gingen von Neuem auf und ab, bis sie zuletzt wieder stille hielten und die vorige Stimme stärker als die beiden Male rief:

»Heda! Heda, Minnele! Ich bin's, Justus Erdlein, dein Landsmann, sag' bist du in der Nähe? Das ist der Nussbaum, Minnele – Minnele! Heda, Minnele!«

Jetzt erreichten diese Töne ihr eigentliches Ziel.

Minnele erhob sich auf den Knien empor, horchte, erkannte die Stimme, sprang auf, horchte wieder, erinnerte sich deutlich, was die Stimme, was der Mann da wolle, warf nun wieder – aber mit ganz anderen Gefühlen, mit der ganzen Wonne erhoffter Rettung – die Arme gen Himmel und eilte zurück unter den Nussbaum, woher sie gekommen war.

Justus Erdlein hatte indessen, weil noch immer keine Antwort erfolgte, auf ein neues Mittel gesonnen, sich besser bemerkbar zu machen.

Er tappte mit den Händen auf der Straße hin und her, um große Steine aufzulesen, die er dann, als er wirklich welche fand, unter dem Nussbaum draußen also schichtete, dass er darauf stehen und so seinen Freundesruf besser über die Parkmauer senden konnte.

»Minnele – Minnele«, fuhr er dann auf seinem höheren Standpunkte fort – »Minnele, bis du hier? Ich bin's, dein Landsmann, der dich ruft. Bist du hergekommen, Minnele, treu den Worten, wie wir's abgeredet haben?«

Keine Antwort, aber ein leichtes Fliehen von Fußtritten über den Sand des Parkes ließ sich hören.

»Minnele, Minnele«, fuhr Erdlein fort, »ich bin spät gekommen – gelt, das hat dich schon betrüben wollen? Ist es dir zu spät geworden? – Minnele! Ich habe nicht früher los und ledig werden können.«

Keine Antwort, aber ein Rauschen und Knistern in den Zeigen des Mauergesträuches ließ sich drinnen hören, als ob jemand eilig sich durch das Gebüsch drücke.

»Minnele, Minnele«, sagte Erdlein nach einer Pause wieder – »Minnele, ich höre ein Geräusch da drinnen, bist du's? Wirst du jetzt deine Stimme hören lassen? Ich bin schon zweimal hier gewesen, aber ich habe immer Leute da herum fachieren sehen, da bin ich sachte wieder fortgegangen und nun wiedergekommen.«

Keine Antwort; aber an dem Nussbaum war's, als klimme jemand unter atemloser Mühe den Stamm hinan und über die Äste desselben in der Richtung nach der Mauer weiter.

»Minnele, Minnele, ich höre klettern, näher kommen, über mir sind Ast und Zweige unruhig – sprich, o sprich, mein Kind, was ist's? Du wirst dich doch nicht in Gefahr begeben?«

Zwei Füße suchten von den Nussbaumzweigen wieder einen festen Halt und traten auf die Mauer –

»Minnele, um Gotteswillen – Minnele, was hast du vor? Rede! Sprich! Ich muss vor Angst schier sterben!«

Keine Antwort; aber nachdem die Nussbaumäste noch eine Weile gewankt und gerauscht, die zwei zarten Füße einige Augenblicke auf der Mauer festen Halt gefunden hatten, schwang sich unter einem tiefem, erschütternden Seufzer ein menschlicher Körper in die Luft, sank, wurde zwei Sekunden unhörbar, traf den Boden heftig, wankte hin und her, brach zusammen, raffte sich aber im nächsten Augenblicke wieder empor – und Justus Erdlein fühlte sich plötzlich am Arm gefasst und krampfhaft fortgezogen, indem die Worte hörbar wurden:

»Erdlein, Erdlein – fort von hier! Fort um Gotteswillen! Fraget mich nicht und schützt und schirmt mich – hier bin ich, Minnele, Eure Landsmännin – o Not! O Jammer!

Erdlein fragte in der Tat nicht mehr; mit kräftiger Hand fasste er nur den nach und nach erlahmenden Arm des unglückseligen Kindes und eilte dem für ihn so heiligen Befehle getreu und selber stöhnend vor Angst und Betäubung, die Straße weiter, den nächsten Weg der Stadt entgegen... 

Der Mond, als wäre er neugierig und besorgt, ob die Flucht des armen Kindes auch gelinge, zog nun seinen Wolkenmantel auseinander und sah hernieder auf die Straße, wo die Fliehenden rastlos weiter eilten.

Er sah blass und traurig drein, als ob er dächte:

»Du arme, arme Welt da drunten! Ihr armen Menschlein auf der Erden! Was habt ihr zu erdulden und zu tragen, stets zu fürchten und zu sorgen!«

Doch lag auf seinem Angesichte auch ein Schimmer holden Lächelns, denn die Flucht des Kindes und des treuen Freundes schien nun bestens zu gelingen.


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