Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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VI.

Gerland war ausgegangen; man hatte ihn zu einem Kranken gerufen. Pastorin Menke wußte, daß er unter zwei, drei Stunden nicht zurückkehren könne; denn wie gewöhnlich hatte sie den Boten ausgefragt, ehe sie ihn beim Herrn Pastor vorließ.

In der Wirtschaft war heute nicht viel zu thun; das Mädchen schälte Kartoffeln in der Küche, alles zum Mittagsessen Nötige hatte die Witwe bereits herausgegeben. – Ein paar freie Stunden lagen vor ihr. Womit die Zeit ausfüllen, bis das Fleisch angesetzt werden mußte? Sollte sie eine ihrer Freundinnen im Dorfe aufsuchen? Doch dazu war es noch zu früh. – Sie überlegte, einen Finger an der Nase. Auf einmal zuckte ein Lächeln über das rosige Frauengesicht; dann nahm sie ein Wischtuch zur Hand – des Mädchens wegen that sie das – und begab sich in Gerlands Studierzimmer im ersten Stock, als ob sie dort den Staub aufwischen wolle.

Sie öffnete das Fenster. Das weiße Rouleau blähte sich wie ein Segel, sie zog es in die Höhe und stand eine Weile in Gedanken verloren da, umfächelt von dem frischen Luftzuge; die Hände auf dem Rücken gekreuzt, lehnte sie gegen die Fensterbrüstung. Wie ein reifer, rotwangiger Apfel lächelte ihr frisches, rundes Gesicht unter der Morgenhaube hervor.

Sie galt trotz ihrer dreißig Jahre im Dorfe immer noch als die erste Schönheit. Und wenn man unter Schönheit nichts Anderes versteht als Gesundheit, Fülle und Kraft, so mußte man dem Geschmack dieser ländlichen Preisrichter beipflichten. Besonders wenn sie lachte, die Pracht ihrer Zähne entwickelte – auf jeder Seite ihres runden Kinnes erschienen dann ein paar allerliebste Grübchen – hatte sie etwas ungemein Frisches und Anmutiges.

Eben ging der Sohn des Bauern Finke am Gartenzaun vorüber, mit grauer Joppe und blauen Beinkleidern. Er war Freiwilliger gewesen, und hielt etwas auf sein Äußeres. Der gutgewachsene junge Mann rief der Witwe einen »guten Morgen« zu und lachte dabei über das ganze sonnenbraune Gesicht. Die Pastorin lächelte ihm freundlich zu und rief: »Schönes Erntewetter heute!« Mit Wohlgefallen sah sie der kräftigen Männergestalt nach, bis der Bauernsohn hinter der Hecke verschwunden war.

Dann trat sie an Gerlands Schreibtisch. Richtig, da hatte er endlich einmal den Schlüssel stecken lassen; darauf lauerte sie schon lange. –

Noch einen Blick warf sie hinaus in den Gang; sie hörte das Mädchen unten in der Küche hantieren. Behutsam schloß sie die Thür und kehrte zum Schreibtisch zurück.

Zunächst öffnete sie das Mittelfach; da war nicht viel drin, was sie interessierte. Manuskripte von Predigten, Niederschriften zu homiletischen Übungen, Exegesen und dergleichen. In dem linken Fache, an das sie sich nunmehr machte, fand sie Gebetbücher und einige Zeichenhefte aus der Schulzeit. Auch diesen Gegenständen konnte die Witwe nicht viel Geschmack abgewinnen. Mit großer Vorsicht legte sie jedes Stück, nachdem sie es geprüft, genau in die alte Lage zurück.

Nun kam das rechte Fach an die Reihe; da endlich fand sie, was sie gesucht: Briefe.

Die grauen Augen der Frau leuchteten auf, ihre Nasenflügel erweiterten sich; sie nahm die Bogen heraus und begann zu lesen. Sie war auf alte Familienbriefe gestoßen, von den verstorbenen Eltern und Schwestern des Geistlichen. Da war nichts Pikantes. Sie gab diese Lektüre nach einiger Zeit auf und grub weiter.

Jetzt stieß sie auf ein Paket grünfarbener Bogen, die von einem blauen Seidenbändchcn zusammengehalten wurden. Hier witterte sie Interessantes. Mit geschickter Hand löste sie das Bändchen. Die Briefe waren sämtlich von einer Hand geschrieben, und trugen die Unterschrift »deine treue Cousine Katharina«. Auch hier wartete der Frau Pastorin eine Enttäuschung. In den Briefen wurden hauptsächlich religiöse Fragen in sehr eingehender Weise erörtert. Mit verächtlicher Miene schnürte sie das Packet wieder zusammen.

