Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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XII.

Der reichste Mann im Dorfe, der Großbauer Finke, hatte das Zeitliche gesegnet. Er war ein Bauer von der alten Art gewesen; am Werkeltage trug er Lederhosen, am Sonntag den schwarzen Rock und die bunte Weste, nur einmal in der Woche rasierte er sich, am Sonntag Abend. Er scheute sich nicht, wenn Not am Mann war, selbst hinter dem Pfluge herzugehen, und bis zu seinem letzten Jahre ließ er sich's nicht nehmen, an der Spitze einer langen Reihe von Knechten und Mägden als erster ins Korn zu hauen.

Sein ältester und einziger Sohn war von ganz anderem Schlage.

Der junge Finke ließ sich nicht Bauer nennen, sondern beanspruchte den Titel: Ökonom. Er hatte als Freiwilliger gedient – daß er nicht zum Gefreiten befördert worden, verhinderte ihn nicht, die Manieren des Offizierstandes schlecht zu kopieren – hielt sich ein Reitpferd, trug Stege an den eng anliegenden Beinkleidern, verachtete alle Handarbeit als nicht standesgemäß, und verbrauchte in einem Jahre mehr für Wein und Cigarren, als der alte Finke in seinem ganzen Leben für Knaster und dünnes Bier ausgegeben hatte.

Natürlich konnte sich dieser moderne Bauer mit dem altmodischen Vater nicht vertragen. Sie hatten getrennte Wirtschaft geführt – der Sohn auf einem kleineren Gute, das er von der Mutter ererbt. Dort führte er mit seiner jungen Frau, Krämerstochter aus der Stadt, ein für Breitendorfer Verhältnisse äußerst luxuriöses Leben.

Als echter Bauer ließ sich der alte Finke keinen Arzt an den Leib kommen. Dafür hatte die Besprechfrau Tonchen, die schon manchen in Breitendorf und Umgegend vom Leben zum Tode befördert, ihre Künste an ihm versucht. Der Erfolg war denn auch, daß eines Morgens die Großemagd, als sie ihrem Herrn die gewohnte Morgensuppe brachte, den alten Mann kalt im Bette vorfand.

Gerland war bereits mehr als einmal auf die Thätigkeit dieser »Tonchen« – wie sie im Volksmunde allgemein hieß – aufmerksam geworden. Die Leute wandten sich mit Vorliebe an die ehemalige Hebamme, der die Konzession entzogen worden war. Daß sie mit der Behörde in Konflikt geraten, gab ihr bei der Dorfbevölkerung einen besonderen Nimbus. –

Der alte Finke-Bauer war also gestorben, und der Sohn und Erbe ließ es an einer prunkhaften Bestattung nicht fehlen.

Es gab »ene gruße Leiche.« Von allem soviel wie nur irgend möglich: Singechor, Glockenläuten, Leichenpredigt und Grabrede, Vorlesung des Lebenslaufes, Intonation mit Responsorium und Kollekte. Der Sohn schien, als er das Begräbnis beim Pfarrer bestellte, zu bedauern, daß die Agenda nicht noch mehr Ehren aufweist.

Der Geistliche war per Wagen abgeholt und nach dem Trauerhause gefahren worden. Dort herrschte keineswegs die Ruhe, die man in der Nähe einer Leiche erwartet; vielmehr vernahm Gerland schon beim Einfahren in den Hof lautes Stimmendurcheinander und Lärmen.

Der junge Finke kam ihm aus dem Hause entgegen, die breite Bauernfigur in einen neuen schwarzen Anzug von städtischem Schnitt gezwängt. Seine Versuche, die übliche Trauermiene mit den Formen des gastfreien Wirtes zu verbinden, fielen nicht besonders glücklich aus. Nach einigen angelernten, heute wahrscheinlich schon oft verwendeten Redensarten, daß es Gott also gemacht und wir Menschen uns in seinen unerforschlichen Ratschluß zu fügen hätten, forderte er den Geistlichen auf, zunächst eine Kleinigkeit anzunehmen. Was er darunter verstehe, wurde Gerland alsbald klar, als er den Geruch von Speisen und Getränken wahrnahm, der das ganze Haus erfüllte. Überall im Flur und den Wohnzimmern saßen und standen essende und trinkende Leute umher. Der Leichenschmaus war in vollem Gange, in das laute Stimmengewirr hinein klirrten Messer, Gabeln und Gläser. Eine Magd stürmte pantoffelklappernd an Gerland vorüber, in der Hand eine eben geöffnete Champagnerflasche, deren emporschäumenden Inhalt sie mit krampfhaft aufgepreßtem Daumen zurückzuhalten versuchte. Durch eine halboffene Thür erblickte der Geistliche für einen Augenblick den kahlen Kopf und die große Nase Kantor Wenzels, der mit kauenden Backen, die lange hagere Figur über einem Teller zusammengebrochen, dasaß und schlang.

