Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII.

Weihnachten war da.

Der junge Geistliche freute sich, wie eifrig das Fest im Dorfe vorbereitet wurde. Aus allen Essen rauchte es. Selbst die Frau des kleinsten Häuslers buk ihren Striezel, und fleißig wurden die Christbäume angeputzt.

Ein wenig in dieser Freude fand Gerland sich durch den gräflichen Revierförster gestört. Mit einem Schnurrbarte, der zum Eiszapfen gefroren war, rotem Gesichte, die Büchse über den Rücken, kam der alte Mann am Tage vor dem heiligen Abende die Dorfstraße herab.

»Kommen Sie auch mal zur Kirche?« konnte sich Gerland nicht enthalten, den Alten lächelnd zu fragen.

»Nein, Herr Pfarrer!« gab ihm der Forstmann zurück. »Aber ein Schock Christbäume sind wieder mal gestohlen worden, mitten aus den Kulturen heraus. Der ganze Wald ist voll Fußspuren, die nach dem Dorfe führen. Diebsgesindel, verdammtes! Nächstes Jahr werden Eisen gelegt. – Predigen Sie mal über das siebente Gebot, Herr Pastor, das wäre ein ganz passender Text für die Christbaumdiebe.« –

Der Christabend war feierlich. Wer irgend konnte, kam an diesem Abend zur Kirche. In Breitendorf herrschte noch die alte Sitte, Lichter in die Christnacht mitzubringen. Das schlichte, weißgetünchte Gotteshaus erstrahlte im Glanze von Hunderten von Kerzen.

Gerland hatte sich mit seiner Vorbereitung für die Rede auf das notwendigste beschränkt; er wußte, daß er weit wärmer sprach, wenn er nicht memorierte. Kein Text lag ihm so wie dieser: das Hervorbrechen der lichtweißen Christusgestalt aus der Nacht des Heidentums. Hier brauchte man keine starken Effekte aufzusetzen, nicht zu moralisieren und zu drohen, um auf die harten Bauernköpfe Eindruck hervorzubringen – man brauchte auch nicht, wie bei manchem anderen Texte sich zu winden und zu drehen, um das, was nur historisch erklärbar war, auch für den Nichttheologen verständlich und genießbar zu machen; hier war keinerlei Verkleidung oder Ausschmückung nötig, keinerlei Erklärung und spitzfindige Begründung. Durchdringen nur mußte man sich lassen von dem frommen Geiste dieser schlichten Kindergeschichte, die für einfache Geister erzählt war und nur in einfachem Geiste verstanden werden konnte. –

Wie ein warmer Strom ergoß sich die Rede aus seinem Innern. Kopf an Kopf standen die dunklen Gestalten im Schiff und auf den Emporen, die Lichter zitterten und flackerten, an der Holzdecke malten sich unruhig wechselnde Schatten – als schwebten Geister mit heimlichem Flügelschlage durch den Raum. Kein Laut ertönte, als die helle Stimme des jungen Geistlichen und hin und wieder ein unterdrücktes Husten, oder der erstaunte Ruf eines Kindes, das schnell von der Mutter zum Stillschweigen gebracht wurde. Zur Christnacht war es Sitte, die Kinder, selbst die kleinsten, mitzunehmen.

Gerland hatte sich selten so durchdrungen gefühlt von der Bedeutung des Predigerberufes, wie in diesen Augenblicken. Er, der einzige, denkende Kopf, alleinstehend und hocherhoben über diese dunkle Masse, die unter der Gewalt seines Mundes stand – der er überlegen war, wie der Hirt seiner Herde überlegen ist.

Als er das »Amen« gesagt, herrschte für einige Sekunden das tiefste Schweigen; dann brach ein allgemeines, lang anhaltendes Husten und Schnäuzen aus. Die Orgel setzte ein, gleichzeitig öffnete sich die Thür dem Altare gegenüber, und herein flutete ein leuchtender Strom, vor dem aller bisheriger Lichterglanz verblaßte. Die Schulkinder waren es mit brennenden Christbäumchen. Wie eine feurige Schlange bewegte sich der Zug langsam durch den Mittelgang. Vor dem Altarplatze nahmen sie halbkreisförmige Aufstellung und intonierten unter Kantor Wenzels Leitung das: »Heilige Nacht, stille Nacht!« –

Dem jungen Geistlichen liefen die hellen Thränen über die Wangen. Der Gedanke, daß vielleicht die Hälfte dieser Christbäumchen gestohlen sei, mischte sich nicht störend in seine Rührung. Er stand ganz unter der Gewalt seiner Nerven. Der sinnbenebelnde Weihrauch dieser Stunde umschleierte sein Nachdenken.

* * *

Eine Einladung von Polanis war gekommen; Amtsbruder Gerland sollte den nächsten Sonntag mit ihnen in Annenbad verbringen. Es traf sich glücklich, daß Gerland einen entfernten Verwandten auf einige Tage bei sich zu Besuch hatte, der Kandidat der Theologie war und die Predigt in Breitendorf übernehmen konnte.

Beizeiten machte sich der Geistliche in einem Bauerwägelchen nach Annenbad auf. Dort angekommen, begab er sich direkt in die Pfarrloge.

Er betrat eine geräumige Kirche mit massiven Säulen und breiten Emporen, große Fenster spendeten reichliches Licht. Die Apsis war mit Frescogemälden geschmückt, von der gewölbten Decke hingen drei glänzende Metallkronleuchter herab. Die Kanzel mit buntem Baldachin befand sich über dem Altare, der reiche Kirchengefäße und Paramente aufwies.

Und doch sagte sich Gerland, daß ihm seine bescheidene Dorfkirche mit ihrem weißgestrichenen Holzwerk und den vertrockneten Erntekränzen lieber und heimlicher sei, als dieses große mannigfach verzierte Gotteshaus.

Die Kirche füllte sich rasch. Gerland hatte gehört, daß im Sommer, wo der Ort voll Fremder war, das Haus die Zahl der Zuhörer oft nicht zu fassen vermöge. Polani genoß den Ruf eines bedeutenden Kanzelredners weit über die Grenzen seines Kirchspieles hinaus. Gerland war gespannt, ob dieser Ruhm heute Stich halten werde.

Als erste nach ihm erschienen in der Pfarrloge Diakonus Fröschel mit seiner Mutter. Man reichte sich nur stumm die Hand, da die Gemeinde bereits das Eingangslied angestimmt hatte.

Die Pastorin erschien erst, als ihr Gatte schon am Altare stand und die Epistel verlas.

Polanis Erscheinen auf der Kanzel zog Gerlands Aufmerksamkeit nunmehr dorthin.

Er sprach mit schönem, klangvollem Organ; seine Gesten waren abgerundet und geschmackvoll – dazu das regelmäßige Gesicht und die langen, dunklen, seidenartigen Haare, die das feine, weiße Profil umrahmten – kein Wunder, daß er Eindruck machte.

Gerland hatte seine Freude an der Meisterschaft, mit welcher der Redner die Form beherrschte. Klar bis zur Durchsichtigkeit floß der Redestrom. Trotz der strengsten Folgerichtigkeit im Aufbau war von Monotonie nichts zu merken. Hier und da schweifte er ab, zog Historisches an, brachte Beispiele aus dem Leben, aber immer wieder klang durch alle Variationen das Leitmotiv des Textes durch.