In einer Ecke lagen Photographieen, auch nur Porträts von Verwandten; unter dem Bilde eines älteren Mädchens stand mit verblichener Tinte: Katharina.

Dann stieß die Witwe auf eine Anzahl Gedichte, offenbar aus früherer Zeit; aber auch diese hatten nur religiösen und philosophischen Inhalt. Die Pastorin schloß mit enttäuschter Miene die Fächer wieder zu.

Auf der Platte lag die Briefmappe. »Tagebuch« war die Aufschrift eines dünnleibigen Heftchens.

Die Pastorin las. Die ersten Seiten behandelten Gerlands Ankunft in Breitendorf und seine ersten Eindrücke. Auch die Witwe des Amtsvorgängers hatte Erwähnung gefunden. Mit verhaltenem Atem las sie folgende Worte: »Pastorin Menke macht den besten Eindruck, rührend in ihrer Witwentrauer und echtem Schmerz um den Verstorbenen.« Die Frau lachte laut auf.

Neugierig forschte sie weiter in dem Manuskripte; vieles blieb für sie unverständlich. Anspielungen, Citate, lateinische und griechische Brocken waren nicht selten.

Zu ihrem Staunen fand sich Doktor Haußners Name öfter in dem Heftchen.

Auch das letzte, was Gerland geschrieben hatte, betraf Doktor Haußner. Die Pastorin ersah daraus, daß er bei dem Arzte gewesen sei. Sie las: »Endlich Doktor Haußner persönlich kennen gelernt. Bittere Enttäuschung! Er setzte meiner werbenden Liebe kalte, schneidende Gleichgiltigkeit entgegen; und doch kann ich den Menschen nicht hassen. Hinter dieser hohen Stirn schlummert manches Geheimnis. Ich fürchte, für mich ist er nun auf alle Zeit verloren. Aufdrängen will und kann ich mich nicht! Es ist uns gesagt, daß wir die Perle nicht vor die Säue werfen sollen; und doch, sollte der Herr nichts Besonderes vorhaben mit mir und diesem Manne? Wie kommt es, daß ich mit der Tochter am Lager der kleinen Christel zusammentreffen mußte? Zufall giebt es nicht; alles ist vorhergesehen. Es kommt nur darauf an, die höheren Winke recht zu verstehen.« –

Kopfschüttelnd las die Witwe diese Zeilen.

Jetzt ertönte vom Garten herauf, durch das offene Fenster ein knarrendes Geräusch. Die Frau horchte auf; das war die Gartenthür. Schnell legte sie das Tagebuch in die Mappe, dann schlich sie zum Fenster und lugte vorsichtig hinab.

Eine lange, hagere Gestalt wurde auf dem Gartenwege sichtbar; das war ja nur der Kantor. Völlig beruhigt trat sie ans Fenster und rief: »Wenzel – heda, Wenzel!«

Der Kantor blickte suchend am Hause empor, die Hand über die Augen haltend, gegen die Sonne. Als er das Gesicht der Pastorin am Fenster erkannte, zeigte er lachend seine schlechten Zähne.

»Ich wollte zum Pfarrer.«

»Der ist nicht zu Hause.«

Sie winkte ihm bedeutungsvoll.

In der Hausflur kam sie ihm entgegen. »Die Luft ist rein,« meinte sie, »willst du frühstücken?«

Er hatte nichts dagegen einzuwenden.

»Geh nur derweile rauf; ich mache dir was zurecht. Vor zwei Stunden kommt er nicht zurück.«

Wenzel hatte nicht lange zu warten. Auf einem Brett brachte sie Butter, Brot, kaltes Fleisch, Käse und eine Weinflasche herbei. Sie setzte das Brett vor ihn auf den Tisch, dann hielt sie ihm die Flasche dicht vor die Augen: »He, du, was ist denn hier drin – he?«

Er griff hastig nach der Flasche, zog den Stöpsel mit den Zähnen heraus und roch in den Hals. Nach kurzem Prüfen erklärte er: »Tokayer.« Seine dunklen Augen blinzelten lüstern.

»Riecht's der Kerl richtig!« meinte sie und schenkte ein.

