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3 .

Jahre vergingen. Stauffers Glück nahm zu, man gewöhnte sich daran; Geschäft oder Zufall führte ihn oft mit den Leuten seiner Heimat zusammen, man suchte sich erträglich zu benehmen. So schien denn endlich eine leidliche Nachbarschaft hergestellt, obwohl dem Stauffer noch gar manches im Herzen wühlte und ihn gegen niemand recht vertraulich werden ließ.

Eines Frühlingsnachmittags, als die Mücken wieder über dem Saatfelde schwärmten, der Abendsonnenschein die Berge, Wälder und Herzen der Menschen still verklärte, kam Stauffer wieder einmal heim, eilte hinter dem Dorfe herum und erreichte ungesehen sein Haus mit den Spiegelfenstern und den hellgrünen Läden.

Vor dem Hoftor am Rain des Feldes sah er ein Mädchen stehen, welches, die Augen mit der flachen Hand beschattend, in den Anblick der verklärten Natur wie bezaubert versunken schien.

Stauffer hielt an, unwillkürlich bezwungen von der engelhaften Erscheinung.

Sein Mariele konnte es nicht sein; vor einem halben Jahre hatte er sie noch als Kind verlassen. Konnte sie in dieser jungfräulichen Fülle und Blüte vor ihm stehen?

Er wollte sie als Fremde grüßen und an ihr vorübergehen – da machte sie eine Wendung: ach, Mariele war's, sein Mariele war's! Sie lächelte, ihre Wangen glühten, zwei Äderchen schwollen an den Schläfen, ohne die schöne weiße Stirn zu röten, ihr schönes blaues Auge – Gott, was hatte dieses Auge seitdem noch um vieles schöner gemacht, so tief und leuchtend, so fromm und sehnsuchtsvoll, so klar und so voll Wehmut? War es der Frühlingssonnenschein? Die Entfaltung einer wunderholden Seele, deren himmlische Verwandtschaft sich im Blau des Auges wiederspiegelt? O Natur, o Menschenherz! o Wunder eines Frühlingstages! Welche Wandelungen hat oft ein Kinderspiel im Sonnenschein, ein erwartet – unerwartet Wort von zarter Lippe, ein Ton der Stimme, ein Blick des Auges, eine Flucht mit Purpurwangen, ein holder Zank, eine wertlose Blüte, unerwartet zum Andenken überreicht, – in jugendlichen Seelen schon hervorgebracht?

Stauffer fand kein Wort des Grußes.

Er hob Mariele nicht mehr auf die Arme, er kniete nicht mehr hin, um sie zu küssen; aber die Hand reichte er hin, gerührt und ernst, das Herz voll mächtiger Entschlüsse, wie dieses Kind einst zu beglücken sei. Und indem er Marieles Hand in der seinigen hielt, schaute er mit Feuerblicken über die Gegend hin, welches Haus schön und würdig genug sei, dieses Kleinod einst über seine Schwelle zu führen?

Stauffer, Stauffer! ... Wer Herzen beglücken will, lerne erst das Glück der Herzen kennen. Du ringst in atemloser Hast nach Gut und Geld, du wütest gegen alle deine Freuden, um deine Kinder zu Glücklichen zu machen; deine Wut zu besitzen und im Besitz nach neuem Besitz zu ringen, wähnst du auch in deiner Kinder Brust – Stauffer, sind deine Kinder die Erben deiner Erfahrungen, deiner Leiden, deines Zornes, deiner Rachegedanken, deiner Qualen, deiner durchweinten Nächte, deiner durchrasten – Tage, deiner Wundmale an den Füßen und deiner Narben in der Brust? Lieben und erwüten deine Kinder wie du den Besitz? Spielt das sturmgepeitschte Mannesherz dieselbe Melodie wie die züchtig zarte Kinderseele? Wohl ist es brav und väterlich, der Kinder Los auch irdisch fest zu gründen – aber geschehen kann es, dass der irdisch feste Grund nur Schauplatz wird der tiefsten Seelenpein, des durch und durch zerwühlten Lebensfriedens, eines Tränenmeeres, das der Gram nie ganz erschöpft! Warum willst du Stolz, Prahlerei, Übermut, glänzendes Gepränge mit den Kindern treiben, statt mit zärtlich klugen Vateraugen das Herz deiner Kinder auszuspähen und die Sonne deines väterlichen Segens darüber leuchten zu lassen?

