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3. Die Toten auf dem Friedhof und im Berg

Heidentum wußte nichts von einem zeitlich begrenzten Fegefeuer. Es stellte sich die Frage ganz allgemein: wo ist das Reich und die neue Heimat der Toten? und fand eine dreifache Antwort darauf: Entweder hausen die Toten als »lebende Leichen« dort wo man ihre Körper bestattet hat: Grabstätte und Friedhof sind erfüllt von ihrem spukhaften Treiben; oder sie gehen in Berge und Hügel und haben dort ein Leben, das dem der Menschen in vielem gleicht; oder endlich sie gehen ein in den Wind und fahren mit ihm ruhelos übers Feld und durch den Wald und die Bergschlucht hinunter. Alle drei Meinungen begegnen uns noch heute im Glauben und in den Sagen des Volks.

Daß der Friedhof, der jeden Besucher an den Tod und an verstorbene Angehörige gemahnt, besonders gern zum Schauplatz von Spukerlebnissen wird, ist leicht zu verstehen. Wer an ihm vorübergeht oder ihn gar betritt, weilt mit seinen Gedanken schon an der Pforte, die das Leben schließt, und alles was er Überraschendes und Auffälliges bemerkt, findet schnell seine Erklärung aus dem unheimlichen Treiben der Toten. Die weißen Nebelstreifen, die in der Mondnacht über den Gräbern liegen, werden zu Leichentüchern, das Spiel der Schatten, die mit dem Wind um Kirche und Gräber huschen, zum nächtlichen Geisterreigen. Das Mondlicht, das dem Wanderer von den Kirchenfenstern entgegenspiegelt, scheint ihm aus der Kirche selber zu dringen und die Erklärung ist leicht gefunden: dort drinnen halten um Mitternacht die Toten Messe und Hochamt wie die Lebenden am Tage.

Der Totentanz. 1. Einmal schaute der Türmer von Mals im Vintschgau um Mitternacht auf den Freithof hinab. Da sah er, daß die Toten aus ihren Gräbern gestiegen waren und allerlei Tänze aufführten. Das gefiel ihm und er dachte sich: ich will die lustigen Brüder necken und sehen, was sie dann machen. Er nahm kleine Steinchen und warf sie auf die Gespenster hinunter. Doch kaum hatte er das getan, so kletterten die Gerippe am Turm hinauf und stiegen zum Fenster hinein. Dann nahmen sie den Türmer, der vor Schrecken schon halbtot war, und warfen ihn in fürchterlicher Wut auf den Freithof hinunter. Als die Leute am andern Morgen zur Frühmesse kamen, fanden sie die Leiche des armen Türmers auf einem Grabe liegen.

2. Der Küster in Hagenow sah einst vom Turm aus die Toten um Mitternacht aus ihren Gräbern kommen und auf dem Kirchhof tanzen. Sie knixten dabei und fragten einander:

Wo lang is di din Kitt?

Der Küster äffte ihnen diese Worte spöttisch nach und rief:

Wo lang is di din Schritt?

Da kamen die Gespenster zu ihm herauf geklettert. Aber der Küster zog schnell die Glocke, daß sie Eins schlug, da kehrten die Toten wieder um und schlüpften in ihre Gräber zurück. Der Küster aber starb am dritten Tage darnach.

Spielkäffer auf dem Friedhof. Der bekannte Spielkäffer, von dem man sich auch sonst allerlei Geschichten erzählt, hat sich einmal in Overrath im Bergischen, wo er zum Tanz aufspielte, einen Rausch angetrunken, und als er nun in der Nacht nach Bensberg weiter wollte, kam er von der Straße ab und auf den Friedhof. Da war es gerade Mitternacht, und da hat er in seinem Übermut den Toten eins aufgespielt. Aber beim ersten Geigenstrich sind die Toten auch richtig aus ihren Gräbern heraus und haben zu tanzen angefangen, in der Luft, über den Gräbern und Grabkreuzen. Der Spielkäffer hat immerzu gegeigt und die Toten haben getanzt; aber zuletzt ist er müde geworden und hat verschnaufen wollen. Da sind die Toten gleich auf ihn los, lauter Gerippe, und haben ihm gedroht, und der Spielkäffer hat weiter geigen müssen. Weil er so müde war, hat er sich auf ein Grabkreuz gesetzt und hat gespielt, bis ihm die Hand und der Arm lahm wurden. Aber wenn er einmal absetzen wollte, haben die Toten es nicht gelitten. Bis es endlich 1 Uhr geschlagen hat, da sind die Toten alle auf einmal verschwunden gewesen und auch der Käffer ist von seinem Steinkreuz herunter auf das Grab gesunken. Als er aufwachte, graute schon der Tag. Da nahm der Spielkäffer Fiedel und Ranzen und zog von dannen. Aber den Toten hat er nicht wieder geigen mögen.

Vom Gottesdienst der Toten. 1. Zuckmantel (in Österreichisch-Schlesien) war einst eine bedeutende Stadt mit einer großen Kirche; sie hieß aber irgendwie anders, man weiß nur den Namen nicht mehr. Einmal nun ging ein Mann um Mitternacht an der Kirche vorüber. Sie war hell erleuchtet und dumpfer Chorgesang erklang von drinnen. Der Mann ging in seiner Neugierde hinein. Da sah er eine Menge Leute mit fahlen, ausgetrockneten Gesichtern, darunter auch Bekannte, die schon vor mehreren Jahren gestorben waren. Und am Hauptaltar las ein Priester die Messe, der hatte einen Totenkopf. Da erschrak der Mann und floh eilends aus der Kirche. Aber wie er eben die Türe erreichte, sprach der Priester das Amen. Da stürzten die unheimlichen Kirchgänger wie rasend hinter ihm drein. Einer erwischte ihn sogar noch, aber nur beim Mantel. Da ließ er den Mantel fahren und entkam mit knapper Not über die Kirchhofsmauer. Am andern Morgen fand man den Mantel in tausend Fetzen zerrissen vor der Kirchentür.

2. Zwei Rheinwächter sahen einmal die Grüninger Kapelle noch spät nachts hell erleuchtet. Da ließ sich der eine vom andern zu dem einen Fenster hinaufheben und sah hinein; aber sofort verlangte er wieder hinab. Auf die Frage, was er in der Kapelle gesehen habe, antwortete er nur: »Schau selbst!« – und am dritten Tage war er eine Leiche.

Nur wenige sind es, die das Grauen vorm nächtlichen Friedhof wirklich überwinden, und es ist eine beliebte Mutprobe, die die Bauernburschen und Mädchen einander auferlegen: sich nachts dorthin zu wagen und irgendein Wahrzeichen von dort mitzubringen. Aber eine solche Überkühnheit erscheint dem Volk auch wieder bedenklich, und es weiß eine ganze Reihe von Fällen, in denen der Waghals bei seinem Unternehmen zu Schaden kam.

Der Klapperhannes. Im Schulhaus zu Urspringen in Baden spielten einst die jungen Leute bis in die Nacht hinein Pfänder. Einem Mädchen ward aufgegeben, jetzt allein in das Beinhaus des nahen Kirchhofs zu gehen und aus dem Hühnerneste dort die Eier zu holen. Sie weigerte sich aber, denn sie fürchtete sich vor dem Klapperhannes. Das war das Gerippe eines Mannes, der mit Vornamen Johannes geheißen hatte, und weil es im Winde immer so klapperte, wurde es der Klapperhannes genannt. Zuletzt erbot sich einer der Burschen, das Pfand des Mädchens zu lösen. »Mir tut der Klapperhannes nichts, ich bin sein Pate,« sagte er spöttisch. Damit ging er in das Beinhaus und nahm die Eier aus dem Nest. Als er aber dann damit fort wollte, hängte sich das Gerippe ihm auf den Rücken und ließ sich von ihm bis vor den Kirchhof tragen. Dort sprach es: »Wärest du nicht mein Pate, so hätte ich dir für dein Freveln den Hals gebrochen. So aber trage mich in das Beinhaus zurück und laß sechs heilige Messen für mich lesen.« Da brachte der Bursch das Gerippe gleich wieder ins Beinhaus und als er es absetzte, verfiel es in Asche. Nachher ließ er auch die sechs Messen lesen und erlöste dadurch seinen Paten aus dem Fegefeuer.

