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Viertes Kapitel

Am folgenden Morgen, um die Zeit des Sonnenaufgangs, schritten zwei Männer zum nordöstlichen Teile der Stadt hinaus und waren ernsthaft in ein Gespräch vertieft.

Der eine der Wanderer war etwa zwanzig Jahre alt, schlank und kräftig gebaut und von Kopf zu den Füßen ländlich gekleidet. Er hatte offenbar einen weiten Marsch vor, denn er führte in der Hand einen wuchtigen Knotenstock und war zu einer Reise tüchtig befrachtet.

Der andere Wanderer war an die sechzig Jahre alt, trug einen breitkrämpigen Hut und einen langen, blauen Rock und ging mit dem Burschen augenscheinlich nur begleitungsweis eine Strecke, den er führte weder Wanderstock, noch sah er für eine Reise gerüstet aus.

Der Letztere war Justus Erdlein, das Blaumeisle, und der junge Wanderer neben ihm war Wolfgang Granach, der nach der Hauptstadt gekommen war unter dem Vorwand, ein Geschäft abzumachen, in der Tat aber – um sich an Ort und Stelle zu erkundigen über Schön-Minneles Glück, von dem er gehört hatte und über ihr neuestes Leben.

Allerlei Umstände, die wir noch erfahren werden, hatten zusammengewirkt, Schön-Minneles Ruf in der Heimat zu verunglimpfen; der alte Granach, ohnehin erbittert genug über seines Sohnes »passiven Widerstand« gegen alle Heiratsprojekte, hatte den Gerüchten, mehr aus Politik denn aus bösem Herzen, allen Anschein von Wahrscheinlichkeit zu geben gesucht, wodurch er auf die Liebe und die Hoffnungen seines Sohnes einzuwirken meinte, in der Tat auch von den Hoffnungen desselben viele tötete, dessen Liebe aber nur verwundete und trotziger machte.

Eines Morgens war der Sohn ohne Wissen der Eltern fort, und ein Brief, der zwei Tage später ankam, sollte denselben erst über die Reise und die Absichten des Sohnes Aufschluss geben.

»Liebe Eltern«, schrieb Wolfgang mit voller Aufrichtigkeit, »ich bin auf dem Weg nach der Hauptstadt; bekümmert euch nicht um mich, ich werde bald wieder bei euch sein; aber eh' ich ruhig bei euch bleiben kann, muss ich von Minnele wissen, was die Wahrheit ist. Ist Minnele geworden, wie die Rede geht und wie die Fähringer-Toni heim geschrieben, so komm' ich wieder und bin euch in allen Stücken ein gehorsamer Sohn; ist Minnele geblieben, wie sie gewesen ist, da werd' ich euch bitten, gebt mir ein Jahr Bedenkzeit, und ich will mit Gottes Hilfe es dahin bringen, dass ich auch so genennet werden darf euer folgsamer Sohn, denn auf Minnele, weiß ich, darf ich nimmer und nimmer zählen.«

In der Hauptstadt war Justus Erdlein zuerst das Ziel des jungen Wanderers gewesen.

Erdlein musste von Minnele wenigstens auch so viel wissen als die Fähringer-Toni und war auf alle Fälle eine zuverlässigere Quelle als diese. Durch Justus Erdlein auf Minneles Spur geführt, konnten die Forschungen noch genauer fortgesetzt werden.

Wolfgang hatte tatsächlich nichts im Sinne, als durch ehrliches Forschen so viele glaubwürdige Beweise über Minneles neues Leben zu sammeln, dass er daheim nötigenfalls auch als gewichtiger Zeuge, und zwar für Minnele auftreten konnte; dass er nicht als Bewerber um Minneles Hand und Herz nach der Hauptstadt ging, das hatte er den Eltern ausdrücklich geschrieben und hatte es aufrichtig so gemeint.

Das war das Löbliche an Wolfgangs Liebe, dass sie, obwohl nun ohne Hoffnung, Minnele je zu besitzen, doch nicht aufhörte, über deren guten Ruf mit zärtlichster Sorgfalt zu wachen.

Während eines Aufenthaltes von fünf Tagen in der Hauptstadt erfuhr nun Wolfgang Granach aus dem Munde des Justus Erdlein genau, was sich mit Schön-Minnele auf der Reise begeben und wie sie später dem Justus und den Landsleuten erschienen war. Damit natürlich nicht ganz zufrieden, durchkreuzte Wolfgang von Morgen bis Abend in alle Richtungen der Stadt und suchte Minneles Erscheinung in den Straßen, in den schönsten Luxusgewölben, in Kirchen und namentlich in solchen Equipagen, welche von Braunen in Silbergeschirr gezogen wurden.

