Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Am folgenden Morgen hätte man das Leben im Hause der Baronin von Seltern ein Leben mit Choralbegleitung nennen können.

Mit ernster Stimmung rang man sich früher als gewöhnlich aus den Armen des Schlafes; mit den Mienen der Andacht legte man Hand an eine ausgesuchte Toilette, mit einer wehmütigen Feierlichkeit, die viel Ähnliches hatte mit dem Grundton des Aschermittwochliedes:

Was ist der Mensch?
Ach, Staub und Asche!

setzte man sich schon um halb zehn Uhr zum Frühstück.

Die Frau Baronin, ganz, und zwar über die Maßen prachtvoll in Trauer gekleidet, sprach im dumpfen Trommeltone eines Trauermarsches über das alte, aber immer noch brauchbare Thema:

»Der Onkel stirbt«, und ging zuweilen mit einem leise flötenden Hauche zu den Worten über: »Eine liebe Braut ist ihm gefunden!«

Die Barones Eleonor, Halbtrauer in der Kleidung und ganz Trauer in den Mienen, saß wie eine Grotte des Wiederhalles da und seufzte die Worte nach:

»Der Onkel stirbt und – eine liebe Braut ist ihm gefunden!«

Während diese ernsten Töne erklangen und diese dunklen Gestalten am Frühstückstische saßen, hatte sich daneben wie ein Engel des Lichtes mit wehmütigen, aber klaren Zügen Schön-Minnele niedergelassen und hörte schweigend, was geredet wurde, und nahm sich von dem Schmerze des Hauses eben so viel zu Herzen, als ihrer natürlichen Empfindung ziemte und anstand.

Minnele hatte sich nach dem Wunsche der Frau Baronin als Kranzjungfräulein weiß in indischen Musselin kleiden müssen; ein Kranz von weißen Rosen krönte ihre schöne, klare Stirne, und ein Schleier von Seiden-Tüll umfloss außer dem wehmütig lächelnden Angesichte Minneles Haupt und ihre ganze Gestalt.

Um zehn Uhr hielt ein Wagen vor dem Hause, und die Glocke wurde gezogen.

Die Zofe meldete den Rechtsfreund des Onkels, welcher auf den Wunsch der Baronin auch sogleich hereingebeten wurde.

Er erschien in höchster, feierlicher Gala, schwarz von Kopf bis zu den Füßen, ein vollendeter Schwarzkünstler des Rechts; nur die Hände staken in weißen Handschuhen, und der Hals erfreute sich des weißen Ringes einer Atlasbinde, als wäre männiglich zu wissen, dass diese Hände rein seien von jenen tugendhaften Gewalttaten, welche das Recht am Kragen packen und die Treppe hinunterwerfen, wenn es sich erlauben will, gewissen »schönen Fällen der Praxis« seine Huldigung zu entziehen.

Dieses neue, ehrenwerte Mitglied unserer Trauermorgen-Sitzung hatte sich nach feierlichem Eintritt und ehrfurchtsvollem Verneigen nicht sobald am Frühstückstische niedergelassen, als es mit Advokatengeschäftigkeit den Grund sowohl, weshalb es komme, als auch den Grund, weshalb es sofort wieder weiter eilen müsse, des Gläufigsten in genau zurechtgelegtem Vortrage zum Besten gab.

Er komme, sagte der Advokat und klopfte nach jedem zweiten Worte mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf den Rand des Tisches – er komme, um der gnädigen Frau Baronin wiederholt die Versicherung zu bringen, dass die auserwählte Braut des sterbenden Onkels sich zuverlässig einfinden werde, indem sie nach Einsichtnahme in den Ehekontrakt sich dazu erklärt und verpflichtet habe. Diese Beruhigung noch vor ihrer Fahrt nach der Villa der Baronin zu bringen, habe er für die Pflicht gehalten, er müsse sich aber von der Gnade der Baronin die Erlaubnis erbitten, sich sofort wieder entfernen und zum Sterbende voraus begeben zu dürfen, da der feierliche und wahrscheinlich sehr ergreifende Akt der Vermählung »des Todes mit dem Leben« nicht lange dauern dürfte, also vorher noch alle Punkte rein auf dem Papiere stehen müssten.