Bestrafter Vorwitz. Einmal saßen in einer Rockenstube viele Mädchen beisammen, und eine war darunter, die sagte, sie fürchte sich vor nichts, sie sei bereit, sofort auf den Kirchhof zu gehn und dort auf einem bestimmten Grabe ihr Spinnrad einzugraben. Die andern wollten es ihr nicht glauben; da nahm sie das Spinnrad, und obgleich ihr einige abredeten, ging sie auf den Kirchhof. Aber sie kam den Abend nicht wieder, und so glaubten alle, sie habe sich unterwegs anders besonnen und sei heimgegangen, um nicht verspottet zu werden. – Am andern Tage hörten sie mit Entsetzen, sie liege tot am Grabe. Sie hatte ihr Spinnrad in das Grab gesteckt, aber als sie aufstehn wollte, faßte der Tote sie an der Schürze und zog sie zurück. Das hat man ganz deutlich gesehen, denn die Schürze war bis zur Hälfte in der Erde und hing noch am Fuß des Spinnrades fest.

 

Während der Glaube, daß die Toten in ihren Gräbern auf dem Friedhof hausen, zwar uralt aber aus naheliegenden Gründen noch heutigentags in unserm Volk frisch lebendig ist und darum noch jederzeit zu neuen unheimlichen Erlebnissen und neuen Sagen Anlaß geben kann, hat sich die Vorstellung von einem Reich der Toten in bestimmten Bergen heute nur noch in wenigen altertümlichen Sagengruppen erhalten. Das Verhältnis der beiden Vorstellungen scheint mir noch nicht geklärt: waren die hohen Grabhügel, wie sie etwa unsere Vorfahren in der norddeutschen Ebene ihren vornehmen Toten türmten, der Ausgangspunkt für den Glauben an ein Totenreich im Berg, oder sind sie umgekehrt nur Abbilder dieses Reichs, Nachbildungen der Berge, in denen die Toten von Gebirgsstämmen beigesetzt wurden? Jedenfalls gilt auch für die Vorstellung vom Totenreich im Berg, daß sie jenen ältesten Glauben zur Grundlage hat, nach dem nicht die Seele, sondern der Tote selber als Leichengespenst weiterlebend gedacht wurde. – Die eine Sagengruppe, in der sich diese Vorstellung bis heute erhalten hat, ist die vom schlafenden Kaiser:

König Karl und sein Heer im Odenberg. Am Fuße des Odenbergs in Hessen schlug König Karl eine große Schlacht. Da wurde soviel Blut vergossen, daß es tiefe Furchen in den Boden riß. Oft sind sie zugedämmt worden, aber der Regen spült sie immer wieder auf. Die Blutbäche flossen zusammen und bis nach Besse hinunter. Aber Karl siegte. Abends tat sich der Berg auf und nahm ihn und sein ermattetes Kriegsvolk ein und schloß seine Wände. – Andere erzählen, Karl sei vom Feind verfolgt worden und bis zum Odenberg gekommen; da rief er Gott an, ihn mit all den Seinen in den Berg zu nehmen. Der Berg öffnete sich und Karl ging mit seinem ganzen Heer hinein, und dann ging der Spalt wieder zu. – In diesem Berge ruht der König nun von seinen Heldentaten aus. Er hat verheißen, alle sieben oder alle hundert Jahre herauszukommen. Dann hört man Waffen in den Lüften rasseln, Pferdegewieher und Hufschlag, Trommel- und Trompetenklang. Dann verläßt Karl Quintes mit seinen Kriegern den Berg. Erst geht's an den Glisborn, dort werden die Rosse getränkt, und nun geht's weiter in der Runde und zuletzt wieder in den Berg zurück. Sonntagskinder, die zwischen den Kirchen geboren sind, haben den Zug schon oft gesehen. Die Soldaten sind meist verstümmelt: der hat einen Arm verloren, der ein Bein, der hat nur ein Ohr, und viele andere haben klaffende Wunden. – Einmal gingen Leute an den Odenberg und hörten Trommelschlag, aber sie konnten nichts sehen. Da war einer dabei, der bog seinen Arm zum Ring und ließ die andern da durchschauen. Da sahen sie eine Menge Kriegsvolk beim Exerzieren, und die gingen den Odenberg ein und aus. – Andere sagen auch: ehe ein Krieg ausbricht, tue sich der Berg allemal auf; dann kommt Kaiser Karl hervor, stößt in sein Hüfthorn und zieht nun mit seinem ganzen Heere aus in einen andern Berg.

Die Sage vom schlafenden Kaiser erscheint heute und schon seit vielen hundert Jahren meistens fest mit der deutschen Kaiserweissagung verbunden und hat sich mit ihr in eigener Richtung entwickelt. Die Entstehung und allmähliche Weiterbildung dieser Kaiserprophetie, aus vorchristlich-römischen und jüdischen Hoffnungen auf das kommende Weltreich und den Friedensfürsten bis zum Glauben an die Wiederkunft des vielgeliebten und vielgehaßten Staufers Friedrichs des Zweiten zu schildern, kam dem dritten Bande dieses Werkes zu. Uns genügt es hier daran zu erinnern, daß das Motiv vom dereinst wiederkehrenden Heldenkaiser schon vor Jahrhunderten vom deutschen Volk in seinen Sagenschatz aufgenommen und mit der Vorstellung von den im Berge hausenden Toten in Verbindung gebracht wurde. Der alte Führer dieser Toten, Karl, oder mit jüngeren Namen: Friedrich der Zweite, oder Barbarossa, oder Heinrich der Vogler wird einst so hofft man, in der Zeit der höchsten Not mit seinen Kriegerscharen aus dem Berg hervorkommen und sein Volk zum Siege und einer herrlichen Zukunft entgegenführen.

Diese tröstliche Hoffnung stützt sich auf Erzählungen vom Besuch im Berg: es hatte einmal einer den Eingang zum Totenberg offen gefunden, er hatte dort den schlafenden Fürsten und sein Heer gesehen und hatte Botschaft von ihm zu den lebenden Menschen zurückgebracht.

Der schlafende König im Wolsberg. Im Wolsberg bei Siegburg, tief unten in einer riesigen Felsenhöhle, sitzt ein mächtiger König; der sitzt auf einem steinernen Stuhl und lehnt das Haupt vornüber auf einen steinernen Tisch und mit beiden Händen hält er den Griff seines Schwertes. Nebenan in anderen Höhlen stehen Pferde in langen Reihen an ihren Krippen, da schlafen auch bewaffnete Krieger und Knappen. In gewissen Nächten und zur bestimmten Stunde steht der Wolsberg offen, sodaß man hineingehen kann. Einmal hat sich ein Jäger dorthin verirrt und all diese seltsamen Dinge gesehen. Wie er eintrat, erhob sich der König und frug ihn halb im Traume, ob die Elster noch um den Felsen fliege und als der Jäger sagte: »Ja, sie fliegt noch immer,« ist der König wieder eingeschlafen. – Wenn einmal die Elster nicht mehr um den Wolsberg fliegt, wenn die schwarze Zeit die Oberhand gewonnen hat, dann wird der König aus dem Felsen hervortreten und in sein Heerhorn stoßen und eine ruhmreiche neue Zeit begründen.