Nach der Gebetstunde gestern, dort unter den Linden, als die Schar der Andächtigen sich hierhin und dorthin zerstreute, Stauffer, dort hättest du an den Blicken, an dem Erröten und Erblassen, an dem fromm gewaltigen Beben zweier Wesen deine Wunder, deine Belehrung finden können – wo das Glück deines Kindes – wie es zu machen sei!

Stauffer fand nicht nur Mariele wunderbar erblüht, auch Grete und Röschen waren entwickelter und hübscher geworden; nur das jüngste, Käthchen, schien an Entwicklung weniger fortgeschritten zu sein, jedoch war es der lustige Quälgeist des Hauses geblieben!

Alsbald rief Stauffer die Apollonia auf sein Zimmer, schloss die Türe und sagte:

»Aplon, und Ihr sagt mir ja gar nichts!«

Die Apollonia erwiderte:

»Was soll ich sagen?«

»So? Und das ist alles? Und gegen mich mag Wind und Wetter los sein, davon wisst Ihr nichts?«

»Mein Gott, gegen Euch ist nichts los – keine ehrbare Seele!«

»Nein, aber Schurken umso mehr!«

»Ach, was setzt Ihr Euch wieder in den Kopf? Ich möcht' auch wissen, woher Ihr Eure Bösewichter so schockweise nehmt!«

»Hat man keinen Bund gegen mich insgeheim?«

»Stauffer, seid Ihr noch beim Alten? Die Leute lassen Euch sein, was Ihr wollt; der Himmel segnet Eure Arbeit und habt Ihr nicht goldige Kinder – das Mariele und die andern?«

»Ich bin um alles!« rief Stauffer.

Apollonia schlug die Hände zusammen: »Um alles! Sagt Ihr das zu meinem Schrecken?«

»Meine Ruh' ist hin«, fuhr der Stauffer fort und ging langsam auf und nieder.

Die Apollonia musste sich setzen.

Nach einer Weile wurde der Stauffer milder, stellte sich vor die Verzagte hin und sagte: »Aplon, reden wir verständig mitsammen. Was geht die Nächte her vor? Warum das heimliche Getu am obern Feldweg? Sonst haben die Burschen Dorf auf und ab gesungen; was soll's, dass mir die Vögel jüngst so vor'm Haus umsurren?«

»Stauffer, das hat Euch jemand eingeredet, oder Ihr macht Euch selbst was vor. Die Burschen treiben sich nicht um Euer Haus herum. Ich kann oft ganze Nächte nicht schlafen, hör' aber niemals was.«

»So, und die verwichene Nacht? Schlag Zwölf? Das Gesing und Gelärm und Gelächter?«

»Wo?«

»Ha, eben am obern Feldweg vor meinem Haus!«

»Kein Käfer hat gesurrt. Ich hätt' eine Feder fallen hören. Mein alter Kopf hat kein Aug' zugemacht die ganze Nacht.«

»So! und die Lieder vom Stauffer und seinem Wunderkind:

Heilig Mariele da droben
In schneeweißer Kapell' –

Das ist nichts? Das hört Ihr wieder nicht?«

»Das kann ein alt Gesängel sein! das ist ein frommes Lied, das kann vor jedem Haus gesungen werden, vor Euerem Haus hab ich's nicht gehört.«

»So, und was ist denn das am letzten Sonntag gewesen?«

»Was?«

»Wisst Ihr's wieder nicht? Meine Kinder sind in die Kirch' gegangen, das Burschenvolk ist zugedrungen, mein Mariele ...

»Schafft Eure Ohrenbläser ab!« rief Apollonia.

