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And yet I fear you; for you are fatal then
When your eyes roll so. …………
……………………………………
Alas! why gnaw you so your nether lip?
Some bloody passion shakes your very frame:
These are portents; but yet I hope, I hope
They do not point on me.
Und dennoch fürcht' ich dich, denn du bist schrecklich,
Wenn so dein Auge rollt. …
…
Ach, warum nagst du so die Unterlippe?
Dein ganzer Bau erbebt in blut'ger Wut.
Das sind Vorzeichen; doch ich hoff', ich hoffe,
Sie deuten nicht auf mich.
(Othello, V, 2, V. 44f.; 52-55. –
D.Hg.)
Shakespeare.
Ellena wurde durch ein lautes Geräusch an der Thüre ihres Zimmers aus dem tiefen Schlafe gewecket; als sie von ihrer Madratze auffuhr, sah sie sich mit Erstaunen und Schrecken rings umher, so wie eine vollständige Erinnerung des Vergangnen in ihrer Seele aufzudämmern begann. Sie unterschied das Aufschieben eiserner Riegel und sah gleich darauf Spalatro's Gesicht an ihre Thüre, ehe sie eine klare Besinnung ihrer Lage hatte – daß sie nämlich eine Gefangne in einem Hause am einsamen Ufer und daß dieser Mensch ihr Kerkermeister sey. Mit dieser Besinnung kehrte eine solche Erkrankung des Herzens, solche Ermattung und Schrecken zurück, daß sie unvermögend, ihren zitternden Körper aufrecht zu halten, wieder auf die Madratze sank, ohne nach der Ursache dieses plötzlichen Hereinkommens zu fragen.
»Ich habe Ihnen etwas zum Frühstück gebracht,« sagte Spalatro, »wenn Sie Lust haben aufzustehen. Mich dünkt, Sie haben für eine Nacht lange genug geschlafen; Sie legten sich ja sehr zeitig zur Ruhe.«
Ellena gab keine Antwort; allein tief vom Gefühl ihrer Lage getroffen, sah sie mit bittenden Augen den Mann an, der sich näherte und einen Kuchen von Hafermehl mit einem Topf Milch in der Hand hielt.
»Wo soll ich es hinsetzen,« sagte er, »Sie müssen nothwendig begierig darauf sein, da Sie nichts zu Abend gegessen haben.«
Ellena dankte ihm, und bat ihn, es nur auf die Erde zu setzen, weil kein Tisch oder Stuhl im Zimmer war. Als er es that, machte sie der Ausdruck seines Gesichts betroffen, das eine starke Mischung von Arglist und Bosheit ausdrückte. Er schien sich über seinen Scharfsinn Glück zu wünschen und irgend einen Triumph im Voraus zu genießen; sie fühlte sich so sehr dabei interessirt, daß sie ihn nicht aus den Augen ließ, so lange er im Zimmer blieb. Wenn seine Augen zufällig den ihrigen begegneten, so wandte er sie mit der Schnelligkeit eines Menschen ab, der sich übler Absichten bewußt ist und sie entdeckt zu sehn fürchtet; er blickte nicht einmal auf, bis er das Zimmer schnell verließ; wo sie die Thüre wie zuvor verriegeln hörte.
Der Eindruck, den sein Blick in ihrem Gemüthe zurück ließ, versenkte sie so ganz in Vermuthungen, daß eine lange Zeit verstrich, ehe sie sich erinnerte, daß er die Erfrischungen gebracht hatte, deren sie so sehr bedürftig war: indem sie aber den Becher an ihre Lippen brachte, hielt ein schrecklicher Verdacht ihre Hand zurück – doch hatte sie schon einige Tropfen von der Milch hinuntergeschluckt. Der seltsame Blick, womit Spalatro das Frühstück niedersetzte, fiel ihr mit neuen Schrecken ein und sie hielt es für möglich, daß Gift in dieß Getränke gemischt seyn könnte. Sie sah sich also genöthigt, sich die Erquickung zu versagen, deren sie so sehr bedürfte; denn sie fürchtete, selbst den Kuchen zu kosten, weil Spalatro ihn ihr angebothen hatte: das bischen Milch, daß sie unvorsichtigerweise hinunter schluckte, war so sehr wenig, daß sie keine Folgen davon fürchtete.