Der Schmied im Wolsberg. Ein Schmied aus Siegburg hatte einst auf dem Rittergut »zur Mühle« gearbeitet, und als er nun abends heimwanderte, überkam ihn eine solche Müdigkeit, daß er sich am Abhang des Wolsberges ins Gras legte und bald einschlief. Gerade um Mitternacht wachte er auf; da stand ein geharnischter Ritter mit grauem Bart vor ihm, der forderte ihn auf, ihm zu folgen. Der Schmied stand auf und sah zu seinem Erstaunen am Wolsberg ein eisernes Tor, vor dem zwei riesenhafte bewaffnete Wächter standen. Auf dies Tor ging der Ritter zu und der Schmied ging hinter ihm her. Das Tor wurde geöffnet und nun kamen sie durch einen langen finsteren Gang an ein zweites Tor, vor dem wieder zwei Wächter standen und ihnen öffneten. Dann traten sie in einen weiten Rundsaal, dessen Wände glänzten und blitzten vor lauter Edelsteinen. In der Mitte stand ein goldener Thron, darauf saß einer und schlief, und um ihn herum lagen viele Männer in eisernen Rüstungen, die schliefen ebenfalls. Aber der Ritter drängte weiter: er führte den Schmied in eine andere Halle, in der standen Hunderte von Rossen an den Krippen und alle waren fertig angeschirrt, als sollte es gleich zu einer Schlacht gehen. – Nun mußte der Schmied den Rossen neue Hufeisen machen. Das Schmiedefeuer brannte schon in der einen Ecke, auch Werkzeug und Eisen war bereit, er brauchte sich nur an die Arbeit zu machen. Und die ging ihm so schnell von der Hand, daß die Eisen in wenigen Stunden nicht nur fertig, sondern den Pferden auch schon an Stelle der alten angeschlagen waren. Da dankte ihm der Ritter und gab ihm zum Lohn die Hufnägel, mit denen die alten Eisen befestigt gewesen waren. Der Schmied wunderte sich etwas über diesen Lohn, aber er gab sich damit zufrieden. Dann begleitete ihn der Ritter wieder aus dem Berg heraus; da war es schon gegen Morgen. Der Schmied legte sich noch einmal ins Gras, um noch bis Sonnenaufgang zu schlafen. Aber als er wieder aufwachte, war es heller Tag. Von dem Tore am Berge war nichts mehr zu sehen, und der Schmied dachte schon, er hätte alles nur geträumt. Da sah er aber das Säckchen mit den Nägeln neben sich liegen; er machte es auf: es waren Nägel aus eitel Gold. Also war es doch kein Traum gewesen, und der Schmied war mit einem Schlag zum reichen Mann geworden.

Der Fuhrmann im Untersberg. Nach oberkärntischer Sage zieht sich der Untersberg von Salzburg bis Villach weitum in die Runde. In ihm sitzt Kaiser Friedrich mit seinen Untertanen; sie alle schlafen und harren der Erlösung. Aber auch gewöhnliche Erdenkinder kommen zeitweilig in dies Reich. Zwölf Tore führen in den Untersberg, die sind im Umkreis verteilt; eins davon soll in der Nähe von Villach zu finden sein. – Ein Fuhrmann kam einmal mit einer Ladung Wein die Straße daher. Da trat ihm ein Untersberger in den Weg und begehrte den Wein, gegen gute Bezahlung, wie er versicherte. Der Fuhrmann wars zufrieden und brachte den Wein nach der verlangten Stelle. Da stand mitten im Walde ein schönes Marmortor mit der goldenen Aufschrift: Untersberg. Eine prachtvolle Straße führte in den Berg hinein; das Tor war aber »verblendet«, d. h. nicht für jeden sichtbar. So ging der Mann weiter, der Untersberger immer dicht an seiner Seite neben dem Wagen, bis sie zum schlafenden Kaiser Friedrich kamen. Dessen Bart reichte bereits zweiundeinhalbes Mal um den steinernen Tisch, an dem er saß. Der Fuhrmann fragte, wann er denn einmal aufwachen werde; da antwortete der Untersberger: »Wenn der letzte Glaubenskrieg kommt. Wir haben den ersten siegreich und gottgefällig überstanden und müssen hier bleiben bis zum letzten.« Dann machten sie die Runde durch den Berg. Am Straßenrand lagen überall schlafende Krieger in voller Rüstung. Dem einen zog der Fuhrmann das Schwert halb aus der Scheide; da wachte der auf und rief: »Ist's Zeit?« – »Nein!« sagte der Untersberger und stieß das Schwert zurück; dann wandte er sich an den Fuhrmann und sagte tadelnd: » Mensch, laß die Schwerter unberührt, sonst geht es los!« Der Krieger aber fiel zurück und schlief weiter. Als der Fuhrmann endlich wieder herauskam, waren sieben Jahre der irdischen Zeit verstrichen.

Beim Kaiser im Guckenberg. In dem Guckenberg bei Fränkisch-Gemünd ist vor Zeiten ein Kaiser mit seinem ganzen Heer versunken. Er kommt aber, wenn sein Bart dreimal um den Tisch gewachsen ist, an dem er sitzt, mit allen seinen Leuten wieder heraus. – Dort auf dem Berge traf einmal ein armer Bube, der in der Gegend Wecke zum Verkauf trug, einen alten Mann; dem klagte er, daß er nur wenig verkaufen könne. Da sagte der Mann: »Komm, ich will dir wohl einen Ort zeigen, wo du deine Wecke täglich anbringen kannst; aber du darfst niemandem etwas davon sagen.« Damit führte er den Buben in den Berg. In dem war ein reges Leben und Treiben; viele Leute kauften und verkauften, manche gingen in die Kirche, andere hielten einen Bittgang. Der Kaiser selbst saß an einem Tisch und sein Bart war zweimal um den Tisch herumgewachsen. Der Bube brachte von nun an täglich zweimal seine Wecke in den Berg und wurde dafür in uraltem Gelde ausbezahlt. Zuletzt aber wollten die Leute im Dorf dies Geld nicht mehr von ihm annehmen und wollten wissen, wie er dazu gekommen sei. Da erzählte er ihnen alles. Als er dann aber am nächsten Tage wieder in den Berg wollte, konnte er ihn (wie auch ein anderer Bube, der mit ihm ging) nicht einmal ersehen und noch viel weniger den geheimnisvollen Eingang wiederfinden.

Der Wein im Kyffhäuser. Ein Tischlergeselle aus Nordhausen, namens Thiele, ist einmal in die Fremde gegangen, und wie er an den Kyffhäuser kommt, ist er gerade offen. Das kommt aber nur alle sieben Jahre vor; und da denkt er denn: willst einmal hineingehen. Als er nun in den Berg kommt, sieht er da den Markgraf Hans sitzen, dem ist der Bart über den Tisch hinüber und die Nägel sind ihm durch den Tisch hindurchgewachsen. Rings herum an den Wänden liegen große Weinfässer, an denen sind die Bände und das Holz schon ganz abgefault; der Wein hat sich aber seine eigene Schale gebildet und ist blutrot. Vor dem Markgrafen Hans stand ein Weinglas, in dem hatte er noch einen kleinen Rest gelassen. Da nahm der Gesell das Glas und trank es aus. Davon wurde er aber so schläfrig, daß er gleich einnickte; und als er aufwachte, hatte er sieben Jahre im Berg verschlafen.

