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11. Von großen Freveln und ihrer Strafe

Frau Hütt. In uralten Zeiten lebte im Tirolerland eine mächtige Riesenkönigin, Frau Hütt, und sie wohnte auf den Gebirgen über Innsbruck, die heute grau und kahl sind, aber damals waren sie voll von Wäldern und reichen Äckern und grünen Wiesen. Einmal kam ihr kleiner Sohn heim und weinte. Er hatte sich eine Tanne zum Steckenpferd abknicken wollen und war dabei in den Morast eingesunken, und nun waren sein Gesicht und seine Hände ganz bedeckt von Schlamm und sein Kleid war schwarz wie ein Köhlerkittel. Frau Hütt tröstete ihn und versprach ihm ein schönes neues Kleid und rief einen Diener, der sollte weiche Brosamen nehmen und ihm damit das Gesicht und die Hände reinmachen. Aber kaum hatte er damit angefangen, da zog ein schweres, schwarzes Gewitter daher, das deckte den ganzen Himmel zu, und dann schlug ein entsetzlicher Donner ein. Als es wieder hell wurde, waren all die Äcker und Wiesen und Wälder verschwunden und auch die ganze Wohnung der Frau Hütt; nur eine öde Wüste war da, mit zerstreuten Steinen, zwischen denen kein Grashalm mehr wachsen konnte. Und in der Mitte stand die übermütige Frau Hütt, versteinert, und wird so stehen bis an den jüngsten Tag.

Der Adamstanz bei Wirchow. Unweit des Dorfes Wirchow in der Mark Brandenburg stehen eine große Menge Steine beisammen, die sich ordentlich zu einem Kreis zusammengestellt zu haben scheinen. Es sind aber auch eigentlich gar keine Steine, sondern verwandelte Menschen, die zur Strafe in Stein verwandelt wurden. Es geschah nämlich einmal vor vielen hundert Jahren, daß eine Anzahl von Leuten hier am heiligen Pfingsttage einen Tanz ausführten, und dabei waren sie ganz nackt. Aber kaum hatten sie den Tanz begonnen, so blieben sie auch stehen, wie sie grade standen, und so kann man sie noch heute sehen. In der Mitte stehen die beiden Bierschänker, außerhalb des Kreises die beiden Spielleute und um die Bierschänker herum die vierzehn Tänzer.

Die sieben Brüder. Auf dem Siebenbrüderberg bei Mohrin in der Mark, dicht an dem alten Wege nach Zellin, standen sonst sieben große Granitblöcke, von denen der eine immer größer war als der andere. Die sollen auf folgende Weise dahin gekommen sein: Es waren einmal sieben Brüder, die hüteten dort eines Morgens auf dem Berge die Kühe und waren sehr übermütig. Als die Sonne nun höher heraufkam, öffneten sie ihre Kober, um zu frühstücken. Der eine von ihnen hatte einen Käse mit und – mochten sie nun satt sein, oder war es bloßer Übermut – sie nahmen ihre großen Viehpeitschen und hieben damit solange auf den Käse los, bis Blut daraus hervorkam. Dafür sind sie zur Strafe auf der Stelle in Steine verwandelt worden, und die sieben Steine haben dort gestanden, bis vor wenigen Jahren der Zellinsche Weg verlegt wurde.