Der Tag verstrich in Angst und Niedergeschlagenheit; sie konnte weder zweifeln, zu welchem Zweck man sie hieher gebracht hatte, noch eine Möglichkeit entdecken, ihren Verfolgern zu entfliehn: doch hielt die Hoffnung, welche das menschliche Herz selbst in den härtesten Augenblicken aufrecht hält, noch einigermaaßen ihre sinkenden Lebensgeister empor.
In diesen traurigen Stunden der Einsamkeit und Ungewißheit war der Gedanke, daß Vivaldi wenigstens vor Gefahr gesichert sey, die einzige Milderung ihres Leidens: allein sie kannte die listigen Ränke seiner Mutter zu gut, um es für möglich zu halten, daß er ihren Händen entwischen und ihr die Freiheit wieder verschaffen könnte.
Ellena stand den ganzen Tag im Nachsinnen verloren an das Gitter ihres Fensters gelehnt, ihre starren Augen auf den Ozean gerichtet, dessen Rauschen sie nicht länger hörte: oder sie horchte auf ein Geräusch im Hause, das ihr einige Vermuthung über das, was unten vorgienge, oder über die Anzahl der Personen, die sich darin befänden, geben könnte. Allein es herrschte eine tiefe Stille im Hause, außer wenn hie und da ein Fußtritt über einen fernen Gang schlich, oder man eine Thüre zumachen hörte: allein nicht der Hauch einer menschlichen Stimme, noch irgend ein Zeichen, daß sich, außer ihr und Spalatro, noch ein lebendiges Wesen in der Wohnung befände, stieg aus den untern Zimmern empor. Ohngeachtet sie ihre vorigen Wächter nicht hatte fortgehen hören, schien es ihr doch gewiß, daß sie fortgegangen waren, und daß man sie mit Spalatro allein an diesem Orte gelassen hatte.
Sie begriff nicht, welche Absicht man bei diesem Verfahren haben konnte: hatte man ihren Tod beschlossen, so schien es seltsam, daß man einer Person die Ausführung anvertraute, welche in den Händen von dreien weit zuverläßiger war. Allein ihre Verwundrung hörte auf, wenn ihr der Verdacht von Gift wieder einfiel; denn allem Vermuthen nach hatten diese Leute ihren Plan schon so gut als ausgeführt geglaubt und nach ihrem Tode in einem Zimmer, aus welchem kein Ausgang möglich war, es Spalatro überlassen, ihre Gebeine zur Ruhe zu legen.
Alles Unzusammenhängende, was sie in dem Betragen dieser Menschen bemerkt hatte, schien nun zu einem Plane zusammen zu stimmen, nämlich ihr Tod durch Vergiftung. Diese feste Ueberzeugung würkte so stark auf ihre Phantasie, wenn es anders bloße Phantasie war, daß bei dem Gedanken, die Milch gekostet zu haben, ihr ein Schauder über den ganzen Körper lief; sie glaubte zu fühlen, daß das Gift selbst in der geringen Quantität, die sie davon gekostet hatte, stark genug gewesen sey, eine Würkung hervorzubringen.
Während sie sich in solcher Bewegung befand, hörte sie Fußtritte vor ihrer Thüre schleichen und wurde, als sie aufmerksam zuhörte, überzeugt, daß Jemand im Gange seyn müsse. Es bewegte sich leise, stand zuweilen einen Augenblick still, als wollte es horchen und schlüpfte bald darauf fort.