 

Die Toten im Berg leben außerhalb aller irdischen Zeit und wer zu ihnen geht, wird ihnen darin gleich: er verliert alles Zeitgefühl. Jahre oder gar Jahrhunderte, die er bei ihnen weilt, scheinen ihm kurze Stunden oder Tage. Er altert auch nicht, bis er wieder in die Erdenluft zurückkehrt: da erst ergraut er plötzlich und wer jung in den Berg hineinging, kommt als ein Greis wieder daraus hervor.

Der Sauhirt im Kyffhäuser. Ein Sauhirt ließ die Herde in den Mittagsstunden immer durch seinen Knaben hüten. Aber jedesmal verschwand gerade zu Mittag eine Sau von der Herde, und wenn der Sauhirt zurückkam, schalt er den Knaben darum. Da band der eines Tages aus Furcht der Sau einen Zwirnsfaden um und behielt das Knäul in der Hand. Und nachher ging er ihr nach, indem er das Knäul sorgfältig wieder aufwickelte. So kam er an ein Loch, das in den Berg führte, und da kroch er hinein. Da sah er Rappen stehen, in langer Reihe an der Krippe, und unter der Krippe fraß seine Sau den herabfallenden Hafer auf. Da trat auch das Burgfräulein zu ihm und tröstete ihn wegen der Sau; dann führte sie ihn an einen Tisch und trug ihm zu essen auf. Er setzte sich und aß. Als er aufstand und wieder aus dem Berge kam, war die ganze Herde verschwunden. Da stieg er nach Tilleda hinunter, aber alles kam ihm ganz fremd vor. Er fragte nach seinem Meister, dem Sauhirten – niemand wußte etwas von ihm. Die Kinder aber umringten ihn und lachten ihn aus; da merkte er erst, daß er einen schneeweißen Bart hatte. Er war ein Greis geworden und im Kirchenbuche stand, daß gerade vor einhundert Jahren der Saubube am Kyffhäuser verschwunden sei. Weil ihn nun niemand mehr kannte, so wäre er gern zu den Schätzen des Kyffhäuser zurückgekehrt. Aber er fand den Eingang nicht wieder. Hätte er seine Jacke dort liegen lassen, so hätte er wieder hineingekonnt.

 

Das »Burgfräulein« in dieser letzten Sage gehört schon einer neuen Vorstellungsreihe an: der gleiche Berg, das Totenreich, in dem das eine Mal der Kaiser als Führer der Toten schlummert, beherbergt ein anderes Mal eine weiße Frau oder Jungfrau, die sich von Zeit zu Zeit, besonders gern um die Mittagsstunde, in blendend weißen Gewändern draußen sehen läßt. Gewöhnlich wohnt diese weiße Frau heute allerdings allein in ihrem Berg; ursprünglich aber war sie wohl wie in den zunächst folgenden beiden Sagen nur eine einzelne aus der Schar der im Berginnern hausenden Toten.

Der Hirte von Dillingen. Einst war im Lande an der Saar eine große Hungersnot und viele Leute starben. Da war in Dillingen auch ein Hirte, der hatte sieben Kinder und alle sieben hatten gute Zähne zum Beißen, und der arme Hirt hatte nichts für sie zum Essen. So trieb er eines Morgens früh seine Herde dem Heiligen Berge zu, in dem ein Kloster versunken ist, und war so recht bekümmert. Da öffnete sich plötzlich vor ihm der Fels und eine weiße Nonne winkte ihm, er solle ihr folgen. Das tat er auch und nun gings durch dunkle Gänge und an dem versunkenen Kirchlein vorbei und dann über breite Treppen zu einem Speicher, auf dem eine große Masse Getreide lag. Die Nonne winkte wieder und der Hirte lud sich ein schweres Malter Getreide auf die Schultern. Dann ging er hinter der Nonne her wieder die Treppen hinunter bis zum Tor; da hörte er die Klosterschwestern singen. Am Tor legte die Nonne ernst und schweigend die Hand an die Lippen und nun öffnete sich der Fels wieder und der Hirte lief ganz glückselig mit seiner Last seiner Hütte zu. Nun war er mit seiner ganzen Familie vor dem Hungertod gerettet. War der Sack leer, so ging er wieder zum Felsen und betete, dann tat sich der Fels aus und ließ ihn ein. – Seine Frau wurde immer neugieriger und hätte gar zu gern gewußt, woher er immer so viel schönes Getreide brächte, aber der Hirt dachte an das Zeichen der Nonne und schwieg. Einmal ging die Frau aber aus der Ferne hinter ihm her, und wie sie den Felsen aufgehen sah, rief sie: »Georg, geh schnell!« Da schlug das Felsentor mit lautem Krachen zu und hat sich seitdem nie wieder geöffnet.

Die Jungfrau am Waschstein bei Stubbenkamer. Dicht bei Stubbenkamer auf Rügen erhebt sich am Strande des Meeres der Waschstein. In einer Höhle unter diesem Felsen hat einst der berühmte Seeräuber Störtebeck seine Niederlage gehabt. Dorthin zog er mit den Vitalienbrüdern, wenn er einmal von seinen Räubereien ausruhen wollte; dort verbarg er die geraubten Schätze; und keiner von seinen Feinden kannte den Platz. Noch heute ist es in der Höhle nicht geheuer. Oft sieht man um Mitternacht eine trauernde Jungfrau draus hervorkommen, mit einem blutigen Tuche in der Hand. Mit dem geht sie ans Wasser, um die Blutflecken herauszuwaschen; aber das will ihr nicht gelingen und nach einiger Zeit geht sie seufzend in die dunkle Höhle zurück. Von dieser Jungfrau erzählt man, sie sei ein vornehmes Fräulein aus Riga gewesen, die hat der Störtebeck einmal auf einem Raubzuge gefangen und mitgenommen, gerade wie sie ihrem Bräutigam sollte angetraut werden. Der deutsche Ordensmeister hat ihn zwar mit vielen Schiffen verfolgt, aber er hat ihn nicht einholen können. Da hat Störtebeck sie in die Höhle am Waschstein gebracht, und wie er wieder aus einen Raubzug in See ging, hat er sie mit allen seinen Schätzen darin eingeschlossen. Aus diesem Zug aber wurde er von den Hamburgern gesungen und mit 711 seiner Spießgesellen in Hamburg hingerichtet. Das war im Jahr 1402. Die Jungfrau aus Riga hat nun in der Höhle sterben müssen, weil niemand sie befreien konnte. Und sie hat noch immer bei den Schätzen, die sie bewacht, keine Ruhe finden können. – Vor vielen Jahren sah sie einmal ein Fischer bei ihrem vergeblichen Waschen. Da faßte er sich ein Herz und ruderte näher zu ihr hin und sprach sie an: »Gott helf, schöne Jungfer, was machst du so spät hier noch allein?« Da verschwand die Jungfrau; aber der Fischer war wie von einem Zauber befangen und konnte nicht von der Stelle. Und wie nun Mitternacht kam, da sah er die Jungfrau wieder. Sie trat zwischen den Kreidefelsen hervor auf ihn zu und sagte: »Weil du Gott helf zu mir gesagt hast, so ist dein Glück gemacht. Komm mit!« Damit ging sie wieder zwischen die Felsen und der Fischer ging mit ihr, in eine große weite Höhle, die er vorher noch nie gesehen hatte. Darin lagen unermeßliche Haufen von Silber, Gold, Edelsteinen und Kostbarkeiten aller Art. Wie der Fischer sich all die Schätze noch erstaunt betrachtete, hörte er auf einmal auf der See Ruderschlag; und als er sich darnach umblickte, sah er ein großes schwarzes Schiff herankommen, aus dem stiegen an die tausend Männer, alle in dunkler alter Tracht und alle trugen ihren Kopf unterm Arm. Sie schritten still und ohne ein Wort zu sprechen, in die Höhle hinein und fingen an, in den geraubten Schätzen zu wühlen und sie zu zählen. Das waren die Geister des geköpften Störtebeck und seiner Genossen. Sie kommen jede Nacht so dahin und zählen ihren Raub, ob noch alles da ist. Nachdem sie lange in dem Golde herumgewühlt hatten, verschwanden sie alle wieder. Und nun füllte die Jungfrau dem Fischer einen Krug mit Gold und Edelsteinen, daß er zeitlebens daran genug hatte. Dann geleitete sie ihn zu seinem Schiff zurück, und als er sich wieder nach ihr umsah, war sie zusamt der Höhle verschwunden.