Die Frau Baronin erteilte dem geschäftigen Rechtsfreund die Erlaubnis, sich zu entfernen, und der Rechtsfreund benutzte die Erlaubnis sich zu entfernen wirklich, indem er sich entfernte.

Die Szene griff ineinander wie die Worte der Königin im Hamlet: »Dank, lieber Rosenkranz und Güldenstern; Dank lieber Güldenstern und Rosenkranz.«

Der Wagen der Frau Baronin hielt nun auch bald vor dem Hause; er war heute geschlossen.

»So lasst uns denn ins Himmels Namen aufbrechen und beiwohnen einer Szene voll Rührung und Schauers am Sterbebette eines halb Verklärten«, sagte die Baronin, das Zeichen zum Aufbruch gebend.

Als Minnele in den Wagen stieg, fühlte sie ein Herzklopfen bis in die Stirnadern hinauf; sie wusste nicht warum.

Die Pferde zogen lebhaft an; nach kurzer Zeit hielt die Equipage vor dem wohlbekannten Eichentor der Villa.

Es brauchte nicht an der Glocke gezogen zu werden, denn der blaue Kammerdiener wartete bereits, das Schloss des halboffenen Torflügels in der Hand.

»Wie geht's Seiner Exzellenz?« fragte die Baronin aussteigend und mit tiefem Seufzer.

»Leichtes Delirium vorüber – lichtere Augenblicke – schlummerähnliche Ruhe, gnädige Baronin«, erwiderte das Berlinerblau.

Die Damen traten in den Park und schritten langsam die Windung eines Sandweges zur Villa hinauf.

»Wer ist bereits da?« fragte die Baronin nach einer Pause weiter.

»Seine Hochwürden, der Geistliche, der Herr Doktor und der Herr Anwalt«, erwiderte der Kammerdiener und blieb ehrfurchtsvoll hinter den Damen zurück, als er merkte, die Baronin wolle keine Frage mehr an ihn richten.

Als man sich der Blumenterrasse mit der Nachtschattenlaube näherte, kam den Damen bereits der Doktor entgegen und sagte:

»Wenn etwas die treffliche Wirkung einer heiteren Seele auf den Körper beweisen kann, so ist es der gegenwärtige Zustand Seiner Exzellenz des Herrn Grafen. Nach meiner festen Überzeugung ist die Krisis seiner Krankheit im gefährlichsten und schmerzlichsten Stadium – das Ende des Herrn ist nahe; aber dennoch bricht die Heiterkeit seines Herzens durch die Trauer und überwindet die Last der Schmerzen. Der hohe Kranke lächelt; er fragt wie ein hehrer Bräutigam nach seinem unbekannten Bräutlein; er kann den Augenblick nicht erwarten, wo er züchtig werde deren Finger berühren und an seine Lippen führen können. Der süße Ton des Jaworts seiner Braut, sagte er, werde die himmlische Musik sein, welche sine scheidende Seele ins bessere Jenseits leiten werde. Beste Baronin, es ist gewiss, Ihr Verdienst um diese letzte heitere Stunde Seiner Exzellenz ist groß; feiner hätte die Seele des ehrwürdigen Greises nicht begriffen und zarter nicht beglückt werden könne, als es durch diesen sinnreichen Akt am Sterbebett geschehen wird.«

»Lasst uns Glück wünschen, dass wir noch etwas zum Trost gefunden und vermocht haben«, sagte die Baronin.

»Aber Eile, Eile, teuerste Baronin, bevor ein Rückfall der letzte im Leben des herrlichen Mannes, unsere Hoffnung täuscht.«

»Ist der hochwürdige Herr und der Anwalt jetzt an seinem Bette?« fragte die Baronin.

»Nur die Hochwürden. Seine Exzellenz hat noch einmal gebeichtet und empfängt nun die Hostie«, erwiderte der Doktor.

»Wer ist der Herr an der Torsäule der Villa, der mit der flachen Hand über den Augen so eifrig nach der Stadt hinsieht?« fragte die Baronin.

»Sie erkennen ihn nicht?« sagte der Doktor, »es ist der Anwalt, welcher mit fieberhafter Unruhe seien Wagen erwartet, der seine Frau und seinen Schreiber nebst der Braut herführen soll.«

Es war auch so.