Aber er suchte vergebens.

An jeder weiteren Spur und Kunde endlich verzweifelnd, sagte Sonntagabends Wolfgang zu Justus Erdlein:

»Mein Geschäft ist abgemacht, morgen in aller Frühe reis' ich wieder heim.«

Justus hatte dagegen nichts einzuwenden und erwiderte nur:

»Wenn du früh genug aufbrichst, kann ich dich bis vor das Tor begleiten.«

So geschah es denn, und am Morgen nach der Vermählung Schön-Minneles gingen beide, wie erwähnt, zum nordöstlichen Tore der Stadt hinaus.

Justus, welcher wirklich nicht anders meinte, als dass Wolfgang eines gewöhnlichen Geschäftes halber nach der Hauptstadt gekommen, fand es ganz natürlich, dass derselbe im Augenblick der Abreise unter anderem auch wieder vom Schicksal verschiedener Landsleute und besonders von Minnele zu reden begann, ja, es freute den Alten herzlich, seine Erfahrungen und Meinungen namentlich über die Letztere wieder an Mann zu bringen, und er sagte denn schließlich:

»Wolfgang, recht ärgerlich ist es mir nur, dass wir gestern, sonntags, nur für den Wind auf dem Domplatz gestanden. Minnele kam nicht, – ach, sie hätte kommen sollen. Ich sage dir, Wolfgang, etwas Gleiches ist noch nicht auf der Welt gewesen und kommt nicht mehr auf die Welt.«

»Ich glaub' es wohl«, erwiderte Wolfgang nach einer Pause, indem er schnell seitwärts blickte und mit dem Rockärmel über die Stirne fuhr, »ich glaub' es wohl. Minnele in so viel Staat und Herrlichkeit, das muss schon was bedeuten.«

»Wäre sie wieder gekommen und hätte uns mitsammen da stehen sehen, ich schwöre drauf, sie hätte ihren Wagen halten lassen, wäre ausgestiegen, hätte uns die Hand gegeben und gesagt: Erdlein, Wolfgang, liebe Landsleute, wie geht's? Ei, dass ich euch wieder sehe und ein Wörtlein mit euch reden kann!«

»Hm. Das glaubt Ihr, Justus? Wieso glaubt Ihr das? Minnele hat wohl schon zuvor so freundlich aus dem Wagen gesehen, dass Ihr das für möglich haltet?«

»Das hat sie! Das hat sie! O, das ist ein Freudenrot gewesen auf ihrem Gesicht; ein Lächeln; und ein Winken mit dem Fächer und mit dem Schnupftuch – wäre nicht alles wie im Sturmwind vor sich gegangen, ich glaube fest, Minnele hätte schon vorigen Sonntag halten lassen und wäre zu uns heraus gekommen.«

»So hätte sie ihr Glück nicht stolz gemacht« –

»Das könnte nur die hellste Verleumdung sagen!«

»So hätte sie im Glück ihre Heimat noch nicht vergessen« –

»Noch viel lieber gewonnen! Lieber gewonnen, drauf nehm' ich Gift, sag' ich dir!«

»Mir geht es auch wie Euch, lieber Justus. Hab' ich einmal Vertrauen auf jemand, so ist's wie festgemauert; kein Sturmwind loser Mäuler rührt und rüttelt es mehr. So hab' ich gleich das Briefgewäsch der Fähringer-Toni für null und nichtig erklärt. Das ist eine Nächstengeißel! Sie hat auch heimgeschrieben, Minnele verdanke ihr Glück einem reichen, alten Narren von Sentis, halte mit ihm geheime Zusammenkünfte in öffentlichen Gärten, lasse sich von ihm kleiden, verkösten und Wohnung geben, verfahre Geld extra in Fiakern und rauche Zigarren; – kurz, lieber Justus, dass ich Euch nur alles sage, die Fähringer-Toni hat heimgeschrieben, Minnele führe ein gottloses Leben und sei verloren für Zeit und alle Ewigkeit.«

Justus Erdlein blieb stehen und wechselte schnell die Farbe.