 

Der reiche Inhalt dieser Rügenschen Sage ist aus drei Quellen zusammengeflossen: aus halbgeschichtlichen Räubersagen, aus der Vorstellung vom Totenreich im Berge, hier in den tief ausgewaschenen Kreideklippen des Meeresstrandes, und aus der mythischen Erklärung eines natürlichen Geräusches: wie die Nieserin unter der Brücke das Geräusch des gleitenden Wassers, so verkörpert hier die seufzende Wäscherin das Geräusch der kleinen Wellen, die widerhallend gegen die Wände der finsteren Höhle klatschen.

Ähnliche Geräusche, daneben auch die Erscheinung des am Berghang über dem Grase lagernden Nebels, liegen auch sonst oft den Sagen von der weißen Frau zugrunde; so wenn sie um die Mittagszeit am Rande eines Brunnentroges sitzt und seufzt, oder am frühen Morgen ihr Linnen oder ihren Flachs zum Bleichen über das Gras der Waldwiese breitet. Die gleichen Wahrnehmungen, die sonst einfach als Werk der armen Seelen gedeutet wurden, führten bei Bergen und Hügeln zu der Vorstellung von einer weißen Frau, die für gewöhnlich im Berginnern haust und nur von Zeit zu Zeit ans Tageslicht kommt. Besonders begünstigt waren dabei von jeher solche Berge, auf denen die Trümmerreste einer alten Burg oder sonst irgendeines alten Bauwerkes zu sehen waren. Da hieß es dann, die Burg dort oben sei einst mit all ihren Gemächern in den Berg hinein versunken; die weiße Frau war die letzte Burgherrin, die nun noch immer über ihre Schätze wachte.

Die Nebelfrau. Ein junger Bauer aus Kehrberg (in der Mark) hatte im Frühjahr 1878 seinen Bruder besucht, der in Selchow verheiratet war, und wanderte noch in später Nacht heim. Da der Mond hell schien, wählte er den kürzeren Weg über die Ruine. Bei der ist es an bestimmten Tagen nicht geheuer. Wie der Mann nun in die Nähe der Ruine kommt, da sieht er vor sich in der Luft so weiße Dinger in einer Reihe, gar nicht hoch über der Erde. Er geht näher heran, da sieht er ganz deutlich, daß da lauter weiße Wäsche auf einer langen Leine zum Trocknen hängt. Gleichzeitig sieht er auch eine Weibsperson bei der Wäsche, die sah aus wie ein junges Mädchen und hatte eine weiße Schürze und Hackenschuhe. – Da wurde es ihm doch unheimlich und er versuchte, im Bogen um die Ruine herumzugehn; aber er mochte nach links ausbiegen, so weit er wollte, die Wäsche ging immer mit, und er hatte sie immer vor sich. So kam er bis an den See hinunter, und wenn er nun nicht umkehren wollte, konnte er nicht anders weiter als unter der Wäsche durch. Er nahm also seinen Stock und wollte die Wäsche beiseite heben. Da streicht er mit dem Stock durch leere Luft, und wie er dann durchgeht, rührte ihn die Wäsche nirgends an. Wie er das merkt, hat er sich keinen Augenblick länger aufgehalten. Später hat er erzählt, er habe den Weg von da bis Kehrberg noch nie in so kurzer Zeit zurückgelegt wie in dieser Nacht.

Silberne Saat. Bei Markdorf am Bodensee stand auf einem Hügel in alten Zeiten ein Schloß, von dem noch Spuren zu sehen sind. Da zeigte sich noch vor einigen Jahren ein weißes Fräulein, die lief auf dem Walle hin und her und streute, wie wenn der Landmann die Frucht aussät, glänzendes Silbergeld auf den Boden, eine Handvoll nach der andern. Wenn man dann tags darauf nachsuchte, so hat man wohl hie und da noch ein Geldstück gefunden.

Die weißen Jungfern zu Eisborn. Im alten Schlosse zu Eisborn gehen allnächtlich zwei weiße Jungfern um; die kommen aus dem nahen beim Schlosse gelegenen Küchenberge, gehen die äußere Stiege hinauf, steigen dann im Schlosse selbst die Treppe hinauf, gehen in ein dort gelegenes Zimmer, in welchem eine Bettstatt mit weiten Vorhängen steht, schlagen die Vorhänge zurück, schauen hinein, lange, lange – und gehen dann still und schweigend, wie sie gekommen sind, wieder hinab und verschwinden im Berge.

Im Berg bei Bütow. Bei Bütow in Pommern liegt ein hoher Berg; auf dessen Gipfel ist eine weite trichterförmige Vertiefung, die man schon oft zuzuschütten versucht hat, aber das ist noch nie gelungen. Dieser Berg soll eine verwünschte Burg sein und durch einen unterirdischen Gang mit dem Schloß in Bütow in Verbindung stehen. – Vor einigen Jahren ging ein Mann dort am Berg vorüber. Da traten zwei Frauen heraus und führten ihn in den Berg. Dort fand er sich mitten in einer belebten, volkreichen Stadt. Aber er fürchtete sich so sehr, daß er sich von seinen Begleiterinnen über nichts Auskunft geben ließ und sich auch kein Andenken mitnahm. Nachdem er sechs Stunden in dem Berge verweilt hatte, führten ihn dieselben Frauen wieder in die Oberwelt zurück.

 

Wie in den früher besprochenen Seelensagen, so ist auch in den Sagen von der weißen Frau im Berg das wichtigste Motiv das der »Erlösung«. Doch ist ihre Erlösung an sehr viel schwerere Bedingungen geknüpft, als wir sie von den armen Seelen her kennen. Die Volksphantasie hat sich in der Ausmalung der Schrecknisse, die der Erlöser zu bestehen hat, gar nicht genug tun können; alles Entsetzliche und Quälende, das der einfache Mensch sich nur vorstellen kann, erscheint da zusammengetragen: der Erlöser muß sich eine Schlange übers Gesicht kriechen und sich von ihr küssen lassen, er muß die weiße Frau, deren Gewicht bei jedem Schritte zunimmt, auf seinen Schultern tragen, er muß unbeirrt von feuerschnaubenden Tiererscheinungen bergan laufen, er wird in die Höhe gehoben, oder er sieht über sich an einem Zwirnsfaden einen riesigen Mühlstein schweben und sich drehen. Ludwig Laistner hat als erster auf die enge Verwandtschaft hingewiesen, die alle diese Schreckensphantasien mit den Bildern eines quälenden Traumes, das Küssen und Tragen speziell mit denen des Alptraumes verbindet, und es hat in der Tat etwas Verlockendes, den ganzen Sagenkreis von der Erlösung der weißen Frau auf solche Traumerlebnisse einsamer Schäfer oder Waldarbeiter oder Holz- und Beerensammler zurückzuführen, die sich in der Glut des hohen Mittags am Berghang schlafen legten. Daß die Erlösung mit ganz verschwindend seltenen Ausnahmen mißlingt, indem die weiße Frau bei einem vorzeitigen Schrei oder irgendeiner Schreckbewegung des Gequälten plötzlich verschwindet, wäre dann mit dem plötzlichen Erwachen des Schlafenden zusammenzustellen, das den Traum so gerne dicht vor der letzten Erfüllung abbricht. – An die mißlungene Erlösung schließt sich dann oft noch das uns schon bekannte Motiv von dem geweissagten Erlöser, dessen Kommen an das Aufsprießen eines bestimmten Baumes geknüpft ist.