Gerland war viel zu sehr Fachmann, um hier nicht echte Künstlerfreude zu erleben, und doch, je länger jener da oben sprach, je stärker begann er mit Befremden einen Mangel zu empfinden, den alle Klarheit und Formvollendung nicht verdecken konnte. Die Predigt war offenbar aufs sorgfältigste ausgearbeitet, aber das Herz hatte keinen Anteil daran gehabt; darum war der Vortrag interessant, aber er packte nicht.

Während er den Mann mit dem geistvollen Gesichte da oben seine wohldurchdachten, feinziselierten Perioden vortragen hörte, wollte Gerland das Wort des Korintherbriefs nicht aus dem Sinn kommen: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. –

Und doch wollte sich Gerland seine hohe Meinung von Polani nicht gern verderben lassen. Er wartete immer noch auf den Augenblick, wo die Begeisterung durchbrechen müsse, wo jener aus seiner kühlen Zurückhaltung herausgehen werde.

Er wartete umsonst. Mit einem sachlichen, durchaus korrekten Überblicke über das Ganze schloß Polani; sein Amen klang nüchtern und frostig durch das Gotteshaus.

Fürbitte, Danksagung und Abkündigungen nahmen bei der starken Seelenzahl der Parochie längere Zeit in Anspruch.

Nachdem der Schlußvers abgesungen, erhob sich die Pastorin und kam auf Gerland zu. »Endlich kann man sich die Hand geben.« –

Die Dame legte sofort Beschlag auf ihn, sodaß er nicht einmal Gelegenheit fand, ein paar Worte mit Frau Oberlehrer Fröschel zu sprechen.

Er war erfreut, auf dem Wege zum Pfarrhause von der Pastorin zu hören, daß sie heute den Diakonus mit seiner Mutter zu Tisch erwarte. »Wir konnten es nicht umgehen, die Leute wieder einmal einzuladen. – Arthur hielt es für nötig,« fügte sie hinzu.

Gerland bemerkte, daß es ihm eine große Freude sei, Mutter und Sohn wieder zu sehen.

»Nun, das ist eben Geschmackssache. Den Herren scheint diese Madame Fröschel ja überhaupt zu gefallen. Arthur behauptet sogar, sie sei eine interessante Frau. Die Witwe eines Oberlehrers – und das spielt sich auf!«

Als Gerland die beiden Frauen bald darauf im Salon verglich, begriff er, daß sie nicht dazu geschaffen seien, mit einander zu harmonieren. Ein größerer Abstand war schwer zu denken: die eine geziert in Manieren und Worten, dabei doch nicht imstande, ihre mangelhafte Geistes- und Herzensbildung zu verstecken, die andere voll Würde in nüchterner, beinahe herber Schlichtheit, ein ernster, strenger, tiefgegründeter Charakter. –

Die Pastorin kam, bald nachdem man sich zu Tisch gesetzt hatte, auf ihr Lieblingsthema: Graf Mahdem. Nach dem, was sie erzählte, kam er jetzt öfter nach Annenbad herüber.

Gerland war zerstreut. Halb und halb befand er sich mit seiner Aufmerksamkeit am anderen Ende des Tisches; dort war zwischen Polani, dem Diakonus und Frau Oberlehrer Fröschel eine Unterhaltung im Gange, die den Geistlichen interessierte.

»Ach lassen Sie doch die da unten,« – raunte ihm die Pastorin zu, als sie ihn beim Lauschen nach der anderen Seite ertappte. »Die sprechen natürlich schon wieder über Religiöses.« –

Der Diakonus schien eine Behauptung Polanis mit wachsender Leidenschaftlichkeit zu bestreiten. Wie immer, wenn er erregt war, überhaspelte er sich, und fiel in einem fort aus der Konstruktion. Mit Sachlichkeit und Ruhe versuchte ihn Polani zu widerlegen. Die Mutter warf auch hin und wieder ein wohlbedachtes Wort dazwischen. Wie es Gerland vorkam, stand sie jedoch mehr auf Polanis Seite, als auf der des Sohnes.

Man besprach die Amtsentlassung eines Geistlichen; ein Fall, der sich kürzlich in Süddeutschland ereignet und viel Staub aufgewirbelt hatte. Der Mann war an verschiedenen Bekenntnissätzen irre geworden, hatte der Gemeinde von seinen Zweifeln Mitteilung gemacht, wurde darob bei der vorgesetzten Behörde denunziert und hatte seine Stellung unter Verlust des Pensionsanspruchs niederlegen müssen.

Der Diakonus verteidigte die Handlungsweise des betreffenden Pfarrers. Gerland hörte ihn bemerken: »Die Behauptung, daß Kämpfer« – so hieß der entlassene Geistliche – »seinen heterodoxen Standpunkt vor der Ordination hätte darlegen müssen, bestreite ich. Dürfen wir Theologen uns vielleicht nicht fortentwickeln? Soll uns nicht das Wort von der Freiheit des Christenmenschen gelten?« –

»Schön!« meinte Polani. »Ich lasse Ihre Verteidigung gelten. Kämpfer soll meinetwegen ursprünglich positive, mit dem Bekenntnisstande der Kirche völlig übereinstimmende Ansichten gehegt haben, und erst später, nach seiner Ordination an diesem und jenem Glaubenssatze irre geworden sein – das meinten Sie doch wohl, lieber Amtsbruder?« –

»Ich denke, wir sind nicht an einen Block geschmiedet mit unserer Überzeugung.«

»Nun gut! – Wenn dem so war, sage ich, hatte Kämpfer zunächst die Pflicht, sich zu prüfen – ernsthaft zu prüfen – verstehen Sie! Er konnte sich auch mit anderen beraten – mit Amtsbrüdern zum Beispiel –«

»Mit Amtsbrüdern?«

»Ja!«

»Als ob die so etwas ernst nehmen würden! – Ja, wenn es sich um Pfarräcker oder Stolgebühren gehandelt hätte.« –

»Lassen Sie mich ausreden, mein Lieber! – Ich wollte sagen, wenn der Mann nach reiflichster Selbstprüfung zu dem Resultate gelangt, daß er seine heterodoxe Ansicht nicht zu ändern vermöge, daß auch für alle Zukunft keine Aussicht dafür vorhanden sei – dann –«

»Nun – was dann?«

»Dann mußte er dem Konsistorium davon Meldung machen und abwarten, was über ihn verfügt wurde.«

»Bravo! Dem Konsistorium Meldung machen. – Als ob in irgend einem Konsistorium der Welt Leute säßen, die sich von dem Seelenzustande eines ernst ringenden Menschen auch nur eine Vorstellung machen könnten.« –

Hier fiel ihm die Mutter ins Wort. »Moritz, du gebrauchst sehr schroffe Worte.«

»Mutter, entschuldige – aber du gehörst zu den Laien – daher deine rosige Anschauung. – Es ist sehr leicht gesagt: wer Zweifel hegt, der soll der Behörde Meldung machen. Darüber, Herr Pastor, werden Sie doch wohl keinen Augenblick im Zweifel sein, was der Erfolg einer solchen außerordentlichen Naivität gewesen sein würde?«