»Es ist Spalatro,« sagte Ellena; »er glaubt, daß ich das Gift genommen habe, und kommt, um auf mein Sterbewinseln zu horchen! Ach er ist vielleicht nur um wenig Augenblicke zu früh gekommen!«
Bei dieser schrecklichen Vermuthung durchbebte sie ein neuer heftiger Schauder, und sie sank beinahe ohnmächtig auf die Madratze nieder; allein der Anfall dauerte nicht lange. Als sie nach und nach wieder zu sich selbst kam und ihre Besinnung wiederkehrte, fühlte sie, daß es die Klugheit erfodere, Spalatro glauben zu lassen, daß sie das Frühstück würklich genommen hätte, weil sie dadurch wenigstens neue Anschläge verhindern würde, und weil jede Verzögerung ihr eine Möglichkeit zur Hoffnung gab. Sie goß die Milch, die sie zu ihrem Verderben bestimmt geglaubt hatte, behutsam durch die Gitter ihres Fensters.
Es war Abend, als sie wiederum etwas vor ihrer Thüre herumschleichen hörte, und ihr Verdacht wurde dadurch bestärkt, daß sie unter derselben einen Schatten auf dem Flure wahrnahm, als wenn Jemand außen stände. In demselben Augenblicke aber glitt der Scharten hinweg und sie hörte Jemand leise fortgehn.
»Er ist es,« sagte Ellena; »er lauert noch immer auf mein Winseln.«
Diese neue Bestätigung seiner Absichten erschütterte sie beinahe eben so sehr als die erste – als sie ängstlich ihre Blicke wiederum nach dem Gange wandte, erschien von neuem der Schatten unter der Thüre; allein sie hörte keinen Fußtritt. Ellena bewachte sie jetzt mit innrer Angst und Erwartung; sie fürchtete jeden Augenblick, daß Spalatro ihrem Zweifeln ein Ende machen und hereintreten würde.
»Und ach! wenn er gewahr wird, daß ich noch lebe,« dachte sie, »was habe ich dann vielleicht in den ersten Augenblicken seines Verdrusses zu erwarten! Was geringers als den Tod auf der Stelle!«
Nachdem der Schatten wenige Minuten stille gestanden hatte, bewegte er sich ein wenig und glitt dann fort wie zuvor; bald aber kehrte er wieder und es folgte ein leiser Ton, als wenn Jemand sich Mühe gäbe, ohne Geräusch Riegel aufzuschieben. Ellena hörte leise erst einen und dann noch einen Riegel aufschieben: sie sah die Thüre sich bewegen und dann weiter nachgeben, bis sie allmählig aufgieng und Spalatros Gesicht sich dahinter zeigte. Ehe er ganz hereintrat, warf er einen Blick rings im Zimmer umher, als wünschte er sich von etwas zu überzeugen, ehe er sich weiter wagte. Sein Blick ruhte geistermäßig auf Ellena, die auf ihrer Madratze ausgestreckt lag.
Nachdem er sie einen Augenblick angestaunt hatte, wagte er sich mit schnellen und ungleichen Schritten nach dem Bette zu; sein Gesicht drückte zu gleicher Zeit Unruhe, Ungeduld und Bewußtseyn von Schuld aus. Als er ihr bis auf wenig Schritte nahe gekommen war, richtete Ellena sich auf, und er fuhr zurück, als wäre plötzlich ein Geist vor ihm vorüber gegangen. Die mehr als gewöhnliche Wildheit seiner Blicke und sein ganzes Betragen schienen ihre ganze vorige Furcht zu bestätigen, und als er sie mit rauher Stimme fragte, wie es ihr gienge? hatte sie nicht Gegenwart des Geistes genug, ihm zu antworten, daß sie sich sehr übel befände. Er betrachtete sie einige Augenblicke mit ernster und finstrer Aufmerksamkeit, und dann sagte ihr ein schlauer, forschender Blick, den er rings im Zimmer umherwarf, daß er untersuchte, ob sie würklich das Gift genommen hätte. Als er sah, daß der Topf ledig war, hob er ihn von der Erde auf und Ellena glaubte einen Schimmer von Freude über sein Gesicht gleiten zu sehn.