Die Schlangenjungfrau vom Heiligenbaumschloß. Vor vielen Jahren hörte einmal ein Bursche von Nauders in Tirol, namens Johannes, während er mit vielen Kameraden zusammen allerlei Kurzweil trieb, sich plötzlich dreimal laut beim Namen rufen und sah gleichzeitig eine wunderschöne Frau, die ihn vom Gaisplatz, auf dem sie »Feuerhüpfen« spielten, zur Kirche hinaufrief. Nur Johannes hörte und sah sie, alle andern nicht. Er folgte dem Ruf, und sie führte ihn zum heiligen Baum und sprach: »Wenn du dich nicht fürchtest, so kannst du dir eine Tonne voll Gold verdienen und gleichzeitig eine arme Seele erlösen.« Sie werde dreimal in Gestalt eines häßlichen Wurmes kommen, dann müsse der Johannes sich niederlegen, damit sie über ihn weg kriechen könne, und damit sei dann die Erlösung vollbracht. Johannes sagte: »Des Goldes wegen tu ich's nicht; aber wenn ich eine arme Seele erlösen kann, das tu ich gerne.« – Die schöne Frau verschwand und Johannes legte sich auf den Boden. Alsbald kroch ein Wurm über ihn; Johannes blieb regungslos liegen. Es kam ein anderer, größerer, und kroch über ihn; Johannes blieb regungslos liegen. Dann kam ein dritter Wurm, noch größer und abscheulich von Ansehen und Geruch, und kroch über ihn. Und als er bei seinem Munde vorbeikam, da ekelte es ihn so, daß er aufschrie und aufspringen wollte, aber er blieb besinnungslos liegen. Und als er lange Zeit darnach wieder zu sich kam, lag er eine Strecke weiter in der Wiese drunten. Zugleich hörte er mehrere Frauen weinen und Münzen klingeln.

Die Schlange auf dem Rodenstein. Ein Mann aus Fränkisch-Krumbach war mit seinem Knaben im Holz beim Rodenstein. Da kam ein weißes Frauchen zu ihnen und sagte, sie sollten am nächsten Tag zwischen 11 und 12 Uhr wiederkommen, dann werde die Burg wieder ganz wie vor Zeiten dastehen. Sie, das Frauchen, werde ihnen als eine Schlange mit einem Schlüsselbunde im Maul erscheinen; der Knabe müsse dann mit seinem Munde die Schlüssel aus ihrem Maul nehmen und mit ihr in das Schloß gehen. Sie würden zuerst das Zimmer aufschließen, in dem die alten Rodensteiner Herren an einem Tische säßen und tränken; dann würden sie durch ein zweites in ein drittes Zimmer kommen, in dem liege ein großer Hund auf einem Koffer. Den Koffer brauche er nur getrost aufzuschließen, so werde der Hund herunterspringen, ohne ihnen etwas zuleide zu tun. Das Weitere würden sie dann schon sehen, aber glücklich wären sie für ihr ganzes Leben. – Am andern Tag zur bestimmten Stunde war der Mann wieder mit seinem Sohn an Ort und Stelle. Da wurde es plötzlich während einiger Augenblicke ganz finster, es kam heran wie ein Rauschen, und dann stand das Schloß wieder ganz so da, wie es vor Zeiten gewesen war. Sogleich kam auch die Schlange herbei, kroch auf den Jungen zu und richtete sich an ihm in die Höhe. Der Junge hätte es schon getan, der hatte Mut genug dazu; aber sein Vater erschrak und sprang hinzu und riß ihn weg. Da wurde die Burg mit einem Schlage wieder zur Ruine, die Schlange kroch wieder fort und winselte und klagte: jetzt könne sie nicht eher wieder erlöst werden, als bis das kleine Eichbäumchen am Niedernberg beim Rodenstein so groß geworden sei, daß ein Sarg daraus gemacht werden könne.

Die verwünschte Prinzessin auf den Müggelbergen. In Köpenick sagt man von dem »Prinzessinnenstein« auf einem der Vorberge in der Nähe des Teufelssees, er liege an der Stelle eines prächtigen Schlosses, in welchem eine Prinzessin gewohnt habe, die nun verwünscht und mit dem Schlosse in den Berg versunken sei. Schon mancher hat dort abends ein altes Mütterchen am Stabe gebückt aus dem tiefen Loch hervorgehn sehen, andere wieder sahen um Mittag ein schönes Weib, das sich im Wasser beschaute und die langen Haare kämmte. In der Hand trägt sie ein Kästchen mit vielem Golde, das soll der haben, der sie dreimal um die Kirche von Köpenick herumträgt und sich dabei nicht umsieht; denn dann ist sie erlöst. Einen hats einmal nach dem Golde gelüstet und er hat das Wagestück unternommen. Er nahm sie auf den Rücken, denn sie war federleicht, und schritt mit ihr auf Köpenick zu; aber je näher er der Stadt kam, desto schwerer wurde seine Last. Trotzdem hielt er tapfer aus und kam endlich mit ihr zur Stadt. Nun begann er seinen Umgang um die Kirche; da aber erschienen plötzlich Schlangen und Kröten und allerhand scheußliche Tiere mit feurigen Augen, kleine Leute stürzten wild hinter ihm her und warfen ihn mit Holzblöcken und Steinen; aber er ließ sich durch das alles nicht irren und schritt getrost vorwärts. So war er schon bis zum dritten Umgang gekommen und hatte fast seine Aufgabe vollendet, da sah er einen fürchterlichen roten Schein, wie wenn ganz Köpenick in Flammen stände. Da vergaß er das Verbot und sah sich um, aber in dem Augenblick war auch alles verschwunden und ein heftiger Schlag raubte ihm das Leben.

Die Schatztruhe bei Reinach. Auf dem Hügel östlich von Reinach im Aargau, der heute mit Laubwald bewachsen ist, stand zur Zeit der Römer eine Stadt, deren Häuser ganz aus Holz gebaut waren. Noch heute ist es auf dem Hügel nicht geheuer: Jäger und bellende Hunde durchziehen den Forst, ein sanftes Blasen wie von gedämpften Hörnern ertönt oftmals aus dem Dickicht, und auch von Schätzen erzählt man, die dort im Hügel vergraben sind und von bösen Geistern gehütet werden. – Eines Tages kam ein armer Mann ins Laubholz, um sich eine Bürde Reiser zu sammeln. Als er so im traurigen Gedanken an die Not daheim hinschritt, sah er plötzlich eine Frau in schneeweißen Gewändern an seiner Seite, die winkte ihm zu folgen. Sie führte ihn auf engem Wege hügelan zu einem einsamen Platz unweit der Straße, die von Menzikon nach Mosen führt. Hier gab sie ihm ein Zeichen, näher heranzutreten. Als er das schüchtern tat, sah er in einer geringen Vertiefung eine große Kiste, die bis zum Rand mit Goldmünzen angefüllt war. Aber als er sich nach dem Golde bückte, sah er noch einmal zu seiner Führerin empor. Da hing ein gewaltiger Mühlstein am schwächsten Zwirnsfaden gerade über seinem Kopf und dieselbe Hand, die ihn so freundlich eingeladen hatte, drohte den Zwirn eben mit einer Schere durchzuschneiden. Der Anblick trieb ihn zur Flucht. Vergeblich eilte und rief das Weib ihm nach, bat und beschwor ihn umzukehren. Er entsprang und hörte sie noch lange hinter sich her klagen und jammern.