»Der Abschied – vielleicht.« –

»Nein, der Abschied sicher!«

»Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß man dem Betreffenden, wenn er den rechten Weg eingeschlagen und die richtige Form gefunden, eine Gnadenfrist gewahrt hätte; in der Hoffnung, daß er noch zu einer annehmbaren Basis in seinem Glaubensleben gelangen möchte.« –

»Auf deutsch, man giebt dem braven Manne den Rat, sich die Sache noch einmal zu überlegen – nicht allzu rigoros zu sein. Viele Wege führen ja nach Rom – und in unserer bösen Zeit will man doch nicht gern den Frieden der Kirche stören, oder neuen Stoff zur Lästerung geben. – Villeicht sind dem armen Schlucker inzwischen noch zur rechten Zeit seine brotlosen Kinder eingefallen, und daß es im Schoße der Kirche doch wärmer ist, als draußen. Die Pensionsberechtigung ist am Ende auch 'ne Messe wert – und das Kompromiß ist fertig.« –

»Herr Amtsbruder, das ist Ihre eigne tendenziöse Auffassung. – Sie verschieben den Fall vollständig. Weder hat das betreffende Konsistorium ein solch schmähliches Kompromiß vorgeschlagen, noch ist der betreffende Geistliche darauf eingegangen –«

»Das lag jedenfalls an dem Geistlichen, der ein ganzer Mann zu sein scheint.«

»Moritz, kannst du denn wirklich mit einem solchen Menschen sympathisieren?« fragte die Mutter dazwischen.

»Mutter, sieh mal an – es giebt doch so etwas wie eine Überzeugung. Viele lassen sich diese Überzeugung freilich binden. Aber hier und da tritt doch einmal einer auf, der es unter dem Gewissenszwange nicht aushält. – Luther und sämtliche Reformatoren haben nicht anders gehandelt.«

»Vergiß nicht, Moritz, daß die Reformatoren nicht eigentlich negierten, sondern nur wiederherstellten – die verdunkelte Lehre zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückführten. Wer leugnet, übernimmt damit die Pflicht, etwas Besseres an die Stelle des Geleugneten zu setzen – und das ist hier nicht geschehen.« –

Der Sohn war durch dieses Argument der Mutter offenbar in die Enge getrieben. Gerland bemerkte, daß er die Brille abnahm und schnell wieder aufsetzte.

Polani nahm wieder das Wort. »Sie haben sehr recht!« – damit wandte er sich an die Mutter. »Der Vorwurf unverantwortlichen Leichtsinnes, ja der Gewissenlosigkeit trifft diesen Kämpfer. Er hat großen Schaden angerichtet – Schaden, der nicht wieder gut zu machen ist.«

»Wieso? – das möchte ich bewiesen haben!« rief Fröschel außer sich, und blitzte den ersten Geistlichen zornig mit seinen kleinen Augen an.

Über Polanis matte Haut flog ein rötlicher Schimmer, aber er wahrte die Haltung. Gerland bewunderte im stillen seine Selbstbeherrschung, wie er der flackernden Hitze des jungen Mannes überlegene Gelassenheit entgegensetzte.

»Gewiß muß eine solche Handlungsweise Schaden stiften – die Gemüter verwirren – viele zum Zweifel verführen – und über unseren Stand ganz falsche Ansichten hervorrufen. – Ich dächte, die Kirche besäße der Feinde und Angreifer genug in unserer Zeit – müssen sich auch noch aus ihrem eignen Schoße Angreifer erheben, die an ihrem Bestande rütteln mit vermessenen Händen?«

»Und wenn dieser Bestand nur ein Schein ist! – Sind wir Geistliche dann nicht berufen, der Wahrheit die Ehre zu geben?« –

»Sie verkehren schon wieder das Thema, Herr Amtsbruder; die Frage ist hier nicht, was soll ein Geistlicher thun, oder nicht thun – sondern –«

»Sondern?« –

»Sondern, welche Verpflichtungen verletzt er – nicht als Diener der Kirche allein – sondern, ganz allgemein, als Mensch von Gewissen und Zartgefühl – wenn er vor eine Gemeinde gläubiger Christen hintritt, die seiner Seelsorge anvertraut ist, wenn er vor eine solche Versammlung hintritt und durch seine Zweifel sie zum Zweifeln herausfordert. Wiegt die Befriedigung, die ihm die Thatsache bereiten mag, seine Ansicht an den Mann gebracht zu haben, wohl die Beunruhigung der Gemüter auf, die ein solches Vorgehen des Seelenhirten notwendig hervorbringen muß? – Kann er als Mensch, als gewissenhafter Mensch, das verantworten? frage ich.« –

Beistimmend zitierte die Mutter halblaut: »Es muß ja Ärgernis kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt.« –

»Dagegen, Mutter, halte ich dir ein anderes Wort des Heilandes: Eure Rede sei: ja ja, nein nein – was darüber ist, das ist vom Übel.– Welche Verpflichtung, welche Ordination, frage ich, kann einen anständigen, ehrlichen Mann dazu zwingen, zu lügen – jawohl, zu lügen, mit jedem Male zu lügen, wo er auf die Kanzel tritt – wenn das nicht mehr sein Glaube ist, was zu bekennen ihm die Kirche vorschreibt?«

»Vielleicht die Bescheidenheit,« – fiel Polani ein – »die allerdings häufig erst mit den Jahren kommt.« Ein ironisches Lächeln zuckte über sein Gesicht. »Denn wer dürfte sich vermessen, das was in Jahrhunderten bessere und weisere Männer, als wir sind, an Glaubensschätzen angesammelt, als Lüge zu bezeichnen?« –

»Das ist es ja eben! – Wir plappern Sätze nach, die uns oktroyiert worden sind – noch schlimmer, zwingen sie den Leuten auf. Gedanken, die vor tausend und mehr Jahren wertvoll gewesen sein mögen – Ansichten, die unter fremdem Himmel, bei einer fremden Rasse entstanden – in Jahrhunderten der Roheit – der –«

»Moritz!« unterbrach ihn die Mutter in strengem Tone: »Wovon sprichst du eigentlich? – Ich will nicht hoffen, daß dies deine Ansichten über das Christentum sind!«

»Mutter!« rief er gequält, »ich will eben nur sagen – ich meine nur – viele von uns leiden Pein, entsetzliche Pein unter diesem Zwange – dieser furchtbaren Kruste, die sich über alles gelegt hat. – Ach, es ist Unsinn, darüber zu reden!« –

Rote Flecken zeichneten sich auf seinen Backenknochen ab. Die Mutter blickte ihm besorgt ins Gesicht, und wollte seinen Blick fangen, wohl um ihm ein Zeichen zu geben.