»Lasst mich ausreden« fuhr Stauffer fort, »mein Mariele hat nimmer gewusst, wie vorwärts kommen ...

Die Apollonia stand auf und ihr Gesicht rötete sich. »Wisst Ihr noch was, Stauffer?« sagte sie kräftig, »nur heraus damit! Ich weiß nur, dass Mariele verwichenen Sonntag krank war und nicht aus dem Hause hinaus gekommen ist.«

Der Stauffer erschrak.

»So? krank?« sagte er. »Arg krank?«

Er ging eine Weile auf und nieder. Hierauf begann er wieder:

»Warum geht denn der Mießbacher, der Florian, jüngst so oft nach Seilern, der Weg läuft bei meinem Haus vorbei; er grüßt immer, als ob ihm jemand nachgucken wollte, und ist auch immer gräflich herausstaffiert?«

Apollonia lächelte und gab keine Antwort.

»Nun?« rief Stauffer »hat's Eurem Gewissen die Red' verschlagen?«

Apollonia schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Stauffer, der alte Messerschmidt geht auch die Woch' zweimal nach Seilern, er grüßt uns auch immer. Der Florian ist vor vier Wochen einmal vorüber, aber auf einem anderen Weg.«

Der Stauffer schwieg und setzte sich an ein Fenster, das er öffnete.

Stille Abenddämmerung lag über der Gegend. Apollonia wollte gehen, der Stauffer sagte: »Bleibt, ich hab' Euch noch eins zu sagen.« Nach einer Weile fuhr er fort: »Aplon, wir kriegen einen Hausgenossen mehr, oder eigentlich zwei.«

»Wer ist das?« fragte Apollonia aufmerksam.

»Ihr wisst, dem Mühlbacher aus Lohden ist die älteste Tochter unglücklich worden. Es ist deswegen das Haus voll Grausamkeit gegen das Wesen. Ihre Mutter ist tot, ihr Vater ist ein Peiniger, ich kann das nicht länger sehen. Das Wesen ist meiner Schwester Kind, ich kann's nicht verlassen.«

Apollonia sah zu Boden, ein sehr wehmütiger Gedanke ging ihr durch die Seele. Sie wusste, dass es mit dem Unfrieden in Mühlbachers Hause nicht so schlimm stehe und dass sich der Stauffer die zwei Jahre her, seit das Mädchen unglücklich geworden, wenig um dasselbe gekümmert habe.

Wenn er es jetzt gerade ins Haus nehmen wollte, da musste er es aus einem besonderen Grunde tun. Apollonia konnte den Grund erraten – und das war es auch, was ihr ein tiefes Weh bereitete.

Sie durfte und wollte natürlich gegen die Aufnahme der Elise nichts einwenden; aber als im Hause alles schlief, trat sie vor das Bett Marieles, weinte und sagte mit leiser zitternder Stimme:

»Dir, meinem Engel, wollen sie eine Wach' und Warnung aufstellen!«

Sie küsste die Stirn der Schlummernden und betete lange.

Verklärtes Lächeln spielte um den Mund Marieles.

Der Stauffer ging lange nicht schlafen.

Eine neue Pein durchwühlte sein Gemüt. Jetzt glaubte er gefunden zu haben, warum er von den Leuten so schonend behandelt wurde, warum ihn niemand wegen der drei Festtage zur Rede stelle.

O, dachte er, wenn ich mich vor diesen Menschen verwahren will, so darf ich Tag und Nacht auf der Wache sein. Die sind fein! Die wissen ihre Rechnung zu machen!

Indem er durchs Fenster auf das Dorf hinunter blickte, welches geräuschlos in der Sternendämmerung dalag, kam er sich vor wie ein Adler, der Kostbarkeiten aller Art zu seinen Jungen ins Nest trägt und welchem der Mensch ruhig zusieht, bis er eines Tages die Kostbarkeiten und die Jungen abzuholen kommt.