»Sie haben diesen Mittag nichts zu essen bekommen,« sagte er; »ich hatte Sie ganz vergessen; allein das Abendessen wird bald fertig seyn und Sie können indeß am Ufer spatzieren gehn, wenn Sie Lust haben.«
Ellena wurde durch diese scheinbare Gefälligkeit so sehr überrascht und in Verlegenheit gesetzt, daß sie nicht wußte, ob sie es annehmen oder ausschlagen sollte. Sie argwöhnte, dass eine Verrätherei dahinter lauerte. Das ganze Anerbieten schien nur eine List, um sie ins Verderben zu locken und sie nahm sich vor, es abzulehnen, als sie bedachte, daß man, um einen Anschlag gegen sie auszuführen, nicht nöthig hatte, sie aus ihrem Zimmer zu locken, wo sie schon genug in der Macht ihrer Verfolger war. Ihre Lage konnte nie ärger seyn, als sie es jetzt war, und mußte bei jeder Veränderung vielmehr gewinnen.
Als sie vom Gange herunter unten durchs Haus gieng, erschien Niemand als ihr Führer, und sie wagte es zu fragen, ob die Leute, die sie hieher gebracht hatten, abgereist wären.
Spalatro gab keine Antwort, sondern führte sie stillschweigend den Weg nach dem Hofe zu; sobald er mit ihr durchs Thor gekommen war, zeigte er nach Westen und sagte ihr, sie möchte den Weg dort gehen.
Ellena gieng nach dem Ufer zu, und Spalatro nicht weit hinter ihr. In Gedanken vertieft folgte sie den Krümmungen des Ufers, ohne auf die Gegenstände um sie her zu achten, bis sie am Fuße eines Felsens hingehend, ihre Augen auf die Scene richtete, die sich dahinter öffnete, und einige Hütten, wahrscheinlich die Wohnung von Fischern, in der Ferne erblickte. Sie konnte nur eben die dunkeln Seegel einiger Schiffchen erkennen, die sich um die Klippen drehten, und in den kleinen Hafen einliefen, wo das Dorf das Ufer einfaßte; allein ob sie gleich die Seegel niederlassen sah, als die Boote sich dem Ufer näherten, waren sie doch zu weit entfernt, um Gestalten von Menschen zu erkennen.
Ellenen, welche geglaubt hatte, daß keine menschliche Wohnung außer ihrem Gefängniß die wüste Einsamkeit dieser Wälder und Ufer unterbräche, flößte der Anblick dieser Hütten, so entfernt sie auch lagen, eine schwache Hoffnung und sogar einige Freude ein. Sie sah sich um, ob Spalatro ihr nahe wäre; er war schon wenige Schritte hinter ihr, und ihr Herz sank aufs neue, indem sie einen sehnsuchtsvollen Blick auf die fernen Hütten warf.
Es war ein trüber Abend und die See war dunkel und angeschwollen: auch das Geschrei der Seevögel, wenn sie sich zwischen den Wolken kräuselten und ihre hohen Nester in den Felsen suchten, schien einen nahen Sturm zu verkündigen. Ellena war nicht so ganz mit eigennützigem Leiden beschäftigt, daß sie nicht für andre noch Mitgefühl behalten hätte; und sie freute sich, daß die Fischer, deren Boote sie bemerkt hatte, dem drohenden Ungewitter entgangen und in ihren kleinen Hütten geschützt waren, wo sie, wenn die lauten Wellen sich an der Küste brachen, mit schärferm Wohlgefallen auf den geselligen Zirkel und das freundliche Feuer um sie her blicken konnten. Bald aber kehrte sie von diesen Betrachtungen wiederum zu dem Gefühl ihrer eignen verlornen und freundlosen Lage zurück.