»O verrucht! Verrucht«, rief er zitternd vor Entrüstung, »Soll eine solche Kreatur auch Leben haben? Soll man nicht hin und dieser – dieser« –

»Seid ruhig, Erdlein. Diese Prophetin hat nicht einen ganzen Gläubigen gefunden. Das ist auf einmal zu viel gewesen. Hätte die Verleumderin langsam getan und feiner, so wäre schon Platz gewesen in dem und jenem Glaubensbekenntnis, so aber ist fast alles zu Boden gefallen.«

»Ich will so was auch hoffen von unsern Landsleuten.«

»Verlasst euch drauf ... Mir selber hat bald ein Traum ganz anderes gezeigt, lieber Erdlein, und daran will ich halten.«

»Was ist's gewesen, Wolfgang? Wir reden gerade davon, und über Minnele kann ich nicht genug Liebes hören.«

»So hört ... Es ist vierzehn Tage her; da schlaf' ich einmal in Gedanken an die Lästerbriefe der Fähringer-Toni ein und bin im Traum, ich weiß nicht wie, auf einmal in der Hauptstadt da. Es ist gegen Abend; die Straßen sind mit Blumen und Millionen Lichtern ausgeschmückt, und alle Menschen haben ihr Geschäft aus den Händen gelegt und rufen: Wo ist sie? Wo ist sie? Und auf einmal dringt alles um ein großes, schönes Haus zusammen, und das Haus hat droben im zweiten Stock ein Kapellchen, für alle Augen offen, und in dem Kapellchen steht Schön-Minnele in Gold und blauer Seide, einen Heiligenschein über sich, und neigt ihr Haupt zur Linken, wie es an dem Muttergottesbild zu sehen ist, und breitet ihre weißen Hände ein wenig aus, als wolle sie in Bescheidenheit sagen: Wie wird mir doch so viel Ehre zuteil, ich bin Minnele und nicht vom Himmel auf Erden gekommen, wie ihr meint. Aber solche Worte hat man nicht vernehmen können vor Gebraus der Stimmen und Wagen, weil Arm und Reich und Hoch und Nieder gekommen sind voll Staunen und Verehrung. Ich selber habe mich weit vom Gedränge hinter eine Mauer verborgen, und nur von Weitem zugesehen, wie man Minnele verehrt, und es ist mir schwer zu Mut gewesen. Wie ist doch das anders, dachte ich und sagte es auch in aller Stille vor mich hin – wie ist das anders als die Lügenbriefe der Toni sagen und berichten! Möge doch der Himmel solche Zungen strafen, die also lügen und verleumden! Aber meine Stimme hatte auf einmal die Gewalt vom Donner angenommen, und alles zu Wagen und zu Fuß drehe sich auf meine Worte rückwärts nach der Mauer, wo ich stehe, und auch Minnele sucht nach mir mit ihren heiligen Augen – da erschrak und erwachte ich und fühlte noch lange ein Zittern und Beben am ganzen Leibe; aber meine Freude ist größer gewesen, denn ich habe Minnele gesehen, so schön, so rein und geehrt – ich glaube von jetzt an keinem Menschen mehr, der Übles von ihr sagt; dem Traum aber will ich glauben und vertrauen!«

»Das nenn' ich einen Traum! Wahrhaftig! Der Sache aus den Augen geschnitten!« sagte Erdlein, »eine Heilige, das hab' ich immer behauptet und behaupt' es noch, ist Minnele – eine Heilige auch im Glück. O Wolfgang, du hättest sehen sollen, wie sie mir zugelächelt und zugewinkt hat aus ihrem Wagen – mir, Wolfgang, dem elendiglichen Durchbrenner auf der Reise – o nur einmal noch das Glück, ihr auf Wortweite nahezukommen, das soll eine Erklärung und eine Freude geben, wie noch keine gelärmt und gejubelt hat.«

»Ja, Erdlein, über Eure Flucht müsst Ihr dem Minnele noch einmal Aufschluss geben; es muss das arme Ding recht geschmerzt haben, dass ihr damals alle, Mann und Maus, davon gegangen seid.«

»Ich weiß, was ich tue. Ich schreib' einen Brief; in diesem Brief schreib' ich die ganze Sache eben und reinlich auf, wie es damals hergegangen ist; dann schreib' ich in diesem Brief auch sonst noch alles, was ich weiß und sagen will; und diesen Brief, wenn er fertig und versiegelt ist – steck' ich zu mir – und mag mir jetzt Minnele zu Fuß oder im Wagen in die Wege laufen, diesen Brief werf' ich ihr zu und bring' ihr auf diese Weise allen Aufschluss vor Augen und will dann ruhig sterben, wenn es sein muss; Minnele wird dann wissen, wie sie mit mir und der Welt daran ist.«