»Ich hab's gesagt, sie richten mich zu Grunde«, rief er aus, »für wen sorg' ich, für wen schaff' und jag' ich mich zu Tod? Alles nur für sie, für sie! Sie lassen mich fort – und Heimfliegen, Geld und Gut ins Nestlein hineintragen; sie lächeln und sie denken: je mehr hinein kommt, desto mehr führen wir heraus. Sie putzen ihre Burschen heraus; die Burschen wissen, warum. Stauffer hat vier Kinder, denken sie, in vier Teile zerfällt sein Vermögen. Wer ihm ein Kind wegangelt, kann mit seinem Teil zufrieden sein. Das Mariele ist so weit heran, dass der erste Fang geschehen kann. Sie ist schön ...«

Stauffer konnte nicht weiter reden; es würgte ihn im Halse – er stürmte ins Freie. Er schwur seine Kinder glücklich zu machen, aber sie sollten glücklich werden, durch ihn, durch ihn allein. – Beruhigter kam er in sein Haus zurück und legte sich schlafen.

Andern Tages machte ihm sein Geschäft wieder vollauf zu schaffen: denn er war diesmal großer Einkäufe halber heimgekommen. Wieder flogen die Tage rasch dahin. Stauffer wurde umschwärmt von Kaufleuten und Hausierern, bis endlich das Geschäft glücklich abgeschlossen war.

Eines Tages, man hatte eben zur Feier des Geschäftsabschlusses die übliche Freizeche genossen, brach der Stauffer von Seilern auf, um noch vor Nacht daheim zu sein.

Die Zecher gingen größtenteils vom Wirtshause abgesonderte Wege. Stauffer hatte bald wenige Begleiter, und als er den Seiler-Wald erreichte, ging ihm nur Georg Straffer zur Seite.

Stauffer hatte sich etwas munter getrunken, er lächelte vergnügt, und der Abendsonnenschein warf dann und wann eine flüchtige Verklärung über sein Gesicht. Doch war Stauffer schweigsam und in Gedanken.

Desto mehr sprach sein Begleiter, Georg Straffer. Er sprach anfangs über dies und jenes; der Stauffer hörte ihn kaum und nickte dann und wann, als wolle er zeigen, dass er zuhöre.

Dann fiel der Name Hälder. Stauffer sagte in Gedanken: »Ja richtig, recht braver Mann, braves Haus, brave Familie.«

Den Straffer ermunterte das, mit einem Anliegen herauszurücken. Er begann ausführlicher von der Familie Hälder zu reden, sprach vom Vater Hälder, von der Mutter Hälder, von der Wirtschaft derselben, und endlich auch vom Sohne.

Der Stauffer nickte auch jetzt noch in Gedanken; erst als von Anton Hälder des Rühmens kein Ende werden wollte, als es hieß, weder die Alten noch der Sohn hätten etwas dawider, wenn ein gewisses Pärchen zusammen zu bringen wäre, blickte Stauffer stutzig auf und horchte schärfer auf das, was gesagt wurde.

»Es scheint fast, Ihr habt einen Antrag«, sagte er.

Nun musste die Sache blank gelegt werden.

Straffer sagte darum gerade heraus: »Der Anton Hälder würde um Stauffers Mariele anhalten, wenn man wüsste, wie es von Stauffer aufgenommen würde.«

In diesem Augenblicke schien alles Blut aus Stauffers Gesicht zu schwinden; er blieb stehen, atmete heftig und sah den Straffer mit flammenden Blicken an.

Dieser schwieg betroffen und als Stauffer mit vor Aufregung bebenden Lippen sagte: »Hat die Botschaft ein End'?« erwiderte jener: »Hätt' ich gewusst, wie Ihr sie aufnehmt, ich hätt' sie nicht vorgebracht!«

Bei Stauffer schien der Sturm einen gewissen Grad erreichen zu sollen; seine Aufregung wuchs, und seine Blässe machte einer dunklen Röte Platz.

»Ja«, rief er endlich, »Ihr werdet so was am besten künftig bleiben lassen. Für dieses Mal, Amen! Ihr habt nichts gesagt, ich hab's nicht gehört, der Anton Hälder hat so was nicht im Sinn gehabt. Amen sag' ich. Wollt Ihr mich zu Grunde richten? Gute Nacht; es sei ein Schlag ins Wasser gewesen.«

Er ging davon.