»Ach!« sagte sie, »ich habe keine Heimath, keinen Zirkel mehr, der mir Willkommen zulächelt! Ich habe keinen Freund mehr, der mich unterstützen, befreien könnte! Ich – eine armselige Wanderin am fernen Ufer; verfolgt von den Fußtritten des Mörders, der in diesem Augenblick mit stummer Wachsamkeit sein Schlachtopfer ansieht und den Augenblick erwartet, wo er es opfern kann!«
Bei diesen Worten überfiel sie ein Schauder und sie sah sich aufs neue um, ob Spalatro ihr nahe wäre. Er war nicht zu sehn, und während sie sich verwunderte und sich zu der Möglichkeit, entfliehen zu können, Glück wünschte, sah sie einen Mönch einsam unter den dunkeln Felsen wandeln, die das Ufer überhiengen. Sein dunkles Gewand war rings um ihn gefaltet; sein Gesicht zur Erde gesenkt, und sein ganzes Aeußeres verrieth tiefes Nachdenken.
»Gewiß denkt er über heilige Gegenstände nach,« sagte Ellena, die ihn mit gemischter Hoffnung und Befremdung betrachtete. »Ich darf mich ohne Furcht an einen seines Ordens wenden. Es ist gewiß eben so sehr sein Wunsch als seine Pflicht, den Unglücklichen zu unterstützen. Wie? hätte ich wohl hoffen dürfen, an einem so entlegnen Ufer einen so heiligen Beschützer zu finden! Sein Kloster kann nicht weit entfernt seyn.«
Er näherte sich, das Gesicht noch immer zur Erde gesenkt, und Ellena gieng ihm langsam mit zitternden Schritten entgegen. Als er näher kam, warf er einen Blick auf sie, ohne den Kopf aufzuheben; allein sie sah seine großen Augen unter dem Schatten seiner Kaputze hervorgucken und den Obertheil seines sonderbaren Gesichts. Ihre Zuversicht in seinen Schutz begann zu sinken; sie schwankte unvermögend zu sprechen und wagte kaum, seinen Augen zu begegnen. Der Mönch gieng stillschweigend vor ihr vorüber, den untern Theil seines Gesichtes noch immer in sein Gewand gehüllt, ohne sie weder mit Neugier noch Verwundrung anzusehn.
Ellena stand still und beschloß, wenn sie etwas weiter gekommen seyn würde, dem Dörfchen zuzueilen, und sich lieber der Menschlichkeit seiner Einwohner anzuvertrauen als das Mitleid dieses zurückstoßenden Fremden zu erflehn. Allein sie hörte sogleich einen Schritt hinter sich und sah, als sie sich umdrehte, den Mönch wieder herankommen. Er gieng an ihr vorbei wie zuvor, maaß sie aber doch mit einem schlauen und forschenden Blick aus den Winkeln seiner Augen. Sein Gesicht und Wesen waren gleich zurückstoßend, und Ellena konnte noch immer so wenig Muth fassen, ihn um Mitleid zu bewegen, daß sie vielmehr vor ihm, als vor einem Feinde zurückschrack. Auch etwas Schreckliches in dem stummen Schritte einer so riesenmäßigen Figur; es verkündigte Macht und Verrätherei zugleich. Er gieng langsam bis in einige Entfernung und verschwand zwischen den Felsen.
Ellena gieng noch einmal mit dem Vorsatz weiter, dem fernen Dorfe zuzueilen, ehe Spalatro sie bemerken konnte, über dessen sonderbare Abwesenheit sie kaum Zeit hatte, sich zu verwundern; allein sie war noch nicht weit gekommen, als sie den Mönch wieder an ihrer Seite sah. Sie fuhr zurück, und stieß beinahe einen lauten Schrei aus, während er sie mit mehr Aufmerksamkeit als zuvor betrachtete. Er stand einen Augenblick still und schien sich zu besinnen, worauf er wieder stillschweigend fortgieng. Ellenas Verlegenheit nahm immer zu; er war den Weg gegangen, den sie zu laufen sich vorgenommen hatte, und sie fürchtete beinahe eben so sehr, ihm zu folgen, als in ihr Gefängniß zurückzugehn. Er kehrte sogleich um und gieng wieder an ihr vorbei und Ellena eilte vorwärts; als sie aber voll Besorgniß, verfolgt zu werden, sich umsah, bemerkte sie ihn in einem Gespräch mit Spalatro. Sie schienen in einer Berathschlagung begriffen und giengen langsam vorwärts, bis Spalatro, da er sie so schnell fortschreiten sah, sie mit einer Stimme, die zwischen allen Klüften wiederhallte, still stehn hieß. Es war eine Stimme, die keinen Ungehorsam vertrug. Sie blickte hoffnungslos auf die noch immer fernen Hütten und hemmte ihren Schritt. Sogleich gieng der Mönch wieder an ihr vorbei, und Spalatro war wieder verschwunden. Die gerunzelte Stirne, womit der erste jetzt Ellena betrachtete, war so schrecklich, daß sie zitternd zurückfuhr, obgleich sie nicht wußte, daß es ihr Verfolger war: denn sie hatte Schedoni nie mit ihrem Wissen gesehen. Er war unruhig und sein Blick wurde düstrer.