Er schlürfte das Glas hinter, ohne abzusetzen, und leckte sich dann die Lippen. Sie beobachtete ihn mit verschränkten Armen, dabei stehend, voll Vergnügen.

»Danke dir, Julie,« sagte er und griff nach ihr mit seinen langen, mageren Armen, um sie zu umfassen. Sie wich, ohne Entrüstung zu zeigen, ein wenig zurück. Als er noch weiter zudringlich wurde, brachte sie den Tisch zwischen sich und ihn.

»Iß nur jetzt! Nachher setzt's noch ein Glas.«

Er fing an, einzuhauen. Während des Essens ließ er seine unruhig leuchtenden Blicke auf ihrer Gestalt herumkreuzen.

Mit vollen Backen kauend, fragte er nach Gerland. Die Witwe begann sofort allerhand auszukramen; sie machte sich weidlich über den Geistlichen lustig. Alle Welt betrog ihn und hatte ihn zum besten, meinte sie; er sei aber auch gar zu dumm.

»Na, das wird alles besser werden,« meinte der Kantor, »wenn er erst wird geheiratet haben.«

»Heiraten – wen denn?« fragte sie hastig.

»Nun, dich – natürlich. Wen denn sonst?«

Die Witwe warf dem Lehrer ein kräftiges Schimpfwort an den Kopf.

Wenzel lachte kauend in sich hinein: »Na, du nähmst ihn doch gleich, Julie, wenn er dich fragte.«

Sie drohte ihm jetzt, ernstlich erzürnt, mit Ohrfeigen. Er erkannte, daß er den Spaß nicht weiter treiben dürfe und aß schmunzelnd weiter.

»Weshalb bist du denn eigentlich gekommen?« fragte sie nach einiger Zeit. Wegen der besprochenen Entwässerung des Pfarrgartens, erklärte er. Der Kirchbauer habe sich zu einem Vertrage verständigt, den er zur Unterschrift mitbringe.

Der Kantor hatte inzwischen aufgeräumt, was ihm von Eßbarem vorgesetzt worden war. Er schielte nach der Flasche, die am anderen Ende des Tisches stand, und als die Pastorin immer noch nicht Miene machte, ihm einzuschenken, erhob er sich in seiner ganzen Länge und griff danach. Blitzschnell fuhr sie dazwischen und schlug ihm auf die Hand. »Warte, du Racker!«

Er legte sich aufs Betteln.

»Nein, du hast mich geärgert vorhin.«

Es machte ihr Vergnügen, ihn zappeln zu lassen; sie trieb ein richtiges Spiel mit ihm, zeigte ihm die Flasche und versteckte sie, wenn er danach griff, geschickt hinter dem Rücken. Er geriet in immer größere Gier, seine Augen funkelten, sein Faungesicht verfärbte sich, auf den Backenknochen erschienen rote Flecken, Schweiß stand ihm auf der Stirn, mit den feuchten Lippen machte er unbewußt in einem fort die Bewegung des Kostens. Der Anblick, wie dieser hagere, kahlköpfige Geselle um sie herumsprang, schien die Witwe aufs höchste zu amüsieren.

Es gelang ihm nicht, die Flasche zu erlangen; da veränderte er seine Methode. Er begann zu flehen und zu schmeicheln, wie ein Hündchen, sagte ihr die kräftigsten Schmeicheleien und wurde zärtlich.

Damit gewann er sie endlich. Sie schenkte ihm ein; gierig goß er das Glas hinter. Sie stöpselte die Flasche sorgfältig zu und räumte das Geschirr weg.

»Bezahl's Gott, Julie! Und sage dem Herrn Pastor meinen Dank,« meinte er spöttelnd. »Ich werde ein andermal wiederkommen, wegen der Drainage.« Er wollte sich entfernen.

»Du, Wenzel, erst muß ich dir noch was Interessantes zeigen,« rief sie, und begab sich nach Gerlands Schreibtisch, wo sie die Mappe zur Hand nahm und öffnete. »Hier ist sein Tagebuch.«

»Sein Tagebuch? Was du nicht sagst!«

Wenzel setzte sich eine stählerne Brille auf die gerötete Nase und nahm das Heftchen vor die Augen.

Er las, hin und wieder in einen Ausruf der Überraschung ausbrechend, oder den Kopf schüttelnd: »›Ich will diese armen Verkommenen einem höheren, sittlichen und geistlichen Ideale zuführen.‹ – Redensarten! Höhere sittliche und geistliche Ideale in Breitendorf? Ich habe dreißig Jahre in Breitendorf zugebracht. Ich kenne das.« Kantor Wenzel lachte ingrimmig in sich hinein und saß eine Weile nachdenklich da.

»Er ist Idealist,« fuhr er fort. »Über den Unterricht hat er auch solche unpraktisch verrückten Ideen. Ich soll die Kinder mehr in den Geist des Christentums einführen, mit dem bisherigen Schematismus im Katechismusunterricht muß gebrochen werden. Das Auswendiglernen soll ersetzt werden durch Verstehen und Fühlen – und was dergleichen schöne Worte mehr sind. – Wir wollen uns mal nach einem Jahre wiedersprechen, – wollen mal hören, was die Schulkommission dazu sagen wird, zu derartigen Mätzchen. Er wird gehörig mit dem Kopfe an die Wand rennen, dann wird sich sein Eifer schon etwas abkühlen.« –

Wenzel schob die Brille zurecht und las weiter; plötzlich lachte er laut auf: »Nein, das ist kostbar!« Er lachte so übermäßig, daß ihm die Brille auf die äußerste Spitze der großen Nase rutschte.

»Was hast du denn?«

»Hier, was er über dich schreibt: Pastorin Menke macht den besten Eindruck. Rührend in ihrer Witwentrauer und echtem Schmerz um den Verstorbenen, und so weiter. – Das ist ja kostbar!« Und er fuhr in seinem ausgelassenen Gelächter fort.

»Halt's Maul!« rief sie ihm ärgerlich zu.

»Du, Julie – das ist zu kostbar!« und er platzte von neuem los.

»Warte nur übrigens, du! Über dich steht auch was drin, aber nicht gerade was Gutes.« Damit nahm sie ihm das Heft aus der Hand und begann nachzublättern.

»Wo denn – wo steht was über mich?«

Sie hatte inzwischen die betreffende Stelle gefunden.

»Kantor Wenzel. – Wenzel kommt mir vor, wie ein Baum, der anstatt ein edler Stamm zu werden, ein Gestrüpp geworden ist. Ewig schade um so viel vergeudete Anlagen! Mir ahnt, daß die Verhältnisse viel an dem Manne verschuldet haben, am Ende ließe sich auch aus solchem Holze noch ein Werkzeug schnitzen, wenn auch kein Balken.« –

Der Kantor war während des Lesens erbleicht, die Blätter zitterten in seinen Händen. Jetzt war es an der Pastorin, zu lachen. Er saß da, unruhig und verlegen; eine wunde Stelle schien berührt zu sein bei ihm.

»He, was sagst du nun – he?«

»Kommt noch mehr über mich?« fragte Wenzel und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Über Doktor Haußner schreibt er noch allerhand. Du – übrigens den hat er besucht, denke mal! Er ist bei ihm gewesen; ich glaube, er hat's auf die Tochter abgesehen. Was meinst du?« fragte sie mit lauernder Miene.

Wenzel hörte nicht auf ihre Reden; er las die Stelle noch einmal durch, die von ihm handelte. Er wurde abwechselnd bleich und rot, und der feuchte Schimmer seiner Augen verstärkte sich. In nervöser Hast durchblätterte er das Manuskript, sein Auge blieb auf der bewußten Stelle haften.

»Na, nun gieb's aber endlich mal her!« meinte die Witwe ungeduldig. »Er kommt uns womöglich noch über den Hals.« – Und nach dem Chronometer blickend: »Es ist schon ein Uhr.«

Sie legte das Heftchen in die Mappe, und diese auf ihren alten Platz zurück.

Es war die höchste Zeit; gleich darauf ging die Gartenthür.

»Schnell 'runter ins Haus, Wenzel! Er kommt.«

Der Kantor stolperte die Treppe hinab. Im Hausflur stehend, empfing er den Geistlichen, der gleich darauf eintrat.

»Sie haben auf mich gewartet, Kantor; das thut mir leid,« meinte Gerland und bat ihn, ins Expeditionszimmer zu treten.

Das eigentümliche Wesen des Lehrers fiel Gerland auf. Wenzels Hände zitterten. »Fehlt Ihnen etwas, Lieber?« fragte er teilnehmend.

Wenzel verneinte und brachte die Angelegenheit, in der er gekommen war, zur Sprache.



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