Straffer blieb eine Weile stehen und blickte ihm nach; dann ging er seitwärts durch den Wald, und als er am Saume desselben den Anton Hälder im Abendscheine stehen sah, vor Erwartung errötend und erblassend, winkte er ihm mit der Hand, zum Zeichen, dass er alle Hoffnung fallen lassen solle und sagte näherkommend: »Denk' nur nicht mehr d'ran; 's ist aus; er hat es selbst gesagt, es wär' nur ein Schlag ins Wasser gewesen.«

Die Sonne ging unter und ihr goldener Abendschein wich dem düsteren Schatten der Nacht. So erbleicht auch in manchem Gemüte ein lieblicher Hoffnungsschimmer, an seine Stelle tritt Nacht und Trauer. Hälder lehnte den Kopf an einen Baum und sprach kein Wort ...

Sein Begleiter, Straffer, wollte den Schmerz des Burschen nicht stören und blieb schweigsam in einiger Entfernung stehen, bis jener selbst das Zeichen zur Heimkehr gab, worauf beide im Schatten der Nacht verschwanden ...

Ein Jahr flog hin.

Stauffer sah wieder aus seinem Fenster, es war ein klarer, frischer Morgen.

Auf der Südseite des Dorfes fiel Schuss um Schuss, Hühner und Tauben flatterten auf, – Musik spielte helle Weisen, ein feierlicher Hochzeitzug folgte: der Anton Hälder schritt mit seiner Braut, der Anne Müllerin, zum Traualtare.

Es war große Bewegung im Dorf. Auf allen Höhen standen Zuschauergruppen.

Stauffer hatte nie vergnügter zwischen seinen Spiegelfenstern hervorgeguckt.

»Da zieht er aus«, dachte er, »der vor einem Jahre auch noch ein Aug' auf mein Mariele geworfen hat; gesegn' ihm Gott sein anderweitig Glück, mein Mariele soll anderswo ihr Guthaben finden.«

Er rauchte zum Fenster hinaus, bildete blaue Ringlein, durch die er, wenn sie sich vergrößerten, neue Ringlein blies und hätte vor Vergnügen durchs letzte selber springen können.

Er merkte nicht, dass einmal sein jüngstes Kind, das Käthchen, in sein Zimmer sprang und sich ängstlich neben ihn flüchtete; zornig und betrübt war ihr die sechzehnjährige, schwarzäugige Schwester Grete gefolgt, die sie mit der rechten Hand wieder aus dem Zimmer zog, während sie ihr mit der linken ernsthaft drohte. Die Drohungen halfen nichts, aber als der Schwester Tränen in die Augen traten, und sie schmerzlich sagte:

»Jetzt seh' ich, du hast unser Mariele nicht lieb, das will ich ihr sagen«, da rief das Kind: »Nein, nein jetzt folg' ich schon«, und ließ sich geduldig in ein entlegenes Zimmer führen.

In der Vorhalle ging es seltsam her. Ängstlich und verwirrt, schmerzhaft und verstört kamen und gingen Apollonia, Grete, Röschen, die Mühlbacher Elis' mit ihrem Kind auf dem Arm. So oft ein Geräusch hörbar wurde, blickte man erschrocken nach Stauffers Zimmertüre, besorgend, er könnte heraustreten. Da er nicht kam, schlüpfte man mit Vorsicht durch die Türe in Marieles Zimmer. So ging es schon eine gute Weile. Stauffer merkte von alldem nichts. Nur einmal nahm er die Pfeife aus dem Mund und horchte, da es ihm schien, als habe er einen dumpfen Schrei vernommen. Das Hochzeitsschießen übertönte alles und beruhigte ihn.

Die Kirchenglocken in Seilern schlugen an, das Schießen verstummte, die Trauung ging vor sich. Nach einer halben Stunde verließ das junge Ehepaar die Kirche wieder, die lufterschütternden Salven begannen aufs Neue, das Jauchzen der Hochzeitsgäste erscholl mächtiger als zuvor, die Musik unterbrach ihre lustigen Weisen nicht mehr, bis der Zug zurück war und das Hochzeitsmahl begann ...

Anderen Tag es war also ein neuer Hausvater im Ort; er hatte von Lohden herübergeheiratet und war nun Hauswirt in demselben Orte, wo er seine schönste Kinderzeit und die Schuljahre zugebracht hatte; denn er war daselbst im Hause eines Vetters frühzeitig wie ein eigenes Kind aufgenommen worden und aufgewachsen.

Ein junger Ehemann, der in ein Dorf heiratet, ist gewöhnlich einige Zeit Gegenstand fleißiger Beobachtung. Was er tut, und wie er es tut, findet gewiss hinter einem Fensterchen prüfende Augen und bald auch, als wären sie aus der Luft gefallen, seine von Haus zu Haus wandernden Bemerkungen. Gewöhnlich geht so ein frischer Dorfbürger noch geraume Zeit nach der Hochzeit an Werktagen im Halbsonntagsstaat, ist freundlich gegen Groß und Klein, und wird auch so behandelt. Dies war nun bei Anton Halber besonders der Fall. Er war bekannt und fremd. Seit dem letzten Schuljahre war er daheim bei seinen »Alten« geblieben und in seinem jetzigen Wohnort nur selten zu sehen gewesen.

Viele seiner Schulkameraden waren bereits wie er Hauswirte im Dorf. Es fehlte also nicht an Bekannten. Fremd aber war ihm die ganze kleinere Jugend des Dorfes. Da er ein Freund der Kinder war, so ging er selten an einem der kleinen »Weißköpfe« vorüber, ohne ihnen die Hand auf den Kopf zu legen und freundlich zu fragen: »Wie heißt dein Vater? Wer ist deine Mutter?« Manche von seinen Schulkameradinnen, die noch um einen Mann zu gering herum gingen, wurden wehmüthig, wenn er sie anredete; die ältern Mütter im Dorf, denen eins oder das andere Kind freudig die Nachricht heimbrachte: »Der jung' Müllbauer hat g'fragt, wer i bin«, fanden, dass der Hälder gar eine so liebe Redeweis und so milde blaue Augen habe. Seine Rüstigkeit, sein Fleiß, sein verständiges Wesen wurden bald von allen gerühmt. An einem Montag war die Hochzeit gewesen; die Woche verging sehr schnell. Einige hatten sich bald daran gewöhnt, den neuen Hauswirt als einen der Dorfbürger zu betrachten; Vielen war's, als wäre er nie ledig gewesen.

So kam der erste Sonntag.

Man ging in die Frühmesse, in Predigt und Hochamt und war zu Mittag wieder daheim.

Anton Hälder war auf dem Kirchenwege mehr von Burschen als von Männern umgeben, sein Weibchen aber mehr von Müttern als von Mädchen. Es wurde noch viel von ihrer schönen Hochzeit gesprochen.

Nachmittags lag der Stauffer wieder behaglich im Fenster, rauchte und beschaute sich still sinnend das Dorf. Das Haus des neuen Dorfbürgers Hälder lag auf der etwas erhöhten Südseite des Dorfes und trat unter den übrigen Häusern vorteilhaft hervor. Dem Stauffer waren die freundlichen Urteile über Hälder nicht unbekannt, er konnte seinen Augen nicht wehren, dann und wann hinüberzublicken und das Ab- und Zugehen der Leute zu betrachten. »Nun, wenn er brav ist, ist es recht und wenn's ihm wohlgeht, ist es gut!« sagte er einmal vor sich hin.

Er stellte dann, ohne eigentlich zu wollen, den Hälder flüchtig neben sein Mariele, ob sie sich denn ausgenommen hätten neben einander – er erschrak, zerschlug eiligst sein Gedankenbild und sagte: »'s wär' gefehlt gewesen.«

So ist der Mensch.