»Wo gehn Sie hin?« sagte er mit einer von innrer Bewegung halb erstickten Stimme.
»Wer ist es, ehrwürdiger Herr, der mir diese Frage vorlegt?« sagte Ellena, die sich bemühte, gefaßt zu scheinen.
»Wohin gehn Sie, und wer sind Sie?« wiederhohlte der Mönch noch finstrer.
»Ich bin eine unglückliche Waise,« erwiederte Ellena mit einem tiefen Seufzer: »wenn Sie, wie Ihr Kleid es verräth, ein Freund des Wohlthuns sind, so werden Sie mich mit Mitleid betrachten.«
Schedoni schwieg und sagte endlich: »wen und was fürchten Sie denn?«
»Ich fürchte sogar [für] mein Leben,« erwiederte Ellena zögernd. Sie sah einen dunklern Schatten über sein Gesicht gleiten.
»Für Ihr Leben,« sagte er mit anscheinender Befremdung, »wer sollte denn das wohl der Mühe werth halten, Ihnen zu nehmen?«
Ellena wurde von diesen Worten betroffen.
»Armes Insekt!« setzte Schedoni hinzu, »wer würde dich zertreten!«
Ellena gab keine Antwort – ihre Augen blieben voll Erstaunen fest auf sein Gesicht geheftet. In seiner Art, diese Worte auszusprechen, lag etwas noch seltsameres, als in den Worten selbst. Durch sein Betragen beunruhigt und durch die zunehmende Dunkelheit und stürmischen Wellen, die sich donnernd am Ufer brachen, erschreckt, wandte sie sich endlich von ihm ab und gieng wieder nach dem Dörfchen zu, das noch sehr fern lag.
Er holte sie bald ein, ergriff sie rauh beim Arm und starrte ihr ernsthaft ins Gesicht: »Wen fürchten Sie,« fragte er, »sagen Sie doch, wen?«
»Das ist mehr als ich zu sagen wage,« erwiederte Ellena, die kaum im Stande war, sich aufrecht zu halten.
»Hah! steht es so,« sagte der Mönch mit steigender Bewegung.
Sein Gesicht nahm nun einen so schrecklichen Ausdruck an, daß Ellena ihren Arm loszumachen kämpfte, und ihn anflehte, sie nicht aufzuhalten. Er schwieg und sah sie noch immer starr an; allein seine Augen nahmen, als sie aufgehört hatte sich zu sträuben, den stieren und leeren Blick eines Menschen an, dessen Gedanken sich in sich selbst zurückgezogen haben, und der sich nicht länger der Gegenstände, die ihn umgeben, bewußt ist.
»Ich bitte Sie mich loszulassen,« wiederholte Ellena; »es ist spät und ich bin weit von Hause entfernt.
»Das ist wahr,« murmelte Schedoni, der sie noch immer beim Arm hielt und mehr seinen eignen Gedanken als ihren Reden zu antworten schien, – »das ist sehr wahr!«
»Der Abend kommt schnell heran,« fuhr Ellena fort, »und der Sturm wird mich überfallen.«
Schedoni sann noch immer nach und murmelte dann: »der Sturm, sagen Sie? Wohl, lassen Sie ihn kommen.«
Indem er sprach, ließ er ihren Arm etwas fahren, hielt ihn aber noch immer und gieng langsam mit ihr dem Hause zu. Ellena, die sich auf solche Art gezwungen sah, mit ihm zu gehn und durch seine Blicke, seine unzusammenhängenden Antworten und seine Begleitung nach ihrem Gefängniß immer mehr beunruhigt wurde, erneuerte ihr Flehen und ihr Streben nach Freiheit und setzte mit einer Stimme des durchdringenden Schmerzens hinzu:
»Ich bin weit von Hause, mein Vater; die Nacht kommt heran. Sehn Sie, wie die Felsen sich verdunkeln! Ich bin weit von Hause, und man wird auf mich warten.«
»Das ist nicht wahr,« sagte Schedoni mit Nachdruck, »und Sie wissen, daß es nicht wahr ist.«
»Ach ja! ich weiß es,« erwiederte Ellena mit Scham und Schmerz – »ich habe keine Freunde, die auf mich warten.«
»Was verdienen diejenigen,« fuhr der Mönch fort, »die vorsetzlich die Unwahrheit sagen; die jungen Männer betrügen und sie durch Schmeicheleien ins Verderben locken?«
»Ehrwürdiger Herr!« rief Ellena voll Erstaunen.
»Die den Frieden der Familien stören – die durch schlaue Künste die Erben edler Häuser in ihr Garn locken – die – hah, was verdienen solche?«
Von Erstaunen und Schrecken überwältigt, blieb Ellena stumm. Sie sah nunmehr, daß Schedoni, weit entfernt, sich als einen Beschützer zu zeigen, ein Werkzeug ihrer ärgsten, und wie sie geglaubt hatte, ihrer einzigen Feindin war; Furcht vor der unverzüglichen, schrecklichen Rache, die ein solcher Mensch zu vollführen geneigt schien, überwältigte ihre Sinne; sie schwankte und sank ans Ufer nieder. Sie zog im Niederfallen Schedonis Arm mit sich herab, und rief dadurch seine Aufmerksamkeit auf ihre Lage.
Er wurde bewegt, als er ihre hülflose und welke Gestalt ansah. Er verließ sie, und gieng mit kurzen und schnellen Schritten am Ufer auf und ab – er kam wieder zurück und neigte sich über sie – sein Herz schien einer Regung von Mitleid geöffnet. Den einen Augenblick schritt er auf die See zu, nahm Wasser in die hohle Hand und sprützte es ihr ins Gesicht; den andern Augenblick schien es ihm zu gereuen; er stampfte mit plötzlicher Wuth aufs Ufer und entfernte sich schnell. Der Kampf zwischen seinem Gewissen und seiner Absicht war stark, oder vielleicht war es nur ein Kampf zwischen seinen Leidenschaften. Er, der bisher unempfindlich gegen jedes zartere Gefühl gewesen war, der von Ehrgeitz und Rachsucht beherrscht durch seine listigen Wendungen beigetragen hatte, den schändlichen Entschluß der Marquise di Vivaldi zu bestimmen; der gekommen war, ihre Absicht auszuführen – selbst er konnte die unschuldige, die verlaßne Ellena nicht ansehn, ohne, wie er es nannte, der augenblicklichen Schwäche des Mitleids nachzugeben.
Während er sich noch unvermögend fühlte, diese neue Regung durch das Aufbiethen böser Leidenschaften zu unterdrücken, verachtete er diejenige, welche ihn besiegte.