 

In diesen Erlösungssagen handelt es sich fast immer gleichzeitig um die Gewinnung eines reichen Schatzes, den die weiße Frau im Innern des Berges hütet und den der Erlöser haben soll. Andere Sagen haben das Motiv der Erlösung fallen lassen und erzählen nur noch von dem Schatz im Berg bei der weißen Frau und von den seltsamen Umständen, unter denen es dem einen oder andern einmal gelang, ihn zu schauen.

In den Schatzsagen des 12. Kapitels werden wir den Ausdruck kennen lernen: »der Schatz blüht«. Es gibt nämlich nach dem Volksglauben in jedem Jahr oder auch nur alle sieben Jahre eine bestimmte Zeit, in der ein in die Erde vergrabener Schatz zu heben ist. Wann das der Fall ist, kann der Wissende daran merken, daß sich über der Stelle kleine Flämmchen zeigen, das »Geldfeuer« oder die »Schatzblüte«. Diese Vorstellung vom blühenden Geld hat sich in der Sage vom Schatz der weißen Frau im Totenberg dahin weitergebildet, daß zu einer bestimmten Zeit am Abhang des Berges eine Wunderblume blüht; die ist nun aber nicht mehr bloß das Zeichen, daß der Zugang zum Berge offen steht, sondern sie dient zugleich nach Art einer Springwurzel dazu, das Tor zum Berg oder auch die verschlossenen Truhen im Berge aufzuschließen. Gewöhnlich dauert das Glück des Finders dann nicht lange. Denn in der Freude über den Anblick all des Reichtums und in der Gier, möglichst viel davon hinauszubringen, läßt er die Wunderblume im Berge liegen und hat sich damit selber des Schlüssels zu den Schätzen für ein andermal beraubt; oft kommt er noch dazu mit einem leiblichen Schaden ans Tageslicht zurück.

Vergiß das Beste nicht! 1. Ein armer Kuhhirt aus Eibensbach in Württemberg hütete einst im Spätherbst in der Nähe der Ruine Blankenhorn und sah, als er mit seiner Herde heimfahren wollte, eine große schöne Schlüsselblume am Heuchelberg stehen. Die hatte er um diese Jahreszeit noch nie blühen sehen und brach sie deshalb ab und steckte sie sich an den Hut. Aber da wurde ihm der Hut auf einmal so auffallend schwer, daß er ihn abnahm. Da steckte statt der Blume ein silberner Schlüssel daran und zugleich sah er eine schneeweiße Jungfrau vor sich stehen, die sagte ihm: mit dem Schlüssel solle er nur die Tür aufschließen (er sah nämlich auf einmal an dem Berg eine Tür), und dann könne er sich von den goldenen und silbernen Schätzen da drinnen mitnehmen, soviel er wolle. Dann sagte sie noch: »Vergiß aber das Beste nicht!« und das wiederholte sie ihm dreimal. – Darauf öffnete der Mann mit dem silbernen Schlüssel die Tür und füllte seine Taschen und Ärmel mit Gold und Silber. Aber dann befiel ihn auf einmal eine solche Angst, daß er mit seinen Schätzen fortlief und in der Eile nicht daran dachte, auch den Schlüssel mitzunehmen. Hätte er den nicht vergessen, so wäre ihm der Zugang zu den Schätzen auch später offen geblieben, und zugleich würde er das weiße Fräulein erlöst haben. So aber konnte er später die Tür nicht wiederfinden, obwohl er noch mehrmals darnach suchte. Für sich bedurfte er freilich keiner weiteren Schätze, denn er hatte gleich das erstemal tüchtig zugegriffen. – Indes fürchtete er, daß seine Mitbürger nicht glauben würden, er habe so viel Geld ehrlich erworben, und wanderte deshalb aus nach Amerika; bevor er aber fortzog, hat er die Geschichte in Eibensbach erzählt. Später hat er noch einmal aus Amerika geschrieben und zwar unter anderm:

Eibensbach und Blankenhorn
Tut mir und meinen Kindern wohl.

Das ist aber schon lange her, daß das geschah. Nachher hat schon mancher bei Blankenhorn nach Schätzen gesucht und gegraben, aber keiner hat etwas gefunden.

2. Zwischen Lübbecke und Holzhausen, oberhalb des Dorfes Mehnen, liegt nahe an der Bergreihe ein Hügel, der die Babilonie genannt wird. – Hier hatte einst König Weking (Wittekind) eine mächtige Burg, die ist nun aber versunken und der alte König sitzt darinnen und harrt, bis seine Zeit kommt. Es gibt eine Tür, die von außen in den Hügel und zu dem Palaste führt. Aber nur selten geschieht es, daß ein besonders Begünstigter sie erblickt. – Es mögen jetzt hundert Jahre her sein, da weidete ein Schäfer aus Hille namens Gerling, der auf der Waghorst Schäfer war, seine Herde an dem Mehner Berge. Da sah er an dem Hügel der Babilonie drei fremde Blumen, die sahen aus wie Lilien, und er pflückte sie ab. Am andern Morgen fand er an derselben Stelle wieder drei gleiche Blumen und pflückte sie; und am dritten Tage fand er dort noch einmal drei. Als er auch die gepflückt und sich nachher in der Schwüle des Mittags am Abhang hingesetzt hatte, da erschien ihm eine schöne Jungfrau und fragte ihn, was er denn da habe, und zeigte ihm einen Eingang in den Hügel, den er noch nie gesehen hatte; der war mit einer eisernen Tür verschlossen. Sie sagte, er solle das Schloß nur mit den Blumen berühren. Das tat er; und da sprang die Tür sofort auf und nun sah er einen dunklen Gang, an dessen Ende ein Licht schimmerte. Die Jungfrau ging voran, der Schäfer hinterdrein, und so kamen sie aus dem Dunkel in ein erleuchtetes Gemach. Gold und Silber und allerlei köstliches Gerät lag da auf einem Tisch und an den Wänden umher. Unter dem Tisch drohte ein schwarzer Hund, doch als er die Blumen sah, wurde er still und zog sich zurück. Im Hintergrunde aber saß ein alter Mann und ruhte, und das war König Weking. – Als der Schäfer sich das alles angesehen hatte, sagte die Jungfrau zu ihm: »Nimm, was dir gefällt; nur vergiß das Beste nicht!« Da legte er die Blumen auf den Tisch und suchte sich unter den Schätzen aus, was ihm das Beste schien und was er eben fassen konnte. Und dann eilte er, das unheimliche Gewölbe wieder zu verlassen. Da rief die Jungfrau ihm noch einmal zu: »Vergiß doch das Beste nicht!« und der Schäfer blieb stehen und sah sich um, was denn wohl das Beste sei. Er nahm auch noch einiges mit, was ihm besonders köstlich schien. Aber an die Blumen dachte er leider nicht, die ließ er auf dem Tische liegen; und die waren doch das Beste, denn sie hatten ihm ja den Eingang verschafft. – Nun war er sicher, daß er das Beste nicht vergessen hatte und ging mit seinen Schätzen durch den dunklen Gang zurück. Und wie er eben an das helle Tageslicht heraustrat, da fuhr das Eisentor mit solcher Gewalt hinter ihm zu, daß ihm die Ferse abgeschlagen wurde. – Dieser Schäfer liegt in der Kirche zu Hille auf dem Chore unter einem großen Stein begraben. Er hat nachher noch viele Jahre gelebt und ist ein reicher Mann gewesen; aber den Eingang in die Babilonie hat er nie wiedergesehen und seine Ferse ist auch nie heil geworden, so daß man ihn bis an seinen Tod nie anders als mit einem niedergetretenen Schuh an diesem Fuß gesehen hat. Er hat auch manche Vermächtnisse nachgelassen, darunter eines für die Kirche in Hille; und die Nachkommen seiner Erben sitzen noch heutigentags auf dem Aswenhof in Hille, den er damals gekauft hat.