Der junge Finke wollte den Geistlichen in ein besonderes Zimmer führen, wo, wie er sich ausdrückte, »die feineren Herrschaften« säßen. Aber Gerland erklärte, er danke. »Sie werden mir das doch nicht anthun, Herr Pfarrer!« rief der junge Mann, der, wenn er sich zusammennahm, leidlich hochdeutsch sprach. »Der frühere Herr Pastor hat das Frühstück niemals abgewiesen bei solchen Gelegenheiten.« –

Gerland lehnte aufs bestimmteste ab; er fragte, wo die Leiche aufgestellt sei.

Mit der Feier habe es ja Zeit bis nach dem Frühstück, meinte der Sohn des Verstorbenen.

Gerland fühlte, daß es hier gelte, ein Prinzip durchzusetzen. Er erklärte, er sei nicht gekommen, um zu frühstücken: er werde sich, bis man damit fertig sei, im Freien ergehen.

Der junge Finke machte noch einige Anstrengungen, ihn von diesem Vorsatze abzubringen. Schließlich meinte er in beleidigtem Tone: »Übrigens, Sie brauchen sich nicht zu ekeln, Herr Pastor, wir werden Ihnen nichts Schlechtes vorsetzen.«

Gerland verließ nichtsdestoweniger das Haus, und ging im Hofe auf und ab, in welchem die zahlreichen Wagen der Trauergäste standen.

An den Fenstern erschienen neugierige Köpfe; er wußte, daß sein Thun kein geringes Aufsehen errege. Das war für den Augenblick unangenehm und doch freute er sich, seinem Vorsatze treu geblieben zu sein. Nur durch das Beispiel konnte man gegen solche Roheit ankämpfen. –

Der junge Bauer kam wieder heraus. Es sei nun so weit, meinte er. Er ließ es den Geistlichen deutlich merken, daß er gekränkt sei. Wenn er das gewußt hätte, bemerkte er hämisch, würde er freilich nach einem anderen Geistlichen geschickt haben. Gerland würdigte diese Impertinenz keiner Antwort und schritt zur Leichenfeier. –

Auf dem Wege zum Kirchhofe überfiel sie Regen. Kalter Wind schlug dem Geistlichen den nassen Talar an den Leib. Unter strömendem Regen zog man langsam durchs Dorf; vor dem Sarge, geführt von Kantor Wenzel, marschierten die Schulkinder mit Kruzifix und Gesang.

Gerland war tief verstimmt. Das Wetter schien so recht zu seiner Stimmung zu passen. Während der Grabrede und der langen Kollekte drang ihm die Kälte bis in die Knochen.

Ins Pfarrhaus zurückgekehrt, kleidete er sich zähneklappernd um. Später, als der Frostzustand sich nicht legen wollte, bat er die Pastorin, ihm eine Tasse Thee zu bereiten.

Die Witwe hatte der Feier auf dem Kirchhofe beigewohnt. An einigen Bemerkungen, die sie fallen ließ, merkte er, daß sie über das Vorkommnis im Trauerhause bereits unterrichtet sei.

Sie meinte, Gerland habe nicht weise daran gethan, den Leichenschmaus abzulehnen. Der junge Finke sei aufs tiefste gekränkt und auch die Gäste hätten ihr Befremden ausgesprochen. Ob sie nicht gut genug für ihn seien, hätten sie gefragt; allgemein habe man sein Verhalten als Hochmut ausgelegt.

Mit der unbefangensten Miene lächelnd, teilte sie ihm all dies mit, bis es Gerland schließlich zuviel wurde. Er erklärte, daß es ihm völlig gleichgiltig sei, was diese Art von ihm dächte. –

Dann setzte er sich an sein Schreibpult, aber sehr bald mußte er das Arbeiten bleiben lassen. Der Schüttelfrost wurde ärger, heftiger Kopfschmerz und Übelkeit gesellten sich dazu. Er legte sich zu Bett, und verbrachte eine schlechte Nacht.

* * *

Als er früh den Versuch machte, sich zu erheben, vermochte er vor Schwäche nicht auf den Beinen zu stehen; er begriff, daß die Sache ernsterer Natur sei.