Der Rechtsfreund trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, ging vor, ging zurück, legte die Hand über die Augen und zog sie wieder herab – endlich, als er die Damen näher kommen sah, eilte er ihnen entgegen und sagte:

»Unbegreiflich, unbegreiflich! Ich könnte vor Unruhe vergehen! Es ist jedenfalls nur eine kleine Störung schuld, vielleicht eine Ungleichheit im Gang der Uhren – aber immerhin, meine Frau und mein Schreiber sollten nicht auf sich warten lassen, sollten, wie ich's ja ausdrücklich verlangt, lieber eine Stunde zu früh als eine Stunde zu spät hier erscheinen. Aber – ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken – da werden die lieben Weibchen wieder am Brautanzug zu prüfen und zu tadeln haben – o, schlage doch in all diese eitlen Weiber – schlage doch das Donnerwetter« –

Die Baronin winkte, sich zu mäßigen, und er ward stille.

Wie meisterlich der Vogel sich zu erhitzen und verwirrt zu stellen wusste! Der wäre wohl auch im Stande gewesen – »um Hekuba, die schlotterige Königin, zu weinen.«

»Lassen Sie uns noch nicht umsonst fürchten und sorgen«, sagte die Baronin seltsam ruhig, »ich bin überzeugt, die Braut wird da sein im rechten Augenblicke. Treten wir vorläufig in den großen Saal, ich will den Kranken sehen und dann zurückkehre, um die Braut demselben vorzuführen.«

Man trat in einen großen, reich dekorierten Saal der Villa, dessen Deckengemälde eine wirksame Szene der Götterversammlung auf dem Olympos darstellte.

Es war ringsum feierlich stille.

Der Doktor und der Advokat zogen ihre Hüte und stellten sich schnurgerade, mit dem Gesichte nach einer großen Glastüre gekehrt, mitten im Saale auf, als gälte es, im nächsten Augenblicke zur Audienz vor einen strengen Herrn und Meister gerufen zu werden.

Die Baronin sagte leise und scheinbar mit jener Beengis der Brust, die von Ehrfurcht, Herzklopfen, großer Erwartung und sorgenvoller Feierlichkeit herrührt:

»Minnele und Eleonora, setzt euch indessen dort auf jenes Ruhebett«, und zum Doktor gewendet, fuhr sie fort:

»Ich will jetzt hineingehen und sehen, wie es steht!«

Der Doktor nickte feierlich, und die Baronin ging den großen Saal entlang der hohen Glastüre zu.

Es war dabei so lautlos im ganzen Saale, dass das Rauschen des Kleides der Baronin auffallend laut vernommen wurde.

Der blaue Kammerdiener war der Baronin auf den Zehen vorausgeeilt, klopfte jetzt sehr leise an der Glastüre und öffnete sie geräuschlos, als die Baronin durch ein kurzes Nicken mit dem Kopfe das Zeichen dazu gab.

Sie trat ein, und der Kammerdiener zog hinter ihr die von innen mit grünem Tuch maskierte Glastüre wieder zu.

Es hatte sich durch die auf und zu gemachte Türe den Blicken der im Saale Befindlichen nichts gezeigt als der schmale Abschnitt eines düster beleuchteten und von allen Seiten sorgfältig verhangenen Zimmers.

Atemlose Stille kehrte zurück

Minnele und Eleonora ließen sich auf das Ruhebett nieder und blickten mit sehr verschiedenen Gefühlen auf die Herrlichkeiten des Saales; der Doktor und der Anwalt blieben in der vorigen, ehrfurchtsvollen Haltung mitten im Saale stehen und wagten es jetzt mit sehr leisem Flüstern, sich einige abgebrochene Worte ins Ohr zu sagen.

Auf einmal tönte ein Glöcklein in dem Krankenzimmer.

Der Kammerdiener ging durch die Glastüre hinein, kam alsbald wieder heraus und sagte leise und feierlich:

»Herr Doktor!« indem er diesem einzutreten winkte.

Der Doktor beeilte sich, dem Rufe zu folgen, und trat ins Zimmer.

Nach einer Weile kam der Geistliche heraus und sagte salbungsvoll und ziemlich laut:

»Sein Geist ist vorbereitet!«

Zu dem Anwalt gewendet, fuhr er fort:

»Und die Braut ist noch nicht da?«

Der Anwalt, welcher auf Kohlen zu stehen schien, erwiderte:

»Leider nein – aber jede Minute, jede Sekunde muss sie kommen!«

»Es wäre jetzt der schönste Augenblick – des Kranken Schmerzen ruhen, sein Herz ist leicht, sein Geist noch einmal helle und sein Gewissen rein wie Abendsternes Licht ... Jetzt, jetzt, keinen Augenblick später sollte geschehen, was zu seinem Heile, zu seinem letzten Erdenfrieden kommen muss.«

Diese letzteren Worte waren äußerst getragen an Minnele und Eleonora gerichtet, von denen erstere wahrhaft gerührt und, über das Versäumnis bebend, zu dem Geistlichen aufblickte, während letztere das Wandgemälde: Ganymeds Entführung nach dem Olymp, recht andächtig zu betrachten schien.

Wieder ging dir Tür des Krankenzimmers auf, und der Doktor kam zurück.

Er ging mit großen Schritten auf den Rechtsfreund los und sagte mit peinvollster Heftigkeit:

»Anwalt, um Gotteswillen, Anwalt, wo ist Ihre Frau mit der Braut? Der Kranke fängt an, sich zu alterieren! Es darf keinen Augenblick gezögert werden, wollen wir nicht alles umsonst angeordnet haben! Die Verantwortung auf Ihr Haupt!«

Der Advokat schien es unter der Last solcher Vorwürfe nicht länger auszuhalten, er schlug sich die rechte Hand flach vor die Stirne und sagte verzweiflungsvoll:

»Unerträgliches Verhängnis! Aber nun noch einen Moment Geduld – nur einen Moment noch – vielleicht sind die Damen schon im Park, vielleicht nur wenige Schritte noch vom Hause – erlauben Sie – ich will sehen! Ich will sehen!«

Und er eilte aus dem Saale.

Im Krankenzimmer tönte das Glöcklein wieder.

Der Kammerdiener trat hinein, kam aber sogleich wieder heraus, die Türe hinter sich offen lassend; – die Baronin, ohne Hut, mit lebhaften Schritten, großen vorwurfsvoll sprühenden Augen und die Arme in feierlicher Exstase auseinander werfend, folgte dem Kammerdiener und rief mit gepresster, von Schmerz und Zorn bebender Stimme:

»Will's denn geschehen oder nicht, was ich angeordnet habe? Soll mir das Ungeschick eines Menschen einen solchen Schmerz verursachen? Wo ist der Anwalt?«

Der Doktor winkte, dass er hinausgegangen sein.

»Doktor«, fuhr die Baronin mit Erschütterung fort: »Doktor, die Schmerzen des Kranken kehren wieder, sein Geist wird umschleiert, seine Lippen fangen an, irre zu reden ... Hochwürdiger Herr«, sagte sie, zu diesem gewendet – »eilen Sie, eilen Sie, mildern Sie wenigstens durch Ihren Zuspruch die Peinlichkeit seines Gewissens, denn es erwacht jetzt mächtiger als je!«

In diesem Augenblicke ging die Saaltüre auf, und der Rechtsfreund eilte herein, erfreut und lebhaft rufend:

»Mein Wagen ist da! Sie kommen! Sie kommen!«

Die Baronin legte ihre Hände aufs Herz, atmete tief aus ihrer Brust, als hätte dieses Wort Erlösung gebracht; sie schlug die Augen zum Olympus empor und sagte mit herrlich-tragischem Pathos:

»O Dank, o Dank! Nun wird noch alles werden! Kommt nun, kommt und lasst uns in das Zimmer des hohen Kranken treten!«

Alle traten in das Krankenzimmer bis auf den Anwalt, der dem Doktor zuflüsterte:

»Ich komme nach, ich will – verstehen Sie? – will meiner Frau den Text lesen und – Sie wissen ja, was in meine Rolle gehört – will mich nach der Braut umsehen!«

Hiermit ging er munter lächelnd aus dem Saale.


 << zurück weiter >>