Eine Frevelsage aus dem Jahre 1905. Da war einmal ein Besitzer hinter Deutsch-Eylau in Ostpreußen, der war steinreich. Drei große Güter soll er gehabt haben. Der hat sich geärgert, weil all der Regen kam (nämlich Ende Juli 1905). Er konnte doch wohl nicht einernten. Und da geht er aufs Feld und wird den lieben Gott totschießen. Er schoß mit dem Revolver, der dreimal geladen war, in den Himmel hinein! Und gerad wie er schoß, kam ein großes Gewitter, und es fing an zu donnern und zu blitzen. Da blieb der Mann gleich stehen, so wie er war, wie von Stein. Bloß die Augen sind wie Glas und klappen immer auf und zu. Wo er hingeschossen hatte, blieb aber am Himmel ein schwarzer Fleck. – Nun schrieben sie an den Kaiser, was sie mit dem versteinerten Mann machen sollten. Da schrieb der Kaiser, sie sollten ihn begraben. Das ging aber nicht. Denn sie hatten sechs Pferde vorgespannt, und die kriegten ihn nicht von der Stelle. Er war nämlich halb in die Erde hineingesunken, daß er nur noch halb zu sehen ist, und da war er festgeklebt und festgenagelt. Da schrieben sie noch einmal an den Kaiser, was sie tun sollten. Sie wollten nämlich ein Gitter herumsetzen, daß es aussieht wie ein hübsches Denkmal. Darauf antwortete der Kaiser: Das wird nicht erlaubt, ein Gitter zu setzen. Und wenn der Mann Gott so gelästert hat, braucht er auch nicht begraben zu werden. Er soll ruhig stehen bleiben, wie er steht, daß ihn jeder sehen kann, zum Zeichen für seine Gotteslästerung. Nun gehen alle hin und sehen ihn sich an. Und die Geschichte ist ganz gewiß wahr, denn meiner Schwägerin ihr Sohn kennt den Herrn. Auch die Leute auf der Kolonie (in den Arbeiterwohnhäusern der Eisenbahnwerkstätte) wissen es schon alle, und die kennen ihn auch alle, und sie wissen auch alle, wie er heißt. Auch die Schulkinder hier in Osterode wissen es alle, und wenn die Kinder es schon alle wissen, muß doch was Wahres dran sein. In die Blätter kommt es nicht, denn die Angehörigen wollen es nicht haben, daß es raus kommt.

 

Diese Geschichten haben mit den Riesensagen des vorigen Kapitels darin eine gewisse Verwandtschaft, daß auch sie die Herkunft irgendwie auffallend geformter oder angeordneter Steine erklären wollen. Der einsame Schrofen im öden Trümmerfeld des Felsgebirges, uralte Steinsätze, die einem vergessenen Geschlecht zu unbekannten Zwecken gedient haben mögen, sind Spuren göttlicher Strafgerichte, die den Frevler nach alter Vorstellung »in Stein springen« ließen. Bei der jungen Gottesfrevlersage, die Ende Juli 1905 im ostpreußischen Osterode ganz plötzlich auftauchte, sich schnell über viele Meilen hin verbreitete und nach drei Wochen schon wieder so gut wie vergessen war, gelang es allerdings nicht, den bezeichneten Stein nun auch wirklich aufzufinden.

 

Ähnliche Frevelsagen knüpfen sich nicht nur an Steine, sondern auch an irgendwelche andre auffallende Erscheinungen. Wie noch im zwanzigsten Jahrhundert nicht wenige geneigt waren, die Zerstörung von Martinique als eine Strafe Gottes für ungeheure Frevel aufzufassen, so hat das Volk zu allen Zeiten zu den Spuren großer Zerstörungen, etwa eines Bergsturzes, oder einer Überschwemmung, rückwärts dichtend Frevelgeschichten erfunden, ganz ähnlich wie zur Erklärung gewisser Spukerscheinungen in den Sagen von umgehenden Toten.

Bestimmte Arten des Frevels kehren dabei immer wieder. Meistens ist es sündhafter Übermut, der den Zorn Gottes auf den Übermütigen herabrief. Übergroßer Reichtum tut nicht gut, er macht die Herzen hart gegen die Armen und die Ohren taub gegen die Stimme des Warners, er führt zur Verachtung der heiligen Gottesgabe, des Brotes. Der übermütige Reiche, dem alles Maß verloren ging, fühlt sich durch die Gebote Gottes nicht mehr gebunden, und immer endet sein Frevel mit jähem Untergang.

Die Silberkaul. Die Silberkaul, der höchste Berg des Kreises Waldbröhl im Bergischen, barg früher unermeßliche Schätze und die Bergleute verdienten damals dort sehr viel Geld. Aber sie sparten auch nicht; sie wurden stolz und gottlos und brachten ihr Geld in Saus und Braus durch und gaben ihren Kindern die blanken Silbertaler zum Spielen. – Einmal hatten die Bergleute ein großes Gelage, und wie sie mitten im ärgsten Zechen und Prassen waren, kam ein Vöglein dahergeflogen, das setzte sich in das offene Fenster der Zechstube und sang hinein:

Silberkuhle, tu dich zu,
Es bleibt kein Hirte bei der Kuh!