»Ich möchte Ihnen fast raten, lieber Amtsbruder,« begann Polani, »aber nehmen Sie mir den Rat nicht übel – versuchen Sie einmal, die christliche Lehre – die Bibel – unsere ganze religiöse Entwicklung, historisch zu würdigen. Mit der kritischen Methode allein kommt man nicht aus, oder vielmehr, man kommt zu schnell am Ende aller Dinge an. Betrachten Sie einmal, ohne alle vorgefaßte Meinungen, den Gang der Weltgeschichte, von der die christliche Epoche ja nur der notwendige Abschluß ist. – Vergleichen Sie das Neue und Große, das mit dem Christentum in die Welt gekommen, mit dem Größten und Besten, das frühere Epochen hervorgebracht, halten Sie die Güter des Glaubens gegen Wissenschaft, Philosophie und Kunst – und dann, wenn Sie wirklich mit Ernst geprüft haben – dann, lieber Amtsbruder, werden Sie sehr bald die – verzeihen Sie den Ausdruck – etwas jugendlich excentrischen Ideen abstreifen, die Sie jetzt noch hegen. Sie werden zu gefestigteren Anschauungen kommen, und niemand wird sich mehr darüber freuen, als ich.«

Die Mutter nickte dem ersten Geistlichen dankbar zu. Der Diakonus schien etwas erwidern zu wollen, blickte auf die Mutter – das Wort erstarb ihm auf der Zunge vor der energischen Kopfbewegung, mit der sie ihm bedeutete, zu schweigen. Er starrte fortan auf seinen Teller, tief verstimmt.

* * *

Gerland ging zeitig am Nachmittag fort; er hatte dem Vetter versprochen, zum Abendessen wieder in Breitendorf zu sein.

Als er Abschied nahm, schloß sich ihm der Diakonus an.

Kaum war man draußen, so erklärte Fröschel: »Ich muß mit Ihnen sprechen! – Haben Sie eine Stunde Zeit übrig für mich?«

»Ich habe einen Wagen hier und wollte nach Hause.«

»Schicken Sie doch, bitte, den Wagen voraus – thun Sie mir den Gefallen. Wir gehen ein Stück Wegs zusammen; – geht das nicht?«

Gerland erklärte sich mit dem Vorschlage einverstanden.

Bald hatten sie den Ort hinter sich; auf der hartgefrorenen Straße schritten sie hinter dem Bauerwägelchen drein, das langsam bergan rollte.

Der Sturm vom Tage zuvor hatte den Bäumen die Schneelast abgestiebt; schwarzgrün ragten die Wälder aus der weißschimmernden Fläche auf, in der Ferne in bläuliche Tinten übergehend, bis zum matten Tone angelaufenen Stahles; darüber ein klarer Winternachmittagshimmel, milchfarben, im Westen zu orangefarbenem Rande abgetönt. –

›Jetzt wird es kommen,‹ dachte Gerland bei sich, als sie an den letzten Häusern vorbeigeschritten waren und Fröschel mit dem Putzen seiner beschlagenen Brillengläser endlich ein Ende gefunden hatte.

Aber immer noch ein paar Hundert Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Fröschel abrupt bemerkte:

»Ist dieser Polani nicht ein abscheulicher Heuchler?«

Gerland blickte den Sprecher verdutzt an. »Das heißt, – das ist doch allzu hart geurteilt!«

»Ist es vielleicht keine Heuchelei, eine Sache, über deren Nichtigkeit man innerlich völlig im klaren ist, mit Aufwand von soviel sittlichem Pathos verteidigen? Haben Sie unsere Tischunterhaltung heute nicht mit angehört? Mir kam es so vor, als lauschten Sie zu uns herüber.«

»Allerdings – ich will nicht leugnen, daß ich einiges aufgeschnappt habe.«

»Nun, und da sind Sie noch nicht hinter das wahre Wesen dieses Herrn gekommen? Ich hätte Sie für einen besseren Psychologen gehalten. – Übrigens, daß ich Ihnen nicht unrecht thue, Polani ist ein feinerer Heuchler als die meisten von uns – raffinierter und schwerer zu durchschauen.«

»Ich glaube, Fröschel, Sie sind persönlich gegen ihn eingenommen.«

»Nein! – Ich hatte einstmals sogar eine sehr hohe Meinung von Polani. Wissen Sie, daß es dem Menschen gelungen ist, mich anfangs völlig zu überrumpeln? Als ich vorm Jahre hier eintrat, erwartete ich in dem ersten Geistlichen einen vom gewöhnlichen Schlage vorzufinden. Ich war angenehm überrascht – das kann ich nicht leugnen – als dieser Mann vor mich trat. Er imponierte mir in gewisser Beziehung durch seine Formen, seine Sicherheit, seine Bildung, deren Grenzen ich damals noch nicht erkannte. Sein Bücherbrett stellte er mir sofort zur Verfügung – womit er mein Herz vollends gewann. – Von seinen Forschungen über den Jesuitenorden erzählte er mir natürlich. Und hier und da ließ er mir im vertraulichen Gespräche durchblicken, daß auch für ihn die Welt nicht in sechs Tagen geschaffen sei, und daß man die Augustana am Ende nicht ganz wörtlich zu nehmen brauche. Aber alles das nur zwischen den Zeilen zu lesen – verstehen Sie! – Polani wird sich nie kompromittieren. – Ich beging eine große Dummheit; durch seinen Pseudoliberalismus ließ ich mich zu Geständnissen verlocken. Sprach sehr offen – enthüllte meine letzten Ansichten. Und sehen Sie, Gerland, das vertrug er nicht – auf einmal nahm er eine ganz veränderte Miene an, meinte, das schicke sich nicht – kurz – steckte den ersten Geistlichen heraus. – Wenn es etwas auf der Welt giebt, das ich nicht vertragen kann, das mir von Grund der Seele zuwider ist, so ist es solches Hinter-dem-Berge-halten, dieses Nicht-Fleisch-nicht-Fisch-sein, diese weibische, blutarme Ängstlichkeit – diese zweideutige, finassierende Spitzfindigkeit. – – Da ist mir doch jeder vierschrötige Landpastor am kleinen Finger lieber, der seinen Bauern die Geschichte von Bileams Esel in aller Ruhe vorerzählt, ohne Bedenken. Aber eine solche tief innerliche Verlogenheit, die auch noch mit ihrer Abgelecktheit prunken will, das ist doch die ekelhafteste Entartung, zu der es unsereiner bringen kann. – Seien wir doch wenigstens ehrlich, wenn wir untereinander sind. Unsere Amts-Vorgänger, die alten Auguren, waren andere Kerle als wir; ihr Lachen stünde uns besser zu Gesichte, als diese aufgeblasene Wichtigthuerei, die das Armesündergefühl doch nicht wegzuheucheln vermag.«

»Sie scheinen eine geringe Meinung von unserem Stande zu haben.«

»Die habe ich allerdings! – Übrigens denken Sie nicht, ich sei hochmütig; ich bilde mir nicht ein, besser zu sein, als die anderen. Ganz und gar nicht! Nur empfinde ich die Schmach stärker, die darin liegt, einer Sache zu dienen, deren Hohlheit man durchschaut hat.«

»Und diese schmeichelhafte Meinung haben Sie natürlich auch von mir.«

»Gerland – ich will Ihnen etwas sagen – Sie sind mir in gewisser Beziehung eine Ausnahme; Sie besitzen wissenschaftliche Bildung und – Sie sind ein Mensch, der nachdenkt. – Schon dadurch fielen Sie mir unter den Amtsbrüdern auf. Doch schließlich, Bildung und Nachdenken teilen Sie mit Polani – aber sehen Sie, Sie haben noch etwas Besonderes vor uns voraus – Sie sind illusionsfähig – haben sich eine gewisse Herzenswärme gewahrt, die Sie über den großen Riß hinwegträgt, der nun einmal durch unser aller Weltanschauung geht. Das fehlt mir, und das kann ich mir nicht geben. Ich beneide Sie. Ja, wahrhaftig, ich beneide Sie, Gerland!«