»Und soll die Schwäche eines Mädchens,« sagte er, »die Entschlossenheit eines Mannes überwältigen? Soll der Anblick ihrer vorübergehenden Leiden mein festes Herz entnerven und mich zwingen, die hohen Plane, die ich mir so feurig, mit solcher Anstrengung entwarf, in demselben Augenblick aufzugeben, wo sie auf dem Punkt standen, in Wirklichkeit überzugehen? Wache ich? ist wohl ein Funken des Feuers, das so lange in meinem Busen gelodert und meinen Frieden verzehrt hat, noch in mir lebendig? oder bin ich zahm und herabgewürdigt wie mein Schicksal! Hah, wie mein Schicksal! Soll der Stolz meiner Familie ewig den Umständen unterliegen? Diese Frage weckt ihn, und ich fühle seine ganze Kraft wieder in mir aufleben.«
Er gieng mit schnellen Schritten auf Elena zu, als fürchtete er, sein Muth würde ihn verlassen, wenn er sich noch einmal Zeit zum Nachdenken vergönnte. Er hatte einen Dolch unter seinem Mönchshabit verborgen, so wie er auch eines Mörders Herz unter seiner Kleidung verbarg. Er hatte einen Dolch, aber er fürchtete ihn zu gebrauchen – das damit versprützte Blut könnte von den Bauern aus dem benachbarten Orte bemerkt werden und zu einer Entdeckung führen. Es war sichrer und leichter, Ellena in ihrem bewußtlosen Zustande in die Wellen zu legen – deren Kühle sie nur ins Leben zurückrufen mußte, um sie sogleich zu ersticken.
Als er still stand, um sie aufzuheben, gebrach ihm von neuem der Muth; er sah in ihr unschuldiges Gesicht und in demselben Augenblick bewegte sie sich. Er fuhr zurück, als hätte sie seinen Vorsatz wissen und sich dafür rächen können. Das Wasser, das er ihr ins Gesicht gesprützt, hatte sie allmählig wieder ins Leben gebracht – sie schlug die Augen auf, that bei seinem Anblick einen lauten Schrei und versuchte aufzustehn. Seine Entschlossenheit war überwältigt; – so furchtsam ist das Verbrechen in dem Augenblick selbst, wo es seine Grausamkeit ausüben will. Von Furcht niedergeworfen, und doch voll Scham und Unwillen gegen sich selbst, staunte er sie einen Augenblick stillschweigend an, zog dann plötzlich die Augen von ihr ab, und verließ sie.
Ellena horchte auf seine Schritte und sah ihn zwischen die Felsen gehn, die nach dem Hause führten. Erstaunt über sein Betragen und verwundert sich allein zu sehn, strengte sie alle Kräfte an, sich so lange hinzuhalten, bis sie das Dörfchen erreichen würde, welches so lange das Ziel ihrer Hoffnung gewesen war: allein sie hatte nur wenige Schritte zurückgelegt, als Spalatro sich ihr wieder mit Schnelligkeit näherte. Ihr äußerstes Bemühen half ihr nichts – ihre schwachen Schritte würden bald eingeholt und sie sah bald, daß sie wiederum seine Gefangne war. Der Blick, womit sie sich ihm hingab, erweckte kein Mitleid in Spalatro, der seinen hämischen Spott über ihre schnelle Flucht ausgoß, indem er sie zu ihrem Gefängniß zurückführte.
Noch einmal also betrat sie die finstern Mauern dieser unglücklichen Wohnung, um, wie sie glaubte, sie nie wieder lebendig zu verlassen – ein Gedanke, der noch mehr Wahrscheinlichkeit gewann, als sie sich erinnerte, daß der Mönch, da er sie verließ, seinen Weg dahin genommen hatte! denn ob sie gleich nicht wußte, wie sie es erklären sollte, daß er sie so lange verschont ließ, konnte sie doch nicht glauben, daß er noch länger barmherzig seyn würde. Er erschien indessen nicht wieder, als sie in ihr Zimmer gieng, wo Spalatro sie aufs neue der Einsamkeit und dem Schrecken überließ, und sie die unglückliche Thüre aufs neue hinter sich verriegeln hörte. Sobald seine Schritte nicht mehr ertönten, verbreitete sich eine Grabesstille über das ganze Haus – der tödtlichen Ruhe gleich, die zuweilen dem Schrecken eines Ungewitters vorausgeht.