Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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XI.

Pastor Gerland hatte jetzt, wo der Herbst mehr und mehr vorrückte und die Ernte in der Hauptsache eingebracht war, Bibelstunden eingerichtet, die er einmal wöchentlich zur Abendzeit im Schulgebäude abhielt.

Besonders zahlreich war seine Zuhörerschaft eben nicht zu nennen; zur Eröffnung des Kursus waren zwar eine Anzahl Mitglieder des Gemeindekirchenrates und des Militärvereins erschienen – wohl aus persönlicher Gefälligkeit für den Geistlichen, oder weil sie damit ihre kirchliche Gesinnung zu dokumentieren wünschten – aber späterhin blieben diese offiziellen Gläubigen aus. Von Männern erschien überhaupt nur noch der alte Lumpensammler Tobis aus dem Armenhause, und der war stocktaub. Ihn mochte das warme Zimmer locken und der Wunsch, sich lieb Kind beim Herrn Pastor zu machen, der ja bei der Verteilung der Armengelder ein gewichtiges Wort mitzureden hatte. Bis auf diesen einen Vertreter der Männerwelt, bildeten nur Frauen und Kinder Gerlands Zuhörerschaft.

Den jungen Geistlichen hatte dieser Beweis lauer Gesinnung von seiten der Honoratioren wohl betrübt, aber Verwunderung hatte er ihm eigentlich nicht bereitet. Er kannte diese Erscheinung bereits, sie kehrte hier wie überall wieder: der Glaube gehörte zum eisernen Bestande der sogenannten guten Gesinnung. Das Christentum war keine Herzenseigenschaft, sondern ein vorgeschriebenes Garderobenstück, das man zu besonderen Gelegenheiten hervorholte, wie den Sonntagsrock für den Kirchgang, und das man für die übrige Zeit, fein säuberlich eingepackt, vor Motten und allerhand Ungeziefer geschützt hielt.

Aber Gerland ließ sich durch den Anblick des kleinen Häufleins nicht entmutigen. Die Mühseligen und Beladenen, die Zerstoßenen und Zerschlagenen, die Witwen und Waisen, die Kindlein, die Armen jeder Art, die Verachteten und Gedemütigten, das war ja die Gemeinde gewesen, die auch der Heiland am liebsten um sich gesehen hatte.

Mit ganz besonderer Sorgfalt bereitete er sich für diese Vorträge vor.

In einer Versammlung von Gelehrten und Wohlunterrichteten zu sprechen, war vielleicht weniger schwer, als vor diesen unmündigen Kindern und einfältigen alten Weiblein, an die Gelehrsamkeit und Geist und alle Mittel der Rhetorik verschwendet waren. Hier nutzten ihm Exegetik, Hermeneutik, Homiletik und alle auf Universität und Seminar gesammelten methodischen Kenntnisse sehr wenig; im Gegenteil, dieser komplizierte Apparat war überall im Wege. Hier galt es, sich in den Zustand ungebildeter, unentwickelter Seelen zu versetzen, etwas von der Schlichtheit und Einfalt dieser geistig Armen anzunehmen, auf ihr primitives Niveau vom Sockel der Gelehrsamkeit und des geistigen Hochmuts hinabzusteigen. –

Bei dem halben Dutzend Bibelstunden, die Gerland bisher abgehalten, hatte die alte Märzliebs-Hanne noch keinmal gefehlt. Er wußte, daß es keine Kleinigkeit für die Greisin sei, den steilen Weg von Eiba nach Breitendorf zur Abendzeit hinab und hinauf zu gehen. Sie kam gewöhnlich von einem oder dem anderen ihrer Enkelkinder begleitet. Es war dem Geistlichen immer eine Erquickung, ihr altes, treues, verwittertes Gesicht unter dem Katheder zu sehen. Sie war gewiß keine von den offiziell Frommen, aber in ihrem Herzen wohnte echte Gottesfurcht und Glaubensinnigkeit, die manches Kirchenlicht beschämen mochten. Keinen Augenblick während des Vortrages wandte sie Auge und Ohr von Gerlands Lippen. Und wenn er am Schluß ein Kirchenlied anstimmen ließ, war sie es, die mit gebrochener, blecherner Greisenstimme mühsam den Strophen nachhinkte.

* * *

Gerland betrat in der achten Abendstunde das Schulzimmer. Wie gewöhnlich beleuchteten die beiden auf dem Pulte aufgestellten mageren Kerzen nur eine kleine Versammlung – lauter Arme und Geringe. Sein Blick glitt über die runzligen, kopftuchverhüllten Gesichter alter Frauen, manch ein Kinderköpfchen dazwischen; gescheitelt, wenn Mädchen, borstig, wenn Knabe. Der echte Armeleutegeruch erfüllte bereits den ganzen Raum. In der äußersten Ecke hockte der taube Tobis, die alte Märzliebs-Hanne fehlte nicht auf ihrem Platze zu Gerlands Füßen.

Er wollte ihr zunicken, wie er's immer that, da fiel sein Blick auf eine ungewohnte Erscheinung neben der alten Frau. Ein dunkler Hut, darunter ein Mädchengesicht mit gesenkten Augen. Träumte er denn, täuschte ihn eine Vision? Die Tochter des Eichwalder Arztes bei ihm, in der Bibelstunde! –

Er fühlte sich nicht im stande, ein Gebet zu extemporieren, wie er es zur Einleitung bisher immer geübt hatte, so ganz war er außer Fassung geraten; ein Kirchenlied mußte als Lückenbüßer herhalten. Während des Gesanges gelang es ihm, sich einigermaßen zu sammeln; er bemerkte, daß Gertrud Haußner mit der alten Hanne in dasselbe Gesangbuch blickte. Das Mädchen sang, etwas ängstlich, wie es schien, und kaum vernehmbar. –

In seinem Vortrag sollte ihn die Anwesenheit der Fremden auf keinen Fall stören, nahm er sich vor. Sie war unerwartet gekommen und mußte vorlieb nehmen mit dem, was sie fand.

Zur Auslegung hatte er sich für heute das Gespräch Jesu mit der Samariterin aus dem Johannisevangelium gewählt.

Nachdem Gerland den historischen Hintergrund mit einfachen Strichen gezeichnet, dem Verstande seiner schlichten Gemeinde sich anpassend, begann er, auf die Begebenheit selbst einzugehen.

Er ließ die Gestalt dieses einfältigen, niederen Weibes aus Samaria vor ihnen lebendig werden, wie sie den fremden jüdischen Mann, den sie auf dem Brunnenrande sitzend findet, zunächst erstaunt betrachtet. Vielleicht denkt sie, er will sie zum besten haben, als er ihr von »lebendigem Wasser« spricht, das er ihr geben will; vielleicht auch überlegt sie bei sich, daß es nicht ganz richtig sein könne bei ihm und superklug erwidert sie: »Herr, hast du doch nichts, damit du schöpfest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? Bist du mehr, denn unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh.« – Der Geistliche verweilte bei dem wunderbar schönen Gegensatze, in den hier Weisheit, Tiefsinn, Güte und alle edlen und vornehmen Gaben des Geistes und Gemütes, die je in einer Persönlichkeit vereinigt waren, gegenübergestellt werden der Neugier, Beschränktheit und Trivialität des Alltagsmenschen, dessen Typus dieses leicht daherschwatzende Weib ist. Und Jesu Antwort: »Wer dieses Wassers trinkt, den wird wieder dürsten, wer aber des Wassers trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillet.« Und nun auf solche Worte die pfiffige Antwort der praktischen Frau in ihrer ganzen Natürlichkeit: »Herr, gieb mir dasselbe Wasser, auf daß mich nicht dürste, daß ich nicht herkommen müsse, zu schöpfen.« – Sie ahnt noch immer nicht, wen sie vor sich hat; ihr stumpfer Blick erkennt nicht den großen Geist, der aus menschlicher Maske zu ihr spricht. Für sie ist er ein Jude, ein Fremder, mit dem ein Viertelstündchen am Brunnenrande zu verplaudern, ihr willkommene Kurzweil bedeutet. Die Geistesblitze, die über den Worten des Mannes zittern, sind ihr wohl verwunderlich, und sein eigenartiges Wesen erregt ihre Neugier, aber ihr Verstand ist zu blöde, zu beschränkt, um ihn ganz zu erkennen; er muß ihr ein Zeichen seiner Macht geben, das nicht zu hoch ist, um von ihr begriffen zu werden. So befiehlt er ihr denn, ihren Mann zu rufen, worauf sie antwortet: »Ich habe keinen Mann.« Da entlarvt er die Sünderin, daß sie bloß dasteht in ihrer Schande: »Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann. Fünf Männer hast du gehabt, und den du nun hast, der ist nicht dein Mann; da hast du recht gesagt.« – Nun endlich merkt sie, daß er kein gewöhnliches Menschenkind ist; das Zeichen seiner Allwissenheit hat gewirkt. »Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist!« ruft sie. Und da sie einen solchen mit der Gabe der Hellseherei ausgestatteten Mann vor sich zu haben glaubt, kommt sie sofort mit einem Bedenken: »Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle.« – Und seine Antwort auf diese Frage, die so recht herausgewachsen ist aus dem kleinlichen Hader religiöser Parteiungen der Zeit, ist scheinbar viel zu tief und hehr für die geringe Person, der sie erteilt wird. Es ist das erste Mal, daß der Heiland die ganze Größe und Bedeutung seiner allumfassenden weltenweiten Mission in Worten ausspricht: »Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge, noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Ihr wisset nicht, was ihr anbetet. Wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit, und ist schon jetzt, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit; denn der Vater will haben, die ihn also anbeten. Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.« –

Und in ihrem armen Kopfe blitzt beim Anhören solcher erhabenen Weisheit eine Ahnung auf. Die große, allgemeine, die ganze Welt erfüllende Hoffnung auf einen Heiland ist auch bei ihr lebendig. »Ich weiß, daß Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn derselbe kommen wird, so wird er uns alles verkündigen.« –

Und darauf das große, gelassene Wort des Mannes: »Ich bin es, der mit dir redet.« –

Es wurde Gerland nicht schwer, von diesem packenden Vorgange ein einfaches, lebensvolles Bild zu geben. Ob seine Zuhörer im stande waren, die psychologische Feinheit der Fabel und all die bedeutungsvollen Lichter, welche die Stelle auf Lehre und Entwicklungsgang des Herrn wirft, zu begreifen; ob es ihm gelungen war, in ihnen von diesen geheimen Beziehungen und Tiefen auch nur eine Ahnung zu erwecken, das wußte er nicht.

Er hatte heute länger vorgetragen, denn je zuvor. Fast schien es zuviel für seine Gemeinde; der alte Tobis war in seiner Ecke eingenickt, einzelne der Kinder fingen an, unruhig zu werden.

Diejenige, um deren Interesse es ihm am meisten zu thun war, ließ durch kein Zeichen erkennen, wie seine Worte auf sie gewirkt. Es gelang ihm nicht, Gertruds Blick zu fangen, sie blickte geflissentlich weg von ihm. –

Das Gebet, das er zu Anfang versäumt hatte, sprach er heute am Schlusse und ließ dann noch ein Lied singen.

Während des Gesanges quälte ihn der Gedanke, ob er sie anreden solle. Es gab tausend Fragen, die er hätte an sie richten mögen. Und gerade das, was seine Wißbegier am meisten reizte, konnte er ja doch nicht erfragen: Wie kam es, daß sie, die Tochter des Dissidenten, die Ungetaufte und religionslos Auferzogene, seine Bibelstunde aufsuchte? Hatte Doktor Haußner dazu seine Einwilligung gegeben, oder war sie ohne Vorwissen des Vaters gekommen? War es Neugier, oder Heilsbedürfnis, was sie hierher getrieben, oder vielleicht gar ein persönliches Interesse für ihn, den Geistlichen – oder war es nichts von alledem?

Nachdem das Lied verklungen und er wie gewöhnlich die Bitte um den Segen des Herrn gesprochen, trat er auf die alte Frau in der ersten Bank zu und reichte ihr die Hand. Dann begrüßte er das Mädchen, eine möglichst ungezwungene Miene annehmend. Sie erwiderte ein schüchternes: »Guten Abend!«

Er wußte, daß er beobachtet werde; das Erscheinen des jungen Mädchens hatte nicht verfehlt, Aufsehen zu erregen. Ein paar alte Weiber standen im Hintergrunde beieinander und warteten mit neugierigen Mienen, was weiter zwischen dem Pastor und Doktor Haußners Tochter vorgehen würde.

Gertruds offenkundige Befangenheit machte auch ihn befangen, da half ihnen die Alte zur rechten Zeit über die Peinlichkeit des Augenblicks hinweg. Mit eifriger Geschwätzigkeit pries sie seine Bibelauslegung: »Nee aber, su schina wie Se 's heute gemacht hoan, Herr Pastor – nee, ich finda gur keene Wurte ne; su schiena wie das wor! Wenn de Leita und se warn dodervuna ne frumm, dernoe weeß 'ch 's ne. Wie Se alles su verklären, daß en urntlich is, als säk mersch mit dan Herrn Christus und dan samaritschen Websen. – Nee, nee, zu schiene wor doas! – Meenen Se nich och, Gertrud – hoat Se's nich och gefallen, wos der Herr Paster gesagt hoat?« –

»Ja – sehr! –«

Ihr niedergeschlagener Blick und heftiges Erröten bei den zudringlichen Fragen der Alten sagten ihm mehr, als sie mit noch so vielen Worten überschwenglicher Anerkennung hätte ausdrücken können.

Die alte Frau grinste, blickte das Mädchen und dann den Geistlichen an, und machte ihm ein bedeutungsvolles Zeichen; sie schien ihre Hintergedanken zu haben.

»Sahn Se, Gertrud,« meinte sie und tätschelte den Arm des Mädchens mit ihren braunen Fingern, »nu nahmen Se duch wengstens a schienes Angedenka mit fürt vu dar Hehmde und vu an Herrn Paster – uf de Reese.« –

Gerland stutzte. »Verreisen Sie denn?« fragte er.

Die Alte antwortete statt des Mädchens: »Wissen Se denn dos no ne? Se verreest duch murgen schunde.« –

Den Geistlichen überraschte die Nachricht vollständig. Er erkundigte sich nach Ziel und Dauer der Reise und erfuhr von Gertrud, daß sie mit dem Vater für den Winter nach Zürich gehe.

Sie hatten inzwischen das Schulzimmer verlassen, draußen war es abendlich dunkel, ein herbstlicher Regen ging nieder. Obgleich Gerland weder Schirm noch Überzieher hatte, unterließ er es nicht, die beiden Frauen zu geleiten. Sein Neues Testament barg er in der Brusttasche vor den Unbilden der Witterung.

Was er soeben über Gertruds und des Arztes Abreise vernommen, beschäftigte ihn weit mehr, als er es zeigen mochte.

Ob sie denn gern von Haus weg gehe, fragte er das Mädchen. Gertrud meinte, sie freue sich darauf, ihre Schulfreundinnen in Zürich wiederzusehen.

Der alten Hanne wegen mußten sie langsam gehen. Die Greisin ächzte und stöhnte, ihr Enkelsohn ging neben ihr mit einem trüben Laternchen; hin und wieder stützte sie sich auf den halbwüchsigen Knaben.

»Nee, lassen Se mich ack alleene, Herr Paster, gihn Se ack mit der Gertrud – gihn Se ack! Warten Se ne uf mich – gihn Se ack mit der Gertrud.« –

Die Alte schien es durchaus so haben zu wollen; Gerland und das Mädchen sollten vorausgehen. Sie blieb wiederholt stehen: »Nee giht ack, giht ihr beeda. Ihr müßt ne gleba und 'r bleibt mit mir alten Websen, ich finda menen Weg schu alleene mit dan Jungen dohie. – Giht ack, giht alleene!« –

Gerland wagte es nicht, ihrer Aufforderung Folge zu leisten; er fühlte sich beklommen. Die Empfindung, daß es unpassend sei, allein mit dem jungen Mädchen durch die Nacht zu gehen, hielt ihn zurück.

Bis die Alte halblaut zu Gertrud äußerte: »Mach ack, daß de noch Hausa kimmst, Gertrud. Wenn de ne federst, kimmt der dei Voter wumiglich nuch ibern Hals.« –

Sie war also doch ohne Vorwissen des Vaters in seinem Vortrage gewesen! Das Herz klopfte Gerland freudig bei der Entdeckung.

»Ich werde mir erlauben, Sie bis vor Ihr Haus zu geleiten,« sagte er in förmlichem Tone.

»Dar lieba Gutt behitta dich und bewohre dich, Gertrud!« meinte die alte Hanne zum Abschied; dann rief sie dem Mädchen noch nach: »Un kumm ack rächt gesund wieder ufs Frühjuhr, wenn dar lieba Gutt und ar läßt mich's nuch derlaba.« –

Der Geistliche und Gertrud gingen jetzt mit eiligen Schritten die Fahrstraße nach Eichwald hinauf, zunächst schweigend, dann fand er, begünstigt durch die Dunkelheit, Mut zu der Frage: »Ist Ihr Herr Vater zu Haus, Fräulein?«

Sie berichtete, daß der Vater zur Stadt gefahren sei, um noch vor der Abreise verschiedenes abzumachen.

»Weiß er, daß Sie heute Abend in der Bibelstunde waren?«

Sie zauderte mit der Antwort, dann hörte er ein hastig kaum vernehmbar geflüstertes: »Nein!«

Wieder eine Pause.

»Würde er's Ihnen denn verboten haben, wenn Sie's ihm gesagt hätten?«

»Ich glaube – ja!«

Er war mächtig erregt. So vieles drängte ihn zur Aussprache, daß seine Zunge geradezu gelähmt schien. Schwer atmend suchte er Schritt mit ihr zu halten. Sie lief jetzt beinahe – irgend eine Angst schien sie vorwärts zu treiben. Schon war man dem Haußnerschen Grundstück nahe; noch ein paar hundert Schritte und sie würde zu Hause sein.

Da löste sich ihm endlich die Zunge. »Ich habe hier ein Buch,« sagte er mit zitternder Stimme, »das Neue Testament. Es stammt von meiner seligen Mutter; sie gab es mir zur Konfirmation – darf ich es Ihnen schenken – Fräulein? – Vielleicht lesen Sie darin – hin und wieder – das würde mich sehr freuen – hier!«

Er hielt ihr das Buch im Dunkeln hin. Es dauerte eine Weile, ehe sie zugriff. Kein Wort des Dankes hörte er, nur das eigne und ihr Atmen. –

Nun waren sie am Gartenthore angelangt, sie schloß hastig auf. Wie gebannt stand er, war ihr nicht einmal behilflich, die schwere Thür zu öffnen – lauschend, ob sie denn nichts sagen würde.

Da hörte er, während sich das Thor schloß, einen Hauch, der »Danke!« bedeuten konnte. Dann drehte sich der Schlüssel, und er sah durch die Eisenstäbe einen Schatten nach dem Hause zu verschwinden.

Er blieb noch eine Weile stehen, ganz untergegangen in der Flut seiner Gefühle. Wie im Traume sah er im ersten Stockwerke des großen Hauses zwei Fenster hell werden; dort also schlief sie. –

Dann hob er mechanisch die Füße und schritt den Weg nach Breitendorf zurück, jetzt im heftig strömenden Regen, den er kaum bemerkte.

Auf der Straße näherten sich ihm durch das Nachtdunkel vom Thal herauf ein Paar glühende Augen. Ein Fuhrwerk holperte den Berg hinauf, eine Bauernkalesche mit herabgelassenem Verdeck. Man sprach drinnen. Gerland erkannte Doktor Haußners tiefe Stimme.

Hastig, um nicht erkannt zu werden, huschte der Geistliche durch den hellen Kreis, den die Laternen um das Fuhrwerk verbreiteten.



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