»Sie sagen, Ihnen fehlten diese Eigenschaften, die Sie bei mir konstatieren zu können glauben. Aber ich bitte Sie, mein Freund, wenn Sie diesen Mangel zugeben, so ist damit doch eigentlich schon der erste Schritt zur Besserung gethan. – Sie werden sich mit der Zeit zur Freude am Berufe durchringen; bei Ihrem ernsten Streben bin ich davon überzeugt.«

»Nein, das ist kein Unterschied der Auffassung; das ist im letzten Grunde vielleicht ein Unterschied der Temperamente. Ihr Blut muß anders zusammengesetzt sein, als das meine. Sie besitzen die Fähigkeit zu hoffen und zu glauben; ich muß alles untersuchen, kritisieren und zersetzen. In meinem Charakter fehlen die positiven Seiten. – Sie sind wohl gar nicht imstande, sich in einen solchen Zustand hineinzudenken.«

»Lieber Freund! Sagen Sie mir nur das Eine – wie sind Sie eigentlich unter die Theologen geraten?«

Fröschel hielt im Gehen inne, stemmte die Hände in die Seiten und lachte gerade heraus.

»Warum lachen Sie?«

»Ich lache darüber, wie Sie es ahnungslos verstanden haben, das Tragische in meinem Leben in einem kleinen Satze auszudrücken. – Wie bin ich unter die Theologen gekommen? – Ein Mensch, wie ich, Theologe! – Klingt das nicht fast wie ein schlechter Witz? – Theologe! – Wo einer gesättigt sein muß mit Positivismus. Ich bin auf den breiten Gewässern christlicher Scholastik wie ein Fahrzeug mit zu wenig Ballast – ich kann nicht schwimmen und auch nicht untergehen. – Wie soll ein Mensch, wie ich, erbaulich reden können – wie soll ich Begeisterung erwecken, Tröstung spenden, Sicherheit geben? Es liegt so etwas Entwürdigendes in der Heuchelei; Sonntag um Sonntag hintreten zu müssen und ein Symbol aufsagen, das für mich nichts ist, als wertlose Kompilation antiquierter Formeln – und dabei immer die Miene machen, als sei man von der Wahrheit und Heiligkeit dieser Sätze durchdrungen. – Auf der Kanzel fühle ich mich wie ein armer Sünder. Mir ist die salbungsvolle Aufgeblasenheit von Natur versagt, die, wo sie selbst nichts denkt und fühlt, mit der Ornamentik der Phrase das Manko zu verdecken versteht. Ich könnte mir nicht erbärmlicher und lächerlicher vorkommen, wenn ich dazu verdammt wäre, falschen Schmuck oder künstliche Blumen herzustellen. Mein Gewissen verklagt mich auf Schritt und Tritt. Ich zittere vor dem Augenblick, wo mich ein Sterbender auf Ehre und Gewissen fragen könnte, ob ich denn selbst an das ewige Leben glaube, dessen Versicherung ich ihm mit Brot und Wein gebe. – Verstehen Sie, Gerland, welch ein elender Zustand das ist? Ist es nicht geradezu verbrecherisch – ist es nicht das Vergehen wider den Geist?«

»Lieber Fröschel hätten Sie denn alles das nicht besser bedacht, ehe Sie diesen, Beruf wählten?«

»Beruf wählen? – Gut gesagt! Sie könnten mich mit gleichem Recht damit trösten, mein Bester, warum waren Sie auch so dumm, geboren zu werden. – Gerland, so wie der Mensch ins Leben kommt, ohne seinen Wunsch und Willen, bedingt durch tausend Umstände und Zufälle, vorbestimmt und belastet – sehen Sie, Gerland, ebenso bin ich zu dem Berufe des Geistlichen gekommen. – – Vieles könne ich Ihnen darüber erzählen – eine ganze Leidensgeschichte – eine Geschichte geistiger Vergewaltigung – aber ich will mich kurz fassen:

»Mein Vater muß ein merkwürdiger Kopf gewesen sein, nach allem, was ich über ihn gehört habe, und den wenigen Schriftlichkeiten, die von ihm übrig sind. Sie wissen wohl, daß er Gymnasial-Oberlehrer war. Die Welt hat nicht viel von ihm wissen wollen – er galt ihr als ein unzufriedener, menschenscheuer, eingebildeter Grübler. Seinen Kollegen war er ein unsympathischer Sonderling. – Ich hege nichts destoweniger eine wehmütige Verehrung für den Mann – ich glaube, er war sehr unglücklich, sein Geschick war dem meinen nicht unähnlich. Ich weiß, daß er Unsägliches gelitten hat, unter geistiger Bevormundung von seiten derer, die er am meisten liebte. – Was ich selbst in gleicher Lage leide, weiß ich nur zu gut!

»Sie scheinen mich nicht ganz zu verstehen; ich werde mich erklären.

»Sie kennen meine Mutter. Sie ist eine kluge Frau – eine geistvolle Frau sogar – ich verehre sie – ich liebe sie über alles in der Welt – und das ist keine Redensart. Aber sehen Sie, Gerland, wie sie meine beste Freundin, so ist sie auch meine Feindin. Orthodox bis in die Knochen. Hier liegt der tiefe, unüberbrückbare Gegensatz zwischen uns, der dadurch natürlich verschärft wird, daß ich Priester bin. – Sie ist klug, sagte ich Ihnen, und für eine Frau hat sie erstaunlich viel gelernt und gelesen, und doch ist sie über die letzten Vorurteile nicht hinausgekommen. Mit verblendeter Energie hängt sie sich an diese Vorurteile. Nur eine Frau bringt das Kunststück fertig, mit gutem Gewissen Aufklärung und starren Glauben in sich zu vereinigen. Mit engherziger Beschränktheit hält sie am letzten Buchstaben des Dogmas fest. Und dabei kann ich Ihnen versichern, giebt es wenig Dinge, die sie nicht zu begreifen vermöchte. Aber in ihrem Verstehen giebt es irgendwo eine Schranke, über die sie nicht hinweg kann, vielleicht nicht hinweg will. – Sehen Sie, Gerland, das ist der dunkle Punkt zwischen mir und ihr, und der ist es, wie ich vermute, auch zwischen ihr und meinem Vater gewesen. – Früher haben wir uns oft gestritten, meine Mutter und ich – streiten ist ein viel zu mattes Wort dafür – – jetzt kommt das selten noch vor, aber der Gegensatz ist darum nicht vermindert. – Glauben Sie mir, meine Mutter, die äußerlich so ruhige, abgeklärte Frau, hat ihre Leidenschaft: die Religion. Sie ist religiös bis zum Fanatismus. Nichts wird sie erweichen; nicht Argumente, nicht Erlebnisse. Sie hat Schweres durchgefochten mit meinem Vater. Die Religion hat diesen beiden Menschen, die sich liebten, das Zusammenleben verbittert – hat sie einander entfremdet. Selbst diese trübe Erfahrung vermochte nicht, sie zu belehren, oder ihren Eifer zu dämpfen. Daß mein Vater ungläubig gestorben, daß es ihr nicht gelungen, ihn zu bekehren, nagt noch jetzt an ihrer Seele. Nun soll ich die Enttäuschung gut machen, die sie an ihm erlebt. – Ja, Sie mögen lächeln, aber es ist so – ich sollte zum Opfer gebracht werden – ich sollte den Himmel versöhnen. Die Frauen bleiben eben doch dieselben zu allen Zeiten. Lebten wir noch im Mittelalter und glaubten an Askese und Werkgerechtigkeit, meine Mutter hätte mich sicherlich dem Kloster dargebracht, in majorem gloriam domini. Aber da meine Mutter evangelisch ist, fanatische Protestantin sogar, so kannte sie keinen brennenderen Wunsch, als daß der Sohn ein großes Licht ihrer Kirche werden möchte, und darauf los also bin ich von frühester Jugend an dressiert worden. Ich bin in orthodoxer Zimmerluft aufgewachsen, gefüttert mit positivem Christentum. Und wie merkwürdig das Resultat dieser Erziehung ausgefallen, das wissen Sie. Das gerade Gegenteil von dem, was sie gewollt, hat meine Mutter erreicht. Die Ungereimtheiten unseres Glaubenssystems fielen mir schon frühzeitig auf; bereits als Gymnasiast war ich arger Häretiker, und habe meiner Mutter manche Nuß zu knacken gegeben, mit verfänglichen Fragen und frühreifen Zweifeln. Ob das die Art meines Vaters ist, die da durchschlägt? – Ich bilde mir manchmal ein, ihm verzweifelt ähnlich zu sein. – Und sehen Sie, so sorgfältig ich auch gehütet wurde, es sind eben doch die Spuren einer anderen Weltanschauung in mich hineingetragen worden – und, wie es scheint, haben sie einen günstigen Boden vorgefunden. Meine Mutter hat es nicht hindern können – unter ihren Augen und Händen bin ich das geworden, was ich bin. Sie sieht das auch jetzt selbst ein und nimmt ihre Stellung dazu – sucht mich zu widerlegen, so gut sie kann, und wartet im übrigen. Mit der Zeit, denkt sie, kommt er doch herum. Ich glaube auch, daß sie für mich betet. Daß sie viel um meinetwillen leidet, weiß ich – aber, kann ich es ändern? Kann ich einen Glauben in mir hervorzaubern, der nicht in mir gewachsen ist? – Und nebenbei ist sie auch nicht unthätig; durch tausend Kleinigkeiten sucht sie mich zu beeinflussen, mich mürbe zu machen. Bald spielt sie mir ein sogenanntes gutes Buch in die Hand – ein positives, Sie verstehen – ihre Gespräche mit mir haben alle einen bestimmten Zweck, der wie ein Leitmotiv durch alles hindurchklingt – mich zu bekehren. Sie ist eine Virtuosin darin, alles und jedes auf diese Moral zuzuspitzen. Sie ist eine kluge Frau, wiederhole ich Ihnen, Gerland, doch diese eine einfache Thatsache kann sie nicht begreifen – will sie nicht begreifen, daß man sich zum Glauben nicht zwingen kann. Und so drehen wir uns um einander herum, in einem circulus vitiosus, und thun uns unendlich viel Schmerz an. Jedes Ereignis unseres Lebens, jede Person, mit der wir in Berührung kommen, sieht sich meine Mutter daraufhin an, wie sie sie nutzbar machen könnte, mich nach dieser bestimmten Richtung hin zu beeinflussen. Sie werden es mir nicht glauben, Gerland, auch Sie hat meine Mutter mir gegenüber ausgespielt. Sie hat mir den Pfarrer Gerland von Breitendorf hingestellt als Beispiel dafür, wie man wissenschaftlich gebildet und doch ein positiver Christ sein könne. Und von Polanis Einfluß auf mich erhofft sie ganz Außerordentliches. Daß er nicht aufrichtig sei, will sie nicht gelten lassen. So trübt diese fixe Idee selbst ihre Menschenkenntnis. Polani soll mich missionieren; heute Mittag haben Sie ein Pröbchen davon erlebt. Sehen Sie, so bin ich umstellt von allen Seiten, und das schwerste für mich ist, daß es nicht Feindschaft ist, die mir solche Netze stellt, sondern Liebe – blinde Liebe, die nicht versteht, welche Qualen sie bereitet. Sehen Sie, Gerland, daß ist die entsetzliche geistige Bevormundung, unter der ich lebe.« –

Eine längere Pause entstand. Beide Männer marschierten im Gleichtakt auf der Landstraße weiter, dann meinte Gerland: »Eins, lieber Freund, ist mir immer noch nicht klar geworden: Wie ist es möglich, daß Sie sich dieser Bevormundung, wie Sie es selbst nennen, nicht haben entziehen können?«

»Ja, es ist beschämend für mich, aber es ist so; ich habe nicht die Kraft – nicht den Mut dazu gefunden. Jeder Mensch, glaube ich, sollte zunächst seine Eltern überwinden, so oder so – in Güte, wenn es geht, wenn nicht, muß er den Mut der Rücksichtslosigkeit finden. Es ist ja schließlich weiter nichts als Notwehr. Und wenn sie es noch so gut zu meinen glauben – die Alten; was uns not thut, können sie ja nicht verstehen. Man muß sich losreißen – freimachen und das beizeiten. Ich habe diesen wichtigsten Schritt versäumt. Meine Mutter hielt mich fest mit tausend Fäden der Liebe. Ich bin unbeholfen und unpraktisch, kann mich in Dingen des gewöhnlichen Lebens nicht aus fünf Birken herausfinden – vielleicht hat meine Mutter diese Eigenschaften in mir begünstigt, um mich länger am Schürzenbande zu halten. – Sie haben ganz recht; irgend einmal mußte ich mich emanzipieren, irgend einmal mußte der Schritt gethan werden. Damals, als ich das Gymnasium verließ, wäre wohl der richtige Moment gewesen. Da mußte ich mein Leben selbst bestimmen, mußte mir einen Beruf wählen nach meinem Herzen und Geschmack. Jurisprudenz, Medizin, selbst Philologie – alles wäre besser gewesen, als gerade das theologische Studium. Aber sie wußte mich so sanft hinüber zu leiten, wußte es als so selbstverständlich hinzustellen, daß ich Prediger würde, daß ich Thor den Seelenverkauf gar nicht merkte. Und wahrend des Studiums, wo ich mir mehr und mehr der Zwangsjacke bewußt wurde, die ich mir hatte überziehen lassen, war sie stets wachsam, stets um mich – beschwichtigend und meine Bedenken einlullend. Und wenn ich mich gelegentlich aufbäumte, wenn die Kathedertheologie allzu harte Opfer von meinem logischen Denken verlangte, da war sie schnell zur Hand, mich auf das zukünftige Amt zu vertrösten. Da sollte alles gut werden. Statt des trockenen Einpaukens wissenschaftlicher Materie, würde ich da Religion erleben. Was hat sie mir nicht alles für lockende Bilder vorgegaukelt: die Freude an Amt und Stellung, die Arbeit an den Gemütern, die Gewinnung von Seelen für das Reich Gottes, die hohen ethischen und kulturellen Aufgaben der Kirche in unserer Zeit.

»Alles das, mein Freund, hört sich so schön an, und schließlich sind es doch nur Phrasen für den, dem die treibende Kraft des Glaubens fehlt. – Aber das sollte ich erst erfahren, als ich im Amte war – nun es zu spät ist.

»Sehen Sie, so ist es meiner Mutter gelungen, mich aus der großen, weiten Lebensströmung, die vor mir lag, hineinzutreiben in das enge stagnierende Wasser des Kirchentums. Was soll ich im Priesteramte? Ich bin kein Menschenfischer – mir fehlt die Begeisterung, die Liebe, die Freudigkeit. – Ich hasse mein Amt, es lastet auf mir mit Centnerschwere. – Können Sie verstehen, Gerland, welch ein verzweifelter Zustand das ist?« –

»Ja, ich verstehe das, lieber Fröschel! – Und soll ich Ihnen meine Meinung frei heraus sagen?«

»Ja, thun Sie das!«

»Es ist hohe Zeit für Sie, daß Sie sich retten.«

»Ich soll mich freimachen?«

»Allerdings!«

»Und – wie – das?«

»Ich glaube, es giebt nur einen Weg für Sie – lieber Fröschel.«

»Das Amt quittieren?«

»Ja!«

»Denken Sie, daß ich das nicht selbst hundertfach bei mir erwogen hätte, Gerland?«

»Sie dürfen nicht länger zaudern, lieber Freund.«

»Es ist zu schwer, Gerland – es ist zu schwer! Ich finde den Mut nicht dazu. – Wenn es sich nur darum handelte, ein Abschiedsgesuch zu schreiben, das wäre ja schnell gethan. Aber bedenken Sie, wie soll ich meiner Mutter die Notwendigkeit klar machen. Ich wage gar nicht auszudenken, was sie thun könnte; – wie sie das aufnehmen würde, wenn ich vor sie hinträte und sagte: Mutter, ich ertrage diesen Zustand nicht länger, gieb mich frei, laß mich meinen eignen Weg wählen; der, den du mir vorgezeichnet, war verfehlt. Was würde das anderes bedeuten, als ihr sagen: Deine gesamte Lebensarbeit war umsonst. – Das wage ich ihr nicht zu eröffnen, Gerland. Nennen Sie mich feige – aber – ich bringe es nicht übers Herz.«

»Nun und wenn sich nun ein anderer bereit fände, es zu thun.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ihrer Mutter das auseinander zu setzen.«

»Wer würde dieser andere sein?«

»Ich! – Wenn Sie mich einer solchen Mission für würdig erachten.«

»Gerland!«

Beide waren gleichzeitig stehen geblieben. Noch war es nicht so dunkel, daß nicht einer die Züge des anderen hätte erkennen können.

Es arbeitete in Fröschels Mienen, wie von Rührung, Gerland ward es feierlich zu Mute, als jener seine Hand ergriff und mit halbersticktcr Stimme hastig etwas von Dank hervorstieß.

»Und – wann – wollen Sie's thun?«

»Sofort, wenn es sein kann. Ein solcher Entschluß darf nicht kalt werden.«

Gerland rief den Wagen an, der noch immer vor ihnen herfuhr; er möge nach Breitendorf zurückkehren, sagte er dem Bauer, für heute brauche er seine Dienste nicht mehr.

Dann gingen sie den Weg, den sie eben gekommen, wieder zurück.

»Willst du mit meiner Mutter allein sprechen, Gerland?« – Das »du« hatte sich ganz von selbst, wie etwas Notwendiges zwischen ihnen eingefunden.

»Das mußt du entscheiden.«

»Ich werde im Nebenzimmer sein.« –

Lange Pause.

Gewichtiger als vorher ertönten die Schritte der beiden Männer durch die abendliche Dunkelheit. Vor ihnen erglänzten schon die Lichter von Annenbad, dessen ersten Häusern sie sich nahten.

Dann in weicherem Tone, als gewöhnlich, sagte der Diakonus: »Eins laß nicht außer acht, bei dem, was du vorhast, lieber Freund, daß mich meine Mutter sehr liebt. Teile es ihr schonend mit.«

»Dessen kannst du versichert sein.«

Erneuter Händedruck. –

Von da ab schritten sie schweigsam bis vor die Thür des Hauses, wo Frau Oberlehrer Fröschel wohnte. Gerland fühlte sich wundersam gehoben und auch wieder beunruhigt in dem Gefühle, etwas Großes und Ungewöhnliches vorzuhaben.

»Sie ist zu Haus!« flüsterte der Diakonus dem Freunde zu, als sie ins Vorzimmer getreten waren.

Eine Thür öffnete sich. Es war die Mutter, den ergrauten Scheitel hell von der erhobenen Lampe beleuchtet.

»Bist du es, Moritz?«

»Jawohl, Mutter! – Und hier ist auch Pfarrer Gerland. – Er hat mit dir zu sprechen.« – Damit schritt er an der Mutter vorbei nach seinem Zimmer.

In den Zügen der Matrone malte sich Staunen; sie bat, der Herr Pastor möge eintreten.

Gerland hatte das, was er sagen wollte, im Kopfe fertig.

Die Mutter setzte sich ihm gegenüber und blickte ihn forschend an. Ein Neues Testament lag aufgeschlagen auf dem Tische. Die Frau konnte ein kurzes, nervöses Zwinkern ihrer Augenlider nicht unterdrücken. Im Nebenzimmer hörte man den Diakonus, der hastig auf und ab ging.

Gerland begann seinem Plane gemäß von der Amtsentlassung des Pfarrers Kämpfer zu sprechen – an das Tischgespräch anknüpfend. Er meinte, der Fall Kämpfer sei nur ein Symptom, das auf einen allgemeinen fehlerhaften Zustand hinweise. Die Kirche, die sich in unseliger Weise mit der Staatsgewalt verquickt habe, majorisiere die religiöse Überzeugung vieler Laien und auch Theologen. Kämpfer habe im geheimen manchen Gesinnungsgenossen unter den Amtsbrüdern, und es würde besser um Kirche und Christentum bestellt sein, wenn alle den Mut der Ehrlichkeit fänden, der jenem seine Stelle gekostet. –

Noch sprach er ganz im allgemeinen, ohne den eigentlichen Zweck seiner Worte anzudeuten. Er hoffte sie zur Aussprache zu bewegen, sie sollte eine Ansicht äußern – ihm widersprechen – dann würde es ihm leichter werden, das Gespräch dahin zu bringen, wo er es haben wollte.

Aber die Frau ließ ihn reden; ihre grauen, gleich denen des Sohnes tief unter der Stirn verborgenen Augen, fixierten ihn scharf, voll Mißtrauen – sie mochte das Manöver durchschauen.

Im Nebenzimmer ertönten immer noch die unruhigen Schritte; fast klang es, als mahnten und drängten sie. Nervöse Hast überkam den jungen Geistlichen, und nach ziemlich plumpem Übergange sprach er der Mutter plötzlich von dem Sohne und seinem Widerwillen gegen den geistlichen Beruf.

Das Mienenspiel der Frau veränderte sich, ihre Augen wanderten, sie strich mit der wachsbleichen, mageren Hand über die gehäkelte Decke vor sich auf dem Tische.