 

An das Motiv vom Vergessen des Besten schließt sich noch eine Gruppe von Sagen, die ebenso wie die von der Schlüsselblume in ganz Deutschland fast übereinstimmend erzählt wird; das sind die Sagen von der Frau, die ihr Kind im Schatzberg vergaß. Zuweilen erhält sie es nach einem Jahr, wenn der Berg wieder aufgeht, unversehrt zurück. Älter und sagenechter ist es wohl, wenn das wiedergefundene Kind in dem Augenblick stirbt, wo es aus dem Berg ans Tageslicht kommt; denn was dem Totenreich einmal anheimgefallen war, kann nicht mehr zum Erdenleben zurückkehren.

Die Höhle im Altkönig. Eine Frau ging den Altkönig (im Taunus) hinan. Sie hatte Gras geschnitten und trug es in einem Korb auf dem Kopf und hatte ihr Töchterlein an der Hand. Als sie fast oben war, sah sie im Berg eine Tür, die sie bisher noch nie gesehen hatte; die führte in eine Höhle, in der saßen sieben greise Männer mit langen Bärten an einem Tisch, und die Höhle war ganz voll Gold und Silber. Die Frau ging keck hinein, leerte ohne weiteres ihren Korb und füllte ihn mit den Schätzen. Als sie wieder heraustreten wollte, sprach einer der Männer: »Frau, vergeßt das Beste nicht!« Sie hörte aber nicht darauf und ging. Als sie kaum vor der Tür war, da schloß sich der Berg wieder mit lautem Krachen und das Kind, das mit dem roten Golde gespielt und dabei nicht gesehen hatte, daß die Mutter fortging, war eingeschlossen. Da war die Sorge und Angst der Mutter groß. Sie lief jammernd zu einem Geistlichen und erzählte ihm die ganze Sache. Der Geistliche sagte, sie würde ihr Kind nicht vor sieben Jahren wieder bekommen; dann solle sie um dieselbe Stunde auf den Berg gehen. Sie habe aber unrecht daran getan, den Korb ganz auszuleeren; denn unter dem Gras sei auch das Kraut gewesen, das ihr den Berg aufgeschlossen habe. – Nach sieben Jahren ging die Frau wieder auf den Berg; da saß ihr Kind oben und schlief und war noch ebenso jung und blühend und frisch, wie sie es verlassen hatte. Von der Tür und der Höhle aber war keine Spur mehr zu finden.

Das Kind im Laböer Berge. An einem Ostermorgen, als eben die Frühlingssonne freundlich schien, ging eine Frau aus Labö bei Kiel mit ihrem Kind auf dem Arm hinaus ins Freie, und wie sie so wandelt und endlich an den Wunderberg kommt, da findet sie ihn offen. Ein heller Schein leuchtete ihr entgegen, und als sie hineintrat, fand sie da ganze Haufen von Gold und Silber liegen. Da setzte sie ihr Kind auf einen großen Tisch, der in der Mitte stand, und gab ihm die drei roten Äpfel zum Spielen, die darauf lagen. Dann füllte sie ihre Schürze schnell mit Gold und eilte damit aus dem Berg. Da merkte sie gleich, daß sie ihr Kind vergessen hatte; aber sie ging umsonst wohl hundertmal klagend und weinend um den Berg herum: der Eingang war nirgends mehr zu finden und sie mußte in Verzweiflung nach Hause gehen. – Als aber wieder die Zeit der Ostern kam, und es um die Kirchzeit war, ging die Frau wieder zum Berg, und worauf sie das ganze Jahr gehofft hatte, war erfüllt: der Berg stand offen und wieder funkelten die Schätze. Die Frau sah sich aber nicht nach ihnen um, sondern eilte nur hinein und fand ihr Kind noch auf dem Tische sitzen und mit den Äpfeln spielen, grad wie sie es vor einem Jahr dort gelassen hatte. Lächelnd streckte es seiner Mutter die Arme entgegen. Sie ergriff es rasch und eilte hinaus. Aber kaum traf der erste Sonnenstrahl das Kind, so verschied es in ihren Armen.

 

Von einem Weibe, das selber sieben Jahre lang bei den weißen Frauen im Totenreich gefangen war, weiß die westfälische Sage. Nach der Heimkehr zu den Ihrigen darf sie für den Rest ihres Lebens nichts anderes mehr essen als reife Äpfel; das ist, abgeschwächt und weitergebildet, das Gleiche wie der Tod des wiedergefundenen Kindes: wer einmal im Totenberg gewohnt hat, wird nie wieder ganz lebensfähig.

Die Wittewiwerskuhle. Am Tippelsberg bei Riemke in Westfalen liegt ein einzelner Bauernhof, auf dem jetzt der Bauer Thiem wohnt; dicht am Hof ist eine etwa zwanzig Fuß hinabgehende Vertiefung, in der entspringt ein schöner klarer Quell und rings herum ist ein schönes Gehölz. Das ist die Wittewiwerskuhle. Man erzählt, daß hier vor Zeiten die »witten Wiwer« gewohnt haben und sich auch je zuweilen haben sehen lassen. So wird namentlich erzählt, vor langen Jahren sei einmal eine Bäurin vom Stimbergschen Hof zu Riemke nach ihrem Kindbette ausgegangen, ehe sie ihren Kirchgang getan hatte. Nachher ist sie eines Abends am Feuer gesessen, da sind plötzlich zwei »witte Wiwer« hereingetreten und haben sie mit Gewalt fortgeschleppt in ihre Höhle. Hier haben sie ihr verboten, jemals aus der Tür zu sehen; denn sonst würden sie ihr den Hals brechen. Das hat sie auch sieben Jahre lang ausgehalten, aber zuletzt hat sie es doch nicht länger gekonnt, und als die witten Wiwer gerade einmal abwesend waren, hat sie die Tür aufgemacht. Und wie sie da hinaustritt, hört sie auf einmal die Bochumer Glocken läuten und hat an dem Klange gleich gemerkt, wo sie war. Und so ist sie denn hinabgelaufen nach Riemke, zum Hof ihres Mannes. Aber ihr Mann hatte sie tot geglaubt und hatte eine andere gefreit. Und wie sie nun ins Haus tritt und die neue Frau darinnen sieht, hat sie sich schweigend an den Herd gesetzt. Die Kinder haben sie gleich erkannt und sich schmeichelnd an sie gedrängt; da hat die Stiefmutter gesagt, sie sollten doch von dem Bettelweib weggehen, das sie gar nichts anginge. Das hat die Frau nicht ertragen können und hat gesagt: »Wohl gehen sie mich mehr an als dich!« Und gerade bei diesen Worten ist ihr Mann ins Haus getreten und hat sie freudig wiedererkannt und hat nun die erste neben der zweiten im Hause behalten. So hat sie noch einige Jahre bei ihm gelebt, hat aber nie etwas anderes essen können als »möre Äppel«.


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