Weil der Stauffer den Burschen einst abgewiesen und weil derselbe jetzt auf keine Weise mehr zu haben war, beredete er sich, eine Verbindung dieser beiden wäre ein Unglück gewesen, obwohl es in seiner Seele ganz anders lautete.

Der Nachmittag war herrlich. Ringsum Blüte und Duft. Es musste schon ein Schlagschatten von Herzweh sein, der heute nicht wich.

Der Stauffer ist allein zu Hause. Das Mariele, die übrigen Kinder, die Apollonia sind fort, nur die Elis' sitzt in der Nähe des Hauses auf einem Grasrain und spielt mit ihrem Kinde. Auch drüben im Hause Hälders ist vor längerer Zeit schon, wie der Stauffer sehen konnte, alles fortgegangen: die junge Ehefrau mit einer Schar Mütter dem Nachbargarten zu, der Hälder mit einigen Männern einen Feldweg weiter, wo er sich aber bald von ihnen trennte und einsam seinen Weg verfolgte.

Heilige, frohwehmütige Sonntagsruhe! Im Birkenwäldchen, wo der Stauffer einst sein Reis holte, sang und klang es heute nur wenig vom Amsel– und Finkenschlag ... Da heraus kam gegen Abend der Hälder einsam und in Gedanken, wie er sich der Hauslusthöhe nähert, sieht er einsam und in Gedanken auch Mariele Stauffer des Weges kommen. Er bleibt stehen, als er sie sieht; sie wankt, als sie ihn erblickt. Beide verharren eine Weile wie festgebannt. Dann gehen sie aneinander vorüber, blicken nicht auf, grüßen nicht; – sie schluchzt in den Wald hinein, er kummert zwischen zwei Kornfeldern weiter ...

Der Stauffer hatte wieder glückliche Geschäfte gemacht; sein Mariele war 17 Jahre alt; auch die schwarzäugige Grete und das feurige Röschen drängten den Jahren zu, in denen Auge und Herz voll Sehnsucht Ausblick halten nach stillgeahnten Wundern.

Stauffer beschloss, nun auszuführen, was er schon längst im Sinne hatte: er zog sich ganz von seinem Geschäfte zurück, nahm sein Kapital zusammen, lieh an verlässliche Häuser, kaufte Aktien und Staatspapiere und setzte sich einmal in seinem Hause dauernd fest, um das Glück seiner Kinder mit Bedacht und Muße zu begründen.

So standen die Dinge seit einem halben Jahre; so in bequemem Ruhestande erblicken wir den Stauffer am vorgeschilderten Sonntag.

In seinem Wesen hatte eine gewisse Milde die Oberhand gewonnen, obwohl er von der Nachbarschaft noch immer geschieden lebte. Am meisten näherte er sich noch dem Jakob Büchner, dessen Haus dem seinen am nächsten stand. Er erschien dort gern manchmal gegen Abend, setzte sich neben der Haustür auf die Bank, ließ den Büchner und sein Weib herankommen und unterhielt sich mit ihnen; nebenher wurden Haus, Geräte, Stall, Scheuer, Garten, kurz alles – aber nur wie im Vorbeigehen in Betracht gezogen.

Stauffer wusste warum. Er wollte Büchner und dessen Weib glauben machen, es geschehe aus purer Höflichkeit, sie taten auch, als seien sie dieser Meinung und wussten warum. Lieb war es dem Stauffer immer, wenn der junge Büchner, ein hübscher Bursche von 18 Jahren, gerade zu der Zeit, wo er kam, eine Arbeit vor dem Hause im großen Hofraum verrichtete. Er wusste warum. Er konnte den Burschen, dessen Kraft und Geschick unbemerkt beobachten und dann und wann wie harmlos allerlei Fragen hinwerfen, die der Bursche beantworten musste.

Dieser erriet, warum; so oft Stauffer daher zur »Sitzweile« kam, war der Bursch auch richtig immer um einen Wagen oder Pflug, mit Holzspalten oder mit Herumleiten eines Pferdes oder Stieres beschäftigt; die Fragen Stauffers beantwortete er stets mit großer Sorgfalt, er wusste warum.