Gerland floß die Rede, jetzt, wo er zum Zwecke sprach, freier von der Zunge; er benutzte vieles von dem, was noch von Fröschels eigenen Worten frisch in seinem Gedächtnisse war.

Auch jetzt unterbrach ihn die Mutter nicht; sie saß mit gefalteten Händen da, den Kopf ein wenig gesenkt. Gerland bemerkte, daß sie sehr bleich sei. Nebenan war es still geworden. Der Sprecher begann sich an den eignen Worten zu erwärmen. Er glaubte Eindruck zu machen; er war durchdrungen von dem Gefühle, die Sache der Wahrheit und Gerechtigkeit zu verfechten.

»Glauben Sie denn nicht, Frau Oberlehrer,« fragte Gerland – und suchte seiner Stimme den angenehmsten Ton zu verleihen – »daß Ihr Sohn sich glücklicher fühlen würde, wenn er sich befreite von einem Amte, das ihn täglich und stündlich zur Zweideutigkeit und Unwahrhaftigkeit zwingt? Und Sie selbst, meine ich, konnten doch auch an einem solchen Zustande keinen Gefallen finden, der Ihrem Sohne die drückendsten Überzeugungsopfer auferlegt – der ihn zu Kompromissen treibt. Dem Reiche Gottes ist damit sicherlich nicht gedient. In der Offenbarung heißt es: ›Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist. Ach, daß du kalt oder warm wärest. Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.‹« –

»Herr Pastor!« unterbrach ihn die Matrone plötzlich. »Sie treiben Mißbrauch mit dem Worte Gottes.« –

Gerland sah ein gänzlich verändertes Gesicht vor sich; ihr Auge flammte zornig.

»Wieso?« stammelte der Geistliche überrascht.

»Jawohl! – Es ist hohe Zeit, daß ich Sie an Ihre Stellung erinnere. Die Art, wie Sie von dem geistlichen Berufe sprechen, ist empörend.«

»Verzeihen Sie – Frau Oberlehrer – aber um mich handelt es sich doch hier gar nicht.«

»Sie nehmen die Partei meines Sohnes; Sie wollen, er soll den Beruf aufgeben, der ihm von Gott zugewiesen ist – der größte, der edelste Beruf, den es giebt. Welche Motive Sie dazu treiben, meinem Sohne die Brücke zu treten, das weiß ich nicht. Jedenfalls ist es schlimm, daß Geistliche so gering von ihrem Stande denken.«

»Ich kann Ihnen versichern, Frau Oberlehrer, daß ich sehr hoch von meinem Berufe denke – daß ich für meine Person, um keinen Preis der Welt, den Talar ablegen möchte – aber –«

»Aber meinen Sohn, den verführen Sie dazu – nicht wahr?«

»Frau Oberlehrer – ich weiß wirklich nicht –« Gerland stand ratlos vor einer Gereiztheit, die das sonst so gemessene, würdevolle Wesen dieser Frau in sein gerades Gegenteil verkehrt hatte.

»Sie sind noch sehr jung, Herr Pastor,« sagte sie, »und auch mein Sohn ist jung. Ihnen beiden fehlen die Erfahrungen – die inneren Erlebnisse – die man nur durch langjähriges Gebetsleben und Ringen erwirbt. Es hängt nicht alles vom Einzelwillen ab, wie die Jugend meint; Gott führt uns und stellt uns auf unseren Posten. Merkwürdig genug, daß ich einen Geistlichen darauf hinweisen muß, daß es eine Berufung und eine Erleuchtung giebt. Wir sind nichts aus eigener Kraft; verderbt und in Sünden befangen von Jugend an sind wir, und nur die Gnade Gottes kann uns befreien. Wenn auch die jetzige Zeit diesen Grundsatz umstoßen will; er bleibt nichtsdestoweniger der Kernpunkt des Evangeliums. – Wir haben nicht das Recht dazu, wir elenden Menschen, unseren Leib und unseren Geist als unser ausschließliches Eigentum zu betrachten, und mit uns selbst zu schalten und zu walten, wie es uns beliebt. Unser Leben ist das Pfund, mit dem wir zu wuchern haben.« –

»Frau Oberlehrer,« unterbrach sie Gerland, »es ist mir nie beigekommen, das zu bestreiten.« –

»Sie haben sich unterfangen, zu behaupten, mein Sohn sei seiner Veranlagung nach nicht zum Geistlichen berufen. Einmal erkläre ich, daß niemandem ein solches Urteil zukommt; ich denke, wenn jemand meinen Sohn kennt, so bin ich es doch wohl, die Mutter! Ferner – kennen Sie denn die Wege, die der Herr meinen Sohn noch leiten wird? Wollen Sie unserem Herrgott ins Handwerk pfuschen? – Der, welcher zu dem Gichtbrüchigen gesprochen: ›Stehe auf und wandle!‹, wird am Ende auch noch Mittel und Wege finden, mein Kind zu sich zu führen.« –

»Ich weiß nicht, ob das im Sinne unseres Herrn und Meisters ist!« – begann Gerland. »Evangelisch ist eine solche Auffassung jedenfalls nicht; dann kämen wir zur Gnadenwahl. Ob er sich zum Priesteramte berufen fühlt, darüber muß schließlich der Erwachsene selbst urteilen dürfen. Der Herr will keinen Zwang und keine Vergewaltigung in geistigen Dingen. Das Wesen des Evangeliums ist Freiheit. –«

»Das Wesen des Evangeliums ist der Glaube an Jesum Christum, den Sohn Gottes!« – rief sie außer sich. »Und den Glauben habt ihr jungen Leute verloren. Euer Wesen ist Überhebung. – Die Demut fehlt euch – die Zerknirschung. – Ihr wollt euch nicht leiten lassen – wollt selbst euer Leben bestimmen. – Das ist der Geist der Auflehnung – der Geist der Negation – der keine Autorität mehr anerkennt, weder die Gottes, noch die der Eltern. – Wie können Sie von Zwang und Vergewaltigung sprechen? – Ich weiß, was meinem Sohne not thut – ich allein weiß es.« –

Sie stand jetzt aufrecht vor Gerland und sprach mit zitternder, aber laut vernehmbarer Stimme:

»Mein Sohn ist mündig; nach den Gesetzen kann er thun, was er will. Aber ich erkläre ein für allemal, mit dem Augenblicke, wo er seinen Beruf verläßt, trenne ich mich von ihm, und keine Einmischung Fremder wird daran etwas ändern.«

Inzwischen war der Diakonus hinter ihr eingetreten. Er sah noch bleicher aus, als gewöhnlich und kam sofort auf Gerland zu. »Laß, Gerland – laß! – Es ist unnütz. – Mutter, errege dich nicht! Pastor Gerland ist gänzlich unschuldig, mach' ihm keine Vorwürfe.« –

Er drängte Gerland, der kaum wußte, wie ihm geschah, zum Gehen.

Als sie draußen standen, sagte der Diakonus: »Wir haben eine große Thorheit begangen, Gerland. Ich mußte das vorher wissen – mir kann niemand helfen. Du hast dein möglichstes gethan. – Ich danke dir. Meine Mutter wird nichts belehren – vielleicht Thatsachen allein. – Lebewohl, Gerland – ich danke dir!« –

 

(Ende des ersten Bandes)

 


 << zurück