In Breitendorf selbst war kein Arzt. Vor Jahren hatte sich zwar ein frisch von der Universität gekommener junger Mediziner im Orte niedergelassen, aber es war ihm nicht gelungen, sich eine Praxis zu begründen. Er konnte nicht aufkommen gegen den Einfluß der alten Tonchen, die mit Besprechen und Sympathie die Leute behandelte. So räumte denn der junge Mann bald wieder das Feld.

Der nächste Arzt war Doktor Herzner in Färbersbach, den Gerland durch Pastor Dornig kennen gelernt hatte. Es knüpften sich nicht gerade die angenehmsten Erinnerungen für ihn an jene Tischgesellschaft in Färbersbach – die Blasphemieen des jungen Arztes waren Gerland noch gut im Gedächtnis. Nur mit Widerwillen dachte er daran, seine Hilfe anzurufen.

Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Bis zur Kreisstadt war es weit, und so entschloß er sich denn, einen Boten nach Färbersbach zu Doktor Herzner abzuschicken.

Inzwischen pflegte ihn die Witwe; ihr Eifer wurde ihm beinahe zu viel. Sie legte ihm wiederholt die Hand auf die Stirn, fühlte ihm den Puls und wollte ihn bequemer betten. Beständig hielt sie sich in seiner Nähe. Er machte Andeutungen, daß er allein sein wolle, die sie wohl hätte verstehen können; sie blieb, und er fühlte sich zu schwach, um etwas dagegen zu thun.

Das Fieber stieg. Es ward ihm unleidlich warm im Bette; die Anwesenheit der Frau zwang ihn, sich zugedeckt zu halten. Zeitweise verfiel er in Halbschlaf; wenn er aufwachte, sah er sich erstaunt um. Warum kam nur der Arzt nicht? Er versuchte es, sich wach zu erhalten, indem er seine Gedanken auf einen bestimmten Gegenstand fixierte, aber sie entschlüpften ihm, oder arteten in abenteuerliche Phantasieen aus.

Die Pastorin war nicht mehr im Zimmer.

Ja, diese Pastorin! Was für ein sonderbares Wesen! Man konnte nicht aus ihr klug werden. Wie sie ihn vorhin angelächelt hatte. – Wie lange dauerte eigentlich ihre Gnadenfrist noch? Er rechnete, zählte die Wochen und Monate, kam aber nicht damit zu Stande, – Schlaf hielt ihn schon wieder gefangen.

Er träumte: in einer Hängematte liege er, und blicke in den Himmel. Ganz deutlich sah er das Himmelsblau und eine Menge kleiner weißer Wolken darüber hinweghuschen. Er hielt Kants Kritik der reinen Vernunft in der Hand und wollte lesen; es war einer seiner Bände, in marmoriertem Papier mit braunem Lederrücken, auf dem die goldenen Buchstaben schon halb verwischt waren. Auf einmal hörte er eine Stimme an seinem Ohre flüstern. Er wandte sich erstaunt um. Eine Dame stand neben ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn, sie war merkwürdig gekleidet: Arme und Hals entblößt, fertig zum Balle, wie's schien. – Sie lächelte; an diesem Lächeln erkannte er sie wieder. Er sah ihre Augen und ihre weißen Zähne plötzlich dicht vor seinem Gesichte, als sei sie ein Raubtier, dem es nach seinem Fleische gelüste. Mit einem Schreie fuhr er auf und fand sich in seinem Bette sitzend – allein.

Welch ein Traum!

Er war ziemlich klar bei Sinnen und grübelte dem Geträumten nach. Beunruhigt warf er sich im Bette hin und her. Es war beinahe dunkel geworden. Jetzt glaubte er Stimmen zu vernehmen, er spannte – unten im Garten sprach man. Die Witwe war dabei, soviel konnte er heraushören. Er vernahm, wie sie kicherte – ihr wohlbekanntes helles Kichern. – Was gab es nur da unten, daß man sich so belustigte? –

Wieder dämmerte er ein wenig ein, dann erweckte ihn ein Geräusch im Zimmer. Die Witwe war eingetreten.

»Ist der Doktor da?«

»Nein!«

»Wer war denn eben unten?«

»Vorhin? – Ach das war nur der Kantor. Er hatte gehört, der Herr Pastor sei nicht wohl, und kam her, um sich nach dem Befinden zu erkundigen.«

›Merkwürdig, dabei mußte so gelacht werden‹, dachte Gerland bei sich. Wenzel! Er sah ihn, wie er sich ihm zuletzt eingeprägt hatte, bei dem Leichenschmause, über dem Teller hