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6.

Muckerl ... wie weh' ist manchem hinterher geschehen – besonders uns Kindern, als man dein Unglück erfuhr und die Ursache, die dich in den bittern Tod getrieben!

Wie herzbewegend war's, als denselben und die nächsten Tage dein treues Taubenvölklein verstört, vereinzelt, auf den Dächern und Dachrinnen saß und selbst das Futter verschmähte, das ihm andere Hände streuten! ...

Wie ging nun auch unter den Erwachsenen ein stilles Weh von Haus zu Haus, als berichtet wurde, dass zwei Tage später, um die Zeit des Sonnenunterganges, dein hechtgrauer Tauber auf der Kirchhofmauer saß – gerade über der Stelle, wo du eingegraben lagst – und bald den Kopf hob, bald senkte, als müsse er seinen Herrn wieder auferstehen sehen und pfeifen hören, wie niemand mehr auf dieser Welt zu pfeifen im Stande war ...

Ach – dieses Unglück; – dieser Urgrund alles Unglücks, welcher offenbar Muckerls Herz gebrochen und seinen Geist verwirrt und umnachtet haben musste – hier ist er!

Muckerl hatte, wie berichtet worden, am Dreifaltigkeits-Sonntage seine zwei Lieblingstauben nach Losheim getragen und war dort von dem alten Mütterlein wie gewöhnlich mit freudigem Gruße empfangen worden.

Es war ihm nur aufgefallen, dass der Kopf der Mutter etwas mehr nach vorne hing und etwas stärker wackelte, als da er sie das letzte Mal verließ ... »Sie wird halt immer älter«, dachte er mit leiser Wehmut, »aber ich will nichts merken lassen, Gott erhalt' mir nur mein Mütterlein noch lange!« – Auch die Mutter ließ nur merken, »dass ihr der Schwindel heute etwas übler nachstelle«, – und lachte bald so heiter und so hellauf wie immer, wenn ihr der Muckerl das neue Lieblingspaar Tauben wies, das nun ihrem Schutze und ihrer Pflege anvertraut werden sollte ... Die Tauben waren lange in dem reinlich vergitterten Raume, wo sich das einladende Nest befand, aus welchem schon so viele geflügelte Familien hervorgegangen, und Muckerl und die Mutter standen noch immer bewundernd, glücklich, zeitweise in die Hände klatschend, vor dem Gitter; dann sagte die Letztere, Futter und Wasser an eine andere Stelle rückend: »Lassen wir ihnen Ruhe; – setz' dich hin, dass sie dich noch recht lange ansehen können – pfeif' ihnen auch noch etwas vor – ich will nach dem Mittagessen sehen!«

»Nur nicht viel, ich bin mit allem zufrieden«, sagte Muckerl, »auch hat es keine Eil' – ich hab' noch einen Gang in der Nähe! ...«

»So gehst du wieder fort?« fragte die Mutter, kaum im Stande, den heftig geschüttelten Kopf etwas zu heben; »Nun, dann komm' bald wieder – komm' bald wieder! – Du bleibst dann bis zum Abend ... Wie bin ich heut' so freudig – es geschieht uns heut' noch was zu Liebe, Muckerl – vielleicht erfind' ich's – tu ' ich's – warum gehst du wieder fort?«

»Der Kohlumer Andres will mir ein Paar Tauben zeigen – dann bring' ich ihn selber her, der soll mir Augen machen über unsere Herrlichkeit!« sagte Muckerl.

»Ja, ja«, bemerkte die Mutter zerstreut und eine Stuhllehne fassend, »geh' nur – und komm' wieder ... Bring' ihn mit, bring' ihn mit! – du sollst dich freuen und er auch ... Ich erfind's, Muckerl – und das wird's auch sein, was geschehen soll – uns zu Liebe – uns zu Liebe!«

Für Muckerl lag nichts Auffallendes in diesen Reden, es kam noch jedes Mal so, wenn er bei der Mutter zu Besuch war – alte Leute sind ja wunderlich ... Er ging daher ... und als er eine Stunde später mit dem Kohlumer Andres wieder zu dem Ausnahmhäuschen kam, sah er die Mutter wirklich wohlbehalten an dem Haustürpfosten lehnen, nur schien ihm, als er näher kam, das Wackeln des Kopfes noch um vieles stärker, und ein krampfhaftes Lächeln verzerrte das Gesicht gar sonderbar ...

»Da sind wir, Mutter, und bringen auch ein wenig Hunger mit«, sagte Muckerl nähertretend und seine Unruhe über den Anblick der Mutter verbergend.

»Kommst recht, kommst recht«, erwiderte sie unter Zuckungen, die einem heftigen Lachkrampfe nicht unähnlich waren. – »So komm' nur gleich – und schau' unser Glück – und schau', was dir bereitet ist ... Fass' mich ein wenig – es ist bald dort, bald hier ... Sieh' hin«, brach sie plötzlich ab mit einem tiefen Seufzer – »sie ruh'n in Gottes Frieden! Koste! Freu' dich, Muckerl!« Und damit fiel sie vom Schlag' gerührt, tot zu seinen Füßen nieder ...

Stumm vor Schmerz sank Muckerl neben ihr in die Knie und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen; – dann hob er mit Hilfe seines Taubenfreundes die tote Mutter auf und trug sie in die Kammer; und als er nach langem Schluchzen und Weinen in die Stube zurückkam, fand er hinter dem Gitter sein mitgebrachtes Taubenpaar nicht mehr, eilte hin – sah mit vortretenden, rollenden Augen in der Stube umher – stieß einen Schrei aus – wendete den Kopf nach dem wohlgedeckten Tische hin ... o, was musste er sehen! ...

Die geistesirre Mutter hatte ihrem über alles geliebten Sohne ein besonderes Gericht bereitet – und dort vorgesetzt ...

Das Lieblings-Taubenpaar lag friedlich nebeneinander auf dem Tische – einige Blätter und Wiesenblumen fassten die geblümte Schüssel ein – als Festschmuck für die armen kleinen Toten, die für Muckerl ein auserlesenes Gericht bilden sollten – nun aber wie das ewige Gericht über Leben und Tod entschieden – sie selbst ruhten bereits im ewigen Frieden dort neben einander! ...


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