Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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III.

Gerland hatte sich nunmehr doch entschlossen, den Besuch seines ehemaligen Schulkameraden Dornig zu erwidern. Er wählte dazu einen Morgen, der frei von Amtshandlungen war.

Erst gegen Mittag traf er in Färbersbach ein. Der Ort besaß zwei Kirchen, eine katholische und eine evangelische, die in friedlicher Ruhe dicht bei einander lagen.

Die evangelische Kirche war neu restauriert, ein viereckiger, weißer Kasten, mit großen, vom Boden bis zum Dache reichenden Fenstern, mit einem angeklebten Turme, dessen Größe in keinem Verhältnisse stand zu dem übrigen Gebäude. Das Gotteshaus lag mitten in den Häusern drin. Der Ort hatte einen städtischen Anstrich. Strohdächer und Fachwerkhütten waren hier verdrängt von massiven Gebäuden mit Ziegeldächern. Nur in den Ausläufern des Dorfes waren ländliche Behausungen mit Scheunen und Stallgebäuden zu erblicken. An verschiedenen Stellen ragten Fabrikessen auf, und an dem wasserreichen Bache arbeiteten Sägemühlen.

Auf Gerland, der aus der Breitendorfer Einsamkeit kam, machte das Schnurren der Räder, das Stampfen und Summen der Maschinen den Eindruck regen städtischen Treibens, dessen er sich in der kurzen Zeit schon entwöhnt hatte.

Auch das Pfarrhaus war größer und stattlicher als das Breitendorfer. Er verglich es im Geiste mit dem seinen; keine Frage, es fiel mehr in die Augen. Aber der Garten fehlte mit den mancherlei Blumen; Dornig schien nur einen schmalen Streifen zur Verfügung zu haben, dicht an der gepflasterten Straße, die Beete waren verwahrlost und unbebaut. –

Als Gerland eben die Klingel an der Hausthür ziehen wollte, trat ihm der Amtsbruder entgegen. Er war zum Ausgang gerüstet, mit Hut und Stock.

»Ich fordere dich gar nicht erst auf, ins Haus zu treten,« sagte Dornig, »ich will gerade zum Essen gehen. Du bist natürlich mein Gast.«

»Speisest du denn nicht zu Hause?« fragte Gerland.

»Nein, im Gasthofe. Das ist mir bequemer. Es ist nicht jeder in der Lage, sich eine Pastorswitwe zu halten.« – Dornig hatte sein breites Lachen, das Gerland so unangenehm war. –

Der Gasthof lag nicht weit entfernt von Kirche und Pfarrhaus. Dornig führte den Amtsbruder sofort in ein reserviertes Zimmer. Hier waren am Ende einer Tafel acht Gedecke aufgelegt. Einige Herren saßen bereits vor ihren Plätzen, rauchend, Bier trinkend, Zeitungen lesend; man schien auf das Essen zu warten.

Pastor Dornig machte seinen Freund mit den Anwesenden bekannt. Es waren da: der Arzt, ein Hilfslehrer, zwei Buchhalter, ein Postassistent und ein Volontär vom nahen Rittergute.

»Frau Goksch, noch ein Gedeck!« rief Dornig. »Ich bringe einen Gast.«

Die Wirtin, eine dralle Blondine, erschien und legte das Gedeck auf, den Fremdling neugierig von der Seite betrachtend.

Bald darauf brachte ein Knabe von etwa zehn Jahren, in schmutziger Kellnertracht, die Suppenterrine herbeigeschleppt. Frau Goksch machte sich ans Austeilen. Cigarren und Zeitungen wurden weggelegt; man griff zum Löffel.

Dornig nahm den Ehrenplatz an der Spitze der Tafel ein, Gerland saß neben ihm, sein Gegenüber war der Arzt. Dornig hatte eine Flasche Wein für sich und seinen Gast bestellt.

Den Ton in diesem Kreise schien der Arzt anzugeben, ein junger Mensch von frischen Zügen, klugen, lebhaften Augen, blondem Haupt- und Barthaar.

Doktor Herzner hieß der junge Mensch. Er war sarkastisch, und die ganze Gesellschaft hatte davon etwas angenommen. Die andren jungen Leute suchten ihn zu kopieren, ohne seinen Witz zu erreichen.

Die beiden Buchhalter entwickelten beträchtliche Kleiderpracht. Sie trugen helle Beinkleider, bunte Vorhemden und unechte Krawattennadeln. Das Handgelenk eines dieser Dandys schmückte eine Kette mit Henkelthaler. Sie rümpften die Nase bei jeder Gelegenheit und tadelten das Essen.

Der Hilfslehrer war ein bescheidener junger Mann. Erst kürzlich zu der Gesellschaft gestoßen, fand er sich offenbar noch nicht recht in den kecken Ton hinein. Das einzige Glänzende an ihm waren die abgeschabten Nähte seines ehemals schwarzen Rockes. Die beiden wohlgekleideten Buchhalter verachteten ihn so tief, daß sie es sogar unter ihrer Würde erachteten, sich über ihn lustig zu machen.

Der Volontär, der Sohn eines reichen Grubenbesitzers, war groß und ungeschlacht. Er trug eine Jagdjoppe über dem Jägerhemd, aß auffällig unmanierlich und sprach viel und laut. Der Hilfslehrer war die Zielscheibe seiner groben Späße, bei welchen ihm der Postassistent sekundierte, ein junger Mensch mit Brille und wohlgepflegten langen Fingernägeln, der viel mit einer Talmi-Uhrkette spielte und die Manschetten häufig unter den Ärmeln seiner Uniform vorzog.

Es herrschte in diesem Kreise ein gewisser aufdringlicher Lokalwitz, den man, um dem Gaste zu imponieren, heute besonders leuchten ließ.

Mit der jugendlichen Wirtin schien man auf ziemlich vertrautem Fuße zu stehen, obgleich man sich in dieser Beziehung Gerlands wegen vielleicht einige Zurückhaltung auferlegte.

Man sprach über den Charakter der Eingeborenen, witzelte über ihre Sitten und Gewohnheiten. Der Arzt stellte die Behauptung auf, ziemlich die Hälfte aller Geburten in dieser Gegend sei unehelich.

»Du kannst nachher einer Taufe beiwohnen,« sagte Dornig zu Gerland, »wenn dir's Spaß macht. Die Tochter eines meiner reichsten Bauern in der Parochie bringt mir da ihr zweites Kind. Der Bräutigam, von dem sie das erste hat, ist beim Militär; dieses hier ist von dessen älterem Bruder, ihrem zukünftigen Schwager.«

Die Tischgesellschaft brach in schallendes Gelächter aus, besonders der Volontär hielt sich die Seiten vor Lachen. Man fand den Fall interessant und rechnete aus, in welch verwickeltem Verwandtschaftsverhältnisse die einzelnen Mitglieder dieser Familie zu einander stehen würden.

Dornig fühlte sich offenbar wohl in dieser Gesellschaft. Sein Blick schien Gerland zu fragen: Nun, wie gefällt dir mein Umgang? Er erhob sich zeitiger als die andern. »Ich muß zur Taufe,« erklärte er, als man ihm zurief, er solle doch zum Skat bleiben. »Kommst du mit, Herr Amtsbruder?« fragte er dann, seine ausgegangene Cigarre in Brand setzend.

Dr. Herzner verzog den Mund. »Taufe?« sagte er »Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts – ein toller Anachronismus!«

»Strafkasse!« rief Dornig, sobald sich das Gelächter gelegt. »Bitte, Frau Goksch, die Strafkasse heraus! Gotteslästerung kostet fünfzig Pfennig.«

»Das war keine Gotteslästerung,« meinte der Arzt, »höchstens Sünde gegen den heiligen Geist.«

Einzelne lachten, der Volontär schrie: »Bravo, ausgezeichnet gegeben!«

Gerland war tief errötet. Er blickte gespannt auf Dornig, bestimmt erwartend, daß dieser den Spötter zurechtweisen werde. Dornig bemerkte Gerlands Erregung; er wurde doch ein wenig verlegen. Er meinte: »Wir haben hier nämlich eine Strafkasse. Ich habe das eingeführt. Wer zu spät kommt, zahlt zehn Pfennig.«

»Und wer Frau Goksch anrührt zwanzig,« meinte der eine Buchhalter, indem er nach dem Kinne der Blondine griff, die eben die kleine grüne Büchse auf den Tisch setzte.

Die Frau stieß einen Laut aus, halb Schreien halb Lachen, und schlug nach der dreisten Hand. Es entspann sich ein kleines Handgemenge.

Dornig, der die Aufmerksamkeit des Amtsbruders von diesem Vorgange abziehen wollte, erklärte: »Von dem Ertrage dieser Strafkasse wollen wir dann zu Weihnachten armen Kindern eine Freude bereiten.«

»Wenn Pastor Dornig es nicht vorzieht, noch im Sommer eine Bowle zu arrangieren,« meinte Dr. Herzner.

Erneutes Gelächter, »Der Mensch ist heute unglaublich!« rief Dornig. »Komm, Gerland!« –

Auf dem Wege zum Pfarrhause suchte Dornig das Benehmen seiner Tischgenossen zu entschuldigen. »Es sind etwas lockere Gesellen,« meinte er. »Besonders der Doktor. Er geht manchmal zu weit. Aber schließlich, soll man solche Gesellschaft meiden? Ich glaube nicht! Man muß versuchen, einen sittlichen Einfluß auf sie auszuüben. So wenigstens fasse ich mein Amt auf.«. –

Man betrat das Pfarrhaus. Dornig führte den Amtsbruder auf sein Zimmer. Ein nüchterner Raum, mit schlechten Möbeln und kahlen Wänden, in dem ein muffiger Geruch von kaltem Cigarrenrauch herrschte. Dornig öffnete Kleiderschrank und Kommode; er schien nach etwas zu suchen. Dann riß er die Thür zum Nebenzimmer auf und rief nach der Bedienung. Eine alte Frau kam herein, barfuß, eine unsaubere blaue Schürze vorgebunden. Sie verzog den faltigen, zahnlosen Mund zu einem Grinsen, als sie Gerland sah. Dornig fuhr sie an, sein Talar sei wieder einmal nicht da. »Den hoan Se ju drieben ei der Sakristei gelassen,« meinte die Alte und feixte. »Ach so, ja!« rief Dornig und forderte Gerland auf, mit ihm zur Kirche zu kommen, da es die höchste Zeit sei. »Eine verführerische Dame, meine Aufwartung – was?« fragte Dornig im Gehen. »Auch eine Witwe, aber nicht ganz so hübsch, wie deine.« –

Der Kirchendiener kam ihnen auf halbem Wege entgegen. Er war abgeschickt, den Herrn Pastor zu holen; die Taufgesellschaft sei bereits vollzählig erschienen und warte.

»Verdammt, ich habe mich verspätet!« mit diesen Worten betrat Dornig das Gotteshaus. In der Sakristei kleidete er sich hastig um. »Du kannst dir die Geschichte von der Pfarrloge aus mit ansehen,« meinte er, den Tatar überwerfend. –

Die Taufgesellschaft bestand aus etwa zehn Personen. Sie hatten sich auf den vordersten Bänken am Altarplatz niedergelassen.

Dornig hatte, sobald er den Altar betreten, seine volle pastorale Würde gefunden. Langsam, mit Sicherheit und breiter Salbung sprach er die Einleitung. Sein volltönendes Organ, die kräftige, gesundheitstrotzende Erscheinung, sein ganzes breitspuriges Wesen besaß jene behäbige Breite, welche das Landvolk an seinen Pfarrern liebt. Es war der richtige Bauernpastor, wie er so da stand, wohlgenährt, vierschrötig mit seinem runden, glattrasierten Prälatengesicht.

Der Täufling wurde von der Hebamme gehalten. Sie stand da mit ihrer weißen Haube, den Kopf zur Seite geneigt, den Blick, wie sich's ziemt, unausgesetzt auf den Täufling gerichtet, der in einem mächtigen Steckbett, das mit bunten Schleifen reichlich besteckt war, fast ganz verschwand. Wie eine ferne Begleitung erklang ihr summendes »Pscht – pscht!« zu den Worten des Geistlichen.

Gerland, der von der Pfarrloge aus der Handlung zusah, blickte nach der Mutter aus. Jenes derbe Bauernmädchen, mit den hochgeröteten Backenknochen und dem hellgelben mit Wasser an den Kopf geklebten Haaren, das war sie offenbar. Die grobe Figur ins Konfirmationskleid eingezwängt, das vorn zu kurz war, um die weißen Strümpfe und schwarzen Lederschuhe ganz zu verdecken. Auch die Ärmel langten nicht mehr, zwischen ihnen und den kurzen hellen Handschuhen sah man ein Stück des braunroten Armes hervordringen. Der große, starkknochige Mann neben ihr war offenbar ihr Vater. Der Bauer schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein, wie Gerland aus seinem stieren Blick und der dunklen Färbung des Gesichtes schloß. Zu beiden Seiten des Täuflings standen die Paten. Im Schiff der Kirche hatten sich einige Neugierige eingefunden, die dem Vorgange von weitem folgten.

Dornig erteilte jetzt dem Täufling das Zeichen des Kreuzes an Stirn und Brust. Dann wandte er sich den Paten zu. Er gab ihnen die übliche Vermahnung, sprach das Glaubensbekenntnis, langsam, jedes Wort betonend, und verpflichtete die Paten im Namen des Kindes darauf. Dann schritt er zur eigentlichen Taufhandlung. Dreimal benetzte er das entblößte Haupt des Kindes mit Wasser. Nachdem das Westerhemd über das Getaufte gebreitet, legte er ihm die Hand aufs Haupt und sprach den Segen.

Für Gerland hatte der Vorgang etwas unendlich Peinigendes. Er stand noch unter dem Eindrucke des zuvor Erlebten. Die Handlung erschien ihm wie eine Entweihung des Sakramentes, eine Verhöhnung des Mysteriums.

Heftiger Unmut überkam den jungen Geistlichen. Er erhob sich und griff nach seinem Hute; einen Blick noch warf er hinüber nach der Taufgesellschaft. Eben traten die Paten zusammen um das Kind. Er wußte, jetzt würden sie das Geldstück, das sie von Anfang an wohlverwahrt in der Hand gehalten, in das Steckkissen schieben, zum Geschenk für die Hebamme. Dornig trat nach beendeter Amtshandlung ebenfalls zu dem Kinde, das durch das Wasser aufgeweckt, kräftig zu schreien begonnen hatte. Den Augenblick, wo Dornig über das Neugetaufte gebeugt stand, benutzte Gerland, um sich ungesehen aus der Loge zu entfernen.

So schnell er konnte, ging er aufs Geratewohl vorwärts, um nur möglichst bald weg zu kommen aus diesem Bereiche. Im Geiste sah er Dornigs erstauntes Gesicht, wenn er die Loge leer finden würde. Mochte jener denken was er wollte, mochte er ihm die plötzliche Entfernung übel nehmen; Gerland wäre das gerade recht gewesen.

Er schritt kräftig aus und hatte Färbersbach bald hinter sich. Als er sich hinlänglich sicher glaubte, blieb er stehen und hielt Umschau, um sich zu orientieren. Er befand sich über einer breiten Thalmulde, in deren tiefstem Punkt Färbersbach eingesenkt lag. Er ließ seinen Blick über den Ort schweifen, mit seinen roten Ziegeldächern und rauchenden Fabrikessen, mit dem breiten Wehr, unterhalb dessen eine große Holzschneidemühle ihre mächtigen Bretterhaufen und Holzstöße ausbreitete. Im grellen Licht des Frühnachmittags erglänzten die weißen Garnfelder einer Rasenbleiche; emsig sah er die Leute mit bloßen Füßen in Hemdsärmeln zwischen den Garnstreifen auf und ab laufen und ihre Gießkannen schwenken. Aus dem Gewirr der engen Gassen, der Ziegeldächer und Schornsteine, erhoben sich die beiden Kirchen, die katholische und die evangelische, die eine mit ihrem steilen Dach und schlanken Turm, die andere ein großer, weißgetünchter Kasten, prosaisch wie ein Gasthof anzusehen.

Gerland sah sich nach seinen Bergen um. Von denen war hier nichts zu erblicken. Es zog ihn zurück nach Breitendorf. Der einsame, weltabgelegene Ort war ihm doch die Heimat geworden, und zum ersten Male kam es ihm recht zum Bewußtsein, wie ihm seine Gemeinde ans Herz gewachsen sei.

Er kam auf den Gedanken, die nächste Höhe zu ersteigen; von dort mußte Aussicht sein – er konnte dann den Nachhauseweg leicht bestimmen. Er schlug den ersten besten Feldweg ein, der in ungefährer Richtung auf sein Ziel losführte.

Als Gerland die Anhöhe erstiegen hatte, fand er, daß er sich getäuscht habe. Ein dreißigjähriger Fichtenbestand versteckte alle Aussicht. Er entschloß sich, weiter zu gehen. Den ganzen Abend hatte er vor sich. Es war kein Unglück, wenn er einen Umweg machte.

Der Fichtenbestand wurde abgelöst von hundertjährigem Tannenforst. Gerland konnte sich nicht entsinnen, jemals schöneren Wald gesehen zu haben. Die Bäume standen in weiten Entfernungen, jeder ein Herr für sich. Kerzengerade schossen die weißgrauen Schäfte empor; die Wipfel griffen ineinander. Ein aromatischer Duft stieg vom Waldboden auf, wo Schicht auf Schicht von Nadeln vermoderte, prächtiger Dünger für das Wurzelwerk dieser Riesen. Die Bäume gaben der Erde wieder, was sie von ihr entnahmen, mit ehrlicher Gewissenhaftigkeit. Am Boden zwischen Felstrümmern wucherten Farne und Heidelbeerkraut. Unterholz, junge Buchen und Strauchwerk schoß auf. Oben in der Höhe flüsterten die Zweige miteinander; die Häupter der Sonne zugekehrt, sangen sie dort im Chore uralte einfache Melodieen.

Den jungen Mann litt es nicht länger auf dem Fahrwege; er sprang über den Graben in den Wald hinein.

Hellgrüne Streifen leuchteten von weitem durch das Grau der Tannenstämme. Ein dünner Wasserlauf schlängelte sich hier in einer Bodenfalte durch Moos und Farnkraut, hin und wieder eine Lache von kristallklarer Durchsichtigkeit bildend.

Gerland folgte den Krümmungen dieses Rinnsals nach aufwärts. Plötzlich lichtete sich der Wald; er stand am Rande einer kleinen Wiese. Hier wuchsen Primeln und Anemonen in gelben und weißen Beeten. Das Herz lachte dem jungen Geistlichen im Leibe, die alte Passion zum Botanisieren überkam ihn. Er pflückte eine weißliche Primelart, die ihm vor den andern auffiel. Der Platz war überhaupt eine wahre Fundgrube, Geranium gedieh hier, Hornkraut und Ehrenpreis.

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen – schritt weiter in die Wiese hinein. Der Boden schwankte verräterisch unter seinen Füßen. Hier war offenbar der Ursprung des Wässerchens, dessen Laufe er gefolgt. Drüben winkte hinter einem Streifen von Birken und Erlen wiederum Nadelholz. Er strebte da hinüber, fand seinen Weg durch den feuchten Bruch.

Feld- und Waldstücke wechselten ab. Auf einer Wiese standen Rehe; Gerland schaute ihnen eine Weile zu, wie sie ästen, dann bekamen sie Wind von ihm, äugten ihn verwundert an und zogen langsam zu Holze.

Er begann allmählich Müdigkeit zu fühlen; die Blumen in seiner Hand fingen an zu welken und ließen die Häupter hängen. Er sehnte sich nach seinem Lehnstuhl, der Studierlampe und dem Bücherbrette. Das Gewissen schlug ihm, daß er so lange weggeblieben. Eigentlich hatte er den Abend verwenden wollen, um die Predigt für den nächsten Sonntag auszuarbeiten. Es war schon Freitag und noch nichts vorbereitet. Gott sei Dank, es wurde ihm ja nicht schwer, er konnte zur Not frei sprechen: ja, er sprach dann häufig am besten. Wenn er bedachte, wie manche Amtsbrüder sich abquälten mit Niederschreiben und Memorieren, konnte er sich eines überlegenen Lächelns nicht erwehren.

Lange war er so dahingeschritten, ohne einem Menschen zu begegnen. Abenddämmerung brach herein, von den Wiesen stieg weißlicher Dunst empor. Die Gegend war einsam – weit und breit kein Anwesen. Er hätte gern nach dem Wege gefragt, denn er begann Zweifel zu fühlen, ob er den richtigen verfolge.

Endlich sah er Menschen vor sich. Einen Mann und eine Frau, die einen mit dürrem Reisig hochbepackten Wagen vorwärts bewegten. Der Mann hatte sich vorgespannt, in der Hand hielt er die Deichsel, um seine Brust lag ein tiefeinschneidender Strick. Die Frau ging neben dem Gefährte, das auf dem holperigen Wege hin und her kariolte – eine kräftige, junge Person, mit hochgeschürzten Röcken, sie stützte und half schieben.

Kurz vor dem Zusammentreffen mit Gerland machten sie Halt. Der Mann stöhnte und wischte sich mit der Hand den Schweiß vom Angesichte. Die Frau fand noch Zeit, ihr Brusttuch zurechtzuzupfen.

Der Geistliche grüßte und fragte an, wo er sich eigentlich befinde.

»Wo wulln Se denne hie?« fragte der Mann; – »Nach Breitendurf – do hoan Se immer nuch a Stunden a zwea zu lofa.« Nun beschrieb er in ausführlicher Weise den Weg, den Gerland zu nehmen habe.

Gerland dankte und ging weiter. Die Frau war gar nicht häßlich gewesen. Der junge Geistliche hatte wieder jene Empfindung – jenes Gefühl einer leeren Stelle in seinem Dasein.

Er dachte an Luthers Wort: »Ein Priester soll unsträflich sein, eines Weibes Mann.« – Würde er dieses Ideal jemals erreichen? Wie sollte er hier in dieser kulturabgeschiedenen Einöde ein weibliches Wesen finden, das seinen hohen Ansprüchen genügen konnte? Es gab ja genug Geistliche, die unter ihrem Stande heirateten, das erste beste Bauernmädchen, wenn sie nur eine Ausstattung brachte und einen gesunden Körper hatte. Vielleicht thaten diese Leute sehr recht daran, daß sie, unbekümmert um Verschiedenheit der Bildung und des Standes, einfach der Stimme der Natur folgten.

Er mußte an die Pastorin Menke denken, deren frische Farben und kräftige Formen in der vollen Blüte reifer Weiblichkeit nach wie vor Eindruck auf ihn machten. Die Frau war ungebildet, ja er glaubte an ihr Spuren einer niederen Gesinnung entdeckt zu haben, aber nichtsdestoweniger vermochte er sich ihren Reizen nicht zu entziehen. Das Wesen dieser Person atmete etwas Animalisches aus, das ihn gewaltsam anzog.

Gerland hatte sich eine hohe Achtung vor dem weiblichen Geschlechte bewahrt. Frauen erregten in ihm nicht das Begehren des Kenners. Eine tiefe, natürliche Sehnsucht trieb ihn zum Weibe.

Auch heute Abend, beim Anblick der jungen, kräftiggebauten Person, die neben dem Reisigfuder herschritt, stieg jenes Sehnen blitzartig in ihm auf, gegen seinen Willen, stärker als irgend ein anderer Wunsch. Mit einer gewaltsamen Anstrengung, zu der ein Aufgebot aller sittlichen Kräfte nötig war, bezwang er diese Wallung. Es war zum Verzweifeln, wie mächtig die Sinnlichkeit wirkte. –

Im Walde, den er zu durchschreiten hatte, herrschte bereits pechschwarzes Dunkel. Neben ihm klagte ein Tier, wohl ein Vogel, in fremdartigen, unheimlichen Tönen. Merkwürdig, das Geschöpf schien ihn zu verfolgen, zeitweise schwieg es, dann waren die melancholischen Laute plötzlich wieder da, bald vor ihm, bald hinter, oder dicht neben ihm. Gerland ging unwillkürlich schneller. Sträucher und Bäume nahmen drohende Gestalt an, schienen wie wegelagerndes Volk, das ihm die Straße versperren wollte. Hier ragte ein Arm, dort schwang einer eine mächtige Keule, dort hockte ein Kobold. Das Dickicht schien tausend unheimliche Augen zu haben. Dann fiel ein Laut, als sprächen Geister in der Luft. Der Wind ging durch die Bäume, daß sie gequält ächzten, wie gemarterte Geschöpfe.

Du bist überall in Gottes Hand, sagte sich Gerland, und ging langsamer; er wollte doch sehen, ob er der Furcht nicht Herr werden könne. Wenn du hier durch Mörderhand umkämest, dachte er bei sich, was wäre daran gelegen; wie wenig Menschen giebt es, die sich darum grämen würden. Und der Schmerz, einsam zu sein, überkam ihn mit ganzer Gewalt.

Der Wald lichtete sich. Er trat wie aus dunklem Zimmer ins Tageslicht. Ihm gegenüber zeigte ein weißlicher Schimmer durch Wolkenstreifen an, daß der Mond nicht mehr lange auf sich warten lassen werde. Vor ihm senkte sich das Gelände zum Thal hinab, wo Gerland einzelne Lichtpunkte aufblicken sah, wie Irrlichter. Er vermutete, daß er nicht mehr allzuweit von Breitendorf sei.

Der Weg gabelte sich. Der eine breitere führte geradeaus, weiter auf dem Kamme hin, der andere schien seitwärts ins Thal hinabzugehen. Der Geistliche entschied sich, nach kurzem Überlegen, für den Seitenweg.

Sein Fuß trat auf Kies, über einen schmalen Wasserlauf führte eine Brücke mit Naturholzgeländer, die Bäume lichteten sich und machten Raum für einen halbkreisförmigen Rasenplatz, auf dem eine Bank stand.

Gerland machte erstaunt Halt und sah sich um – war er denn in einen Park geraten?

Er ließ sich auf der Bank nieder. Von hier mußte am Tage schöne Aussicht sein. Vielleicht wenn der Mond hervortrat, konnte er sich über die Örtlichkeit orientieren. Der gegenüberliegende Bergrücken, dessen Silhouette sich gegen den Nachthimmel abhob, lag in Klarheit, aber das Thal zu seinen Füßen war von weißem Nebel erfüllt, der nichts erkennen ließ.

Seine Blumen waren in einem traurigen Zustande; einige Stengel zeigten sich geknickt. Er überlegte, daß es nicht der Mühe wert sei, sie mit nach Hause zu nehmen; so schleuderte er sie denn beiseite.

Jetzt hörte er verlorene Töne, wie von menschlichen Stimmen. Er lauschte, Menschen waren in der Nähe; schon konnte er Schritte vernehmen. Sie schienen den Berg herauf, auf ihn zu zu kommen. Er glaubte ein männliches und ein weibliches Organ zu unterscheiden. Bald vermochte er auch einzelne Worte zu verstehen. Das war nicht der Dialekt der Gegend, in dem sich diese nächtlichen Wanderer unterhielten.

Gerland erhob sich und wollte gehen. Im selben Augenblicke trat ein Paar auf den freien Platz, ein Mann und eine Frau.

Der Mond war eben aufgegangen. Der Geistliche erkannte eine untersetzte, bärtige Männererscheinung, die andere Gestalt war kleiner. Kurze Kleider, ein unbedeckter Scheitel. Das war alles, was Gerland im eiligen Vorüberschreiten bemerkte. Er grüßte mit »guten Abend«. Ein zögernder, verwunderter Gegengruß kam von den Lippen des Mannes, als der Geistliche bereits ein paar Schritte vorüber war.

Immer klarer wurde es für Gerland, daß er in eine Gartenanlage geraten sei. Zu beiden Seiten des schlangenhaft sich windenden Weges standen Obstbäume, auf sanft abfallender Rasenlehne. Fliederduft drang zu ihm herüber. Einige hundert Schritt vor ihm, vom Mondlicht hell beleuchtet, erhob sich plötzlich ein großes, weißes Gebäude.

Auf einmal wußte er, in wessen Grundstück er sich befinde. Doktor Haußner – das ist sein Haus – das Paar da oben das waren sie gewesen: er und seine Tochter.

Gerland stand eine Weile ratlos. Sollte er umkehren und den Besitzer des Gartens um Entschuldigung bitten? Eine Art banger Verlegenheit hielt ihn davon zurück. Vielleicht war der andere Ausgang nach der Landstraße zu, an dem er neulich mit Dornig vorübergeschritten, offen. Er schritt also weiter, an dem Hause vorüber. Ein großes weißes Viereck, lag es da im vollen Mondlichte. –

Das eiserne Gitterthor nach der Straße ließ sich leicht von innen öffnen. Eine Glocke im Innern des Hauses schien mit dem Thor in Verbindung zu stehen. Gerland vernahm ein starkes Klingeln vom Hause her, ein Hund schlug gleichzeitig an.

Erleichtert, wenn auch noch immer klopfenden Herzens, schritt jetzt der Geistliche auf der Straße nach Breitendorf hinab.

Er sann über dieses merkwürdige Zusammentreffen nach. In Gedanken hatte er sich in der letzten Zeit viel mit Doktor Haußner beschäftigt. Der Wunsch wollte ihn nicht loslassen, den Mann kennen zu lernen. –

War es nicht sonderbar, daß er heute mit ihm zusammengetroffen war – durch einen Irrtum?

Gerland war geneigt, auch dieses Ereignis als einen Fingerzeig von oben anzusehen.



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