»Das ist gut, Erdlein ... Aber dann möcht' ich euch bitten, schreibt in euern Brief auch noch was anderes, das ich euch sage ...«

»Was meinst du, Wolfgang?«

»Schreibt doch – oder wenn Ihr Minnele gar auf Wortweite sehen und sprechen solltet – saget ihr, es sein doch recht verwunderlich ...«

»Nun? Was verwunderlich?«

»Recht nicht recht ...«

»Was gibt es denn noch?«

»... Ihre Mutter sei nicht wenig betrübt, dass ihr Minnele gar nicht, auch gar nicht geschrieben, seit sie in der Hauptstadt sei; es wäre der Mutter doch lieb gewesen, von ihrem Kind zu lesen, dass sie wohl angekommen sei in der Stadt, dass es ihr wohl ergehe unter fremden Menschen, dass sie noch manchmal an die Mutter daheim einen Gedanken habe.«

Justus Erdlein stand wie vom Donner gerührt.

»Minnele hat ihrer Mutter noch nicht geschrieben?« bracht er endlich mit großer Anstrengung hervor.

»Nein, lieber Justus, nicht einen Brief«, erwiderte Wolfgang schmerzlich.

»Auch sonst keine Nachricht geschickt?«

»Nein, lieber Erdlein, auch sonst keine Nachricht.«

Es entstand wieder eine Pause; dann raffte Erdlein seinen schmerzlich zerstreuten Geist wieder zusammen und sagte mit brechender Stimme:

»Minnele hat ihrer Mutter auch kein Geld, nicht einmal einen Gruß geschickt?«

»Nichts ist angekommen, kein Brief, keine Nachricht, kein Geld, kein Gruß ...«

Justus Erdlein sah zu Boden, stierte dann ins freie Feld hinaus, biss sich in die Lippen, fuhr mit den Händen krampfhaft in die Rocktaschen und wieder heraus, stampfte wie ein Wütender auf den Boden und sagte endlich mit Tränen in den Augen:

»O, ich könnte mich selber in Stücke reißen! Ich wollt', ich wäre lieber gar nicht auf der Welt. O, glaub' nur nicht, Wolfgang, dass ich etwa meine, Minnele habe wirklich keinen Brief geschrieben; ich wollte mich jagen, so was zu glauben; aber – Herrgott, Herrgott im Himmel! Ich könnte mich drehen vor Zorn wie die Windsbraut und suchen – suchen, bis ich jemand fände, der schuld ist an allem – Wolfgang, ich sage dir, Minnele hat geschrieben, sie hat Nachricht geschickt, Geld geschickt, Grüße geschickt ... Ist denn nicht alles wie verhext und verschworen gegen dieses liebe, heilige Geschöpf? – Also sind auch Minneles Briefe und Nachrichten wo aufgefangen und stecken geblieben!«

»Das ist auch mein Gedanke und mein Glaube, Erdlein.«

»Eine Teufelei, sag' ich dir; eine Teufelei, Wolfgang – eine Höllenteufelei ...«

»Ja, ja; was auch schuld sei, schuld ist etwas, und wenn ich sagen soll, was schuld ist – Erdlein, die ganze Welt ist eher schuld als Minnele; – das ist mein Bekenntnis.«

»Recht! Wacker! Geh' du mit diesem heiligen Glauben heim, ich bleib' in der Stadt mit diesem Glauben. Sei du daheim ein Würgengel für Lug und Trug, ich will hier herum die Wunden ausheilen, welche böse Zungen ihrem guten Namen schlagen. Eines Tage wird's hell werden, Wolfgang. Eine gesegnete Hand wird den Teufel am Horn fassen – gut, Wolfgang, halte Feuer und Schwert zu Händen, Wolfgang – o, ich sage dir, der Glanz und die Herrlichkeit wird groß sein, wenn wir die Unschuld Minneles ans Tageslicht führen; und das geschieht! Das geschieht! Ich will nicht Erdlein heißen!«

»Das ist ein Wort, Erdlein – Wenn ihrer Zwei gleichen Sinnes sind, haben sie Kraft und Hoffnung und Herzensfreude für Zehntausend ... Lebt wohl, Erdlein. Schreibt mir heim, was Ihr höret ... Minnele grüßt ... Ich sein da gewesen ...«

Dann reichte er dem Justus Erdlein schnell seine Rechte, wendete sich ab und ging seines Weges; während Erdlein erst nach einigem Zögern, als hätte er noch vieles auf dem Herzen, seines Weges ging und in die Stadt zurückkehrte ...


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