Die Bergleute hörten es wohl, aber sie lachten und spotteten nur darüber. Und als sie am andern Morgen wieder einfuhren, kam ein schweres Gewitter herauf, das entlud sich grad über der Silberkaul. Vom Platzregen wuchsen die Bäche, der ganze Teich zwischen Silberkaul und Heidberg wurde überschwemmt; und als dann noch ein Blitz den Staudamm zerriß, da ist die Grube Heidberg mit ihrer ganzen Belegschaft in den hereinbrechenden Fluten ertrunken. Der Betrieb mußte eingestellt werden, und mit dem Segen des Bergbaus war es für immer zu Ende.

Die Blümlisalp. Wo jetzt der Turtmanngletscher im Berner Oberland das Tal mit seinen Eismassen abschließt, war einst die blütenreiche »Blümlisalp«, die schönste und reichste im ganzen Tal. Dort wohnte ein Senn, der führte mit einem Mädchen Kathrin zusammen ein sündhaftes Leben. Der alte blinde Vater wurde abscheulich behandelt; sie strichen ihm sogar Kuhmist statt Butter aufs Brot. – In einer fürchterlichen Gewitternacht befahl der Senn dem armen Alten, das Vieh einzutreiben. Der Alte ging; aber ohne es zu wollen, trieb er das Vieh, die ganze Herde, immer weiter von der Alp weg. Da kam auf einmal das Eis über die Alp gestürzt und begrub den bösen Sennen und die böse Kathrin mitsamt ihrem kleinen schwarzen Hunde. – Noch heute sieht man, wenn der Turtmannbach groß wird, den kleinen schwarzen Hund am Wasser hin und herlaufen und aus den Gletscherschründen rufts herüber:

Ich und min Kathrin
Müssen immer und ewig auf der Blümlisalp sin!

Wie der Kalterer See entstand. In dem Haus am Kalterer See in Tirol, das heute »Klughammer« heißt, wohnte einst ein reicher, unbarmherziger Bauer. Er hatte einen riesigen Besitz an Feldern und Weiden und ungezählte Herden von Rindern und Pferden und Schafen und war dabei so geizig, daß er nicht einmal seine Arbeiter richtig auszahlte. Aber eines Tages kam ein altes Männlein zu ihm in die Stube und bat ihn um etwas Essen oder wenigstens um einen Trunk Wasser. Der Bauer wies ihm die Tür und sagte: »Pack dich zum Teufel! Zu essen gebe ich nichts, und Wasser hat mir Gott selbst nicht genug gegönnt.« Da ging das Männlein betrübt fort und weinte auf dem Weg. Und seine Tränen wurden zu einem Strom und der Strom überflutete die vielen Felder des Gotteslästerers und machte ihn zum armen Mann. So ist der Kalterer See entstanden. Das Männlein aber ist Christus selber gewesen.

Das Bosserdanger Schloß. Im Bosserdanger Moor bei Oberkerschen in Luxemburg stand vor vielen, vielen Jahren ein Schloß, dessen Herrschaft war im ganzen Lande berüchtigt wegen ihres Geizes und wegen ihrer Härte gegen arme Leute. Eines Tages kam ein alter Bettler auf den Schloßhof und bat um ein Almosen. Da ließ der Schloßherr die Hunde auf ihn Hetzen. Aber eine mitleidige Magd rief die Hunde zurück und lief auf ihr Zimmer und brachte dem Bettler etwas von ihrem Ersparten. Da sagte der Bettler, sie solle sofort das Schloß verlassen und mit ihm kommen; und sie dürfe nicht eher hinter sich sehen, als bis er selber stehen bleibe. Sie verließen das Schloß, und nach einer kleinen Strecke blieb der Alte bei zwei großen Birnbäumen stehen. Da sah das Mädchen sich um. Aber von dem Schloß war nichts mehr zu sehen, nur der Schornstein ragte noch aus einem tiefen Wasser hervor. Eine prächtige goldene Wiege, in der ein kleines Kind lag, schwamm noch eine Weile auf dem Wasser (nach einigen sogar acht Tage lang) und versank gerade an der Stelle, wo der Schloßbrunnen gewesen war. Und als sich das Mädchen dann wieder nach seinem Begleiter umsah, war er verschwunden.