So oft der Stauffer dann nach Hause ging, dachte er: »Ich glaub', dem werde ich meine Unterschrift geben«, aber es trieb ihm gleich wieder das Blut in die Wange, wenn er dachte, dem Burschen könnte es einfallen, eigenmächtig um sein Mariele zu werben.

Dazu fehlte noch viel.

Indes – der menschliche Wille wäre oft in seinen Entschließungen weit langsamer, wenn ihn die Umstände nicht vorwärts drängten. Die Anfragen unter der Hand, die verhüllten Bewerbungen um die Hand Marieles mehrten sich. Sie ergingen immer nur an den Vater. Glaubte man, wenn der grimmige Vater gewonnen sei, dass sich im Engelsgemüt Marieles kein Widerspruch erheben werde? Solche Bewerbungen kamen auch von Angestellten beim Oberamt, von mitunter würdigen Herrenleuten aus der Stadt.

Letztere Werbungen schmeichelten dem Stauffer wirklich eine Zeit lang, bald aber wies er sie entschieden von sich und sagte: »Mein Mariele muss heiraten, wo sie auch mitreden und mitleben darf; in einem Herrenhaus sitzt ein Landkind nur auf der Ofenbank.«

Mariele war 17 Jahre, es musste entschieden sein.

Stauffer gab sich endlich noch drei Tage Bedenkzeit. Er hatte Mitleid mit sich, mit seiner qualvollen Lage. Er streifte bei Tage in Wald und Feld herum, Nachts lag er im Fenster wie gekreuzigt an Leib und Seele. Er betete, bebte; wie ruhig und friedlich sahen Mond und Sterne vom Himmel! Wie glücklich, wie gesegnet mit gesundem Schlummer lag das Dorf da unten!

Also sein Mariele, sein Liebling, sein größtes Gut, eigentlich sein alles sollte ihn verlassen, sollte aus dem Hause ziehen, einem anderen gehören, Einem der noch keinen Schritt für sie getan, in nichts für sie gesorgt hatte.

Konnte er leben ohne sie?

Und andererseits: War es nicht ein Verbrechen an der Natur, an Gott, an der Bestimmung des Menschen, an dem schönsten Glück des eigenen Kindes, dieses holde Wesen, Mariele, blühen und verblühen zu lassen, Mariele, das so folgsam bisher in allen Dingen auf den Wink und Willen des Vaters wartete?

Es musste entschieden sein!

Der dritte Bedenktag war vorüber; Stauffer ging mit schwellender Seele hinab zu Jakob Büchner, verschloss sich mit ihm und seinem Weibe ins Stüble und eröffnete ihnen, dass ihr Sohn die Hand Marieles erhalten solle.

Er hatte das kaum gesagt, als er das Gesicht in die Hände legte und kein Wort mehr sprach; es wollte ihm das Herz abstoßen.

Büchner und sein Weib brachen in laute Zeichen der Freude aus. Sie riefen ihren Sohn und teilten ihm seine glückselige Aussicht mit; er wurde blass vor Freude.

Stauffer aber erholte sich nach einer Weile, schickte die Alten aus dem Stüble und blieb mit dem Burschen allein. Kaum waren jene fort, als er aufsprang und gegen diesen losfuhr, als wolle er ihn erwürgen. »Du bist mein Kind nicht wert, du willst mein Kind entführen!« rief er. »Ich will dich lieber gleich ...« Aber statt ihm ein Leids zu tun, fiel er ihm um den Hals und rief: »Mein Mariele ist dein! Trag' mir's auf den Händen! Gott hat nichts Schöneres und Besseres erschaffen. Jetzt ist der alte Stauffer um alles – alles!«

Er ging davon und ging nicht heim, sondern lief die halbe Nacht, von harter Pein durchwühlt, Feld auf und ab. Er sah nichts als das liebliche Gesicht Marieles, wie es lächelte, wie ein Schatten der Wehmut darüber lief, wie es sich wieder verklärte ...


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