Der Meerweizen. Wenn die Bremer Schiffer nach Amsterdam fahren, kommen sie an einer Stelle vorbei – es soll bei Harlingen sein –, wo Weizen im Meer wächst. Die Ähren kommen ganz goldgelb aus dem Wasser hervor, aber es sind keine Körner drin. Da war nämlich mal in dieser Gegend eine reiche Frau, die war so reich, daß sie gar nicht daran dachte, sie könne je arm werden. Da kam nun einmal einer von ihren Schiffern aus der Ostsee, der hatte Weizen geladen. Die Frau fragte ihn, auf welcher Seite er den Weizen eingeladen habe; da sagte er: »Auf dem Backbord«; da sagte sie: »So schütt ihn auf dem Steuerbord nur wieder aus.« Da warnte er sie denn, sie solle sich nicht versündigen; es könne ihr noch einmal schlecht gehen. Aber sie zog einen Ring vom Finger und warf ihn ins Meer und sagte: »So wenig als ich diesen Ring je wieder bekommen kann, so wenig kann ich auch je arm werden!« und ließ ihn allen Weizen ins Meer schütten. – Am andern Tag schickte sie ihre Magd auf den Markt, einen Schellfisch zu kaufen, und als die Magd den Fisch zu Haus aufschneidet, so liegt der Ring drin. Und da hats dann auch nicht lange mehr gedauert, so ist die Frau ganz arm geworden, so arm, daß sie zuletzt nicht mehr so viel hatte, um ihre Scham zu bedecken. – An der Stelle aber, wo sie den Weizen ins Meer schütten ließ, wächst er noch fort bis auf den heutigen Tag.

Vineta. Etwa eine halbe Stunde vom Strekelberg, einem Vorgebirge auf Usedom, hat vor uralter Zeit eine große, reiche Stadt gelegen, die hieß Vineta; in der hat alles von Gold und Silber und Marmor geglänzt, aber die Leute in der Stadt sind sehr gottlos gewesen. Kleine Löcher in den Wänden haben sie mit Brot verstopft, und ihre Schweine haben aus goldenen Trögen gefressen, und selbst die waren ihnen noch nicht gut genug. Da beschloß der Herr, die gottlose Stadt untergehen zu lassen, und an einem schönen Sommertag erhob sich plötzlich ein Wetter; die Wellen brachen über die Stadt herein und begruben alles. Nur ein einziger Mann, der fromm geblieben war, setzte sich noch rechtzeitig auf sein Pferd und entkam. Die Wellen stürzten zwar hinter ihm her, aber er kam glücklich nach Coserow, und da war er gerettet. Sein Pferd stürzte aber auch gleich tot unter ihm zusammen. – So ist Vineta untergegangen. Aber alle Jahre, am heiligen Ostermorgen, hebt es sich aus der Flut und tanzt und springt freudig über den Wogen.

 

Was im einzelnen der Anlaß war, warum eine solche Frevellichen und Untergangssage an dem einen oder andern Ort erzählt wird, läßt sich auch nur im einzelnen beantworten. In vielen Fällen haben wirkliche Untergangsspuren, Burgtrümmer oder die Reste verlassener Siedelungen die Phantasie erregt; in andern hat sich die bereits verdunkelte Vorstellung vom unterirdischen Reich der Toten mit Frevel und Untergang eine erklärende Vorgeschichte geschaffen. Die Sagen von versunkenen Küstenstädten, die zunächst aus der Erinnerung an große Überschwemmungen erwuchsen, fanden ihre Nahrung immer wieder in den eigenartigen und sehr eindrucksvollen Luftspiegelungen, die gerade am Meeresstrand bei klarem Wetter oft weitentlegene Orte und Landschaften für ein paar Stunden mit überraschender Deutlichkeit über dem Horizont erscheinen lassen. So taucht im Norden von Rügen an gewissen Tagen die von den Fluten verschlungene Stadt »Arkona« mit ihren Häusern und Straßen und Türmen »wie ein Nebelbild« aus dem Meer empor; so »tanzt und springt« am Ostermorgen Vineta »freudig über den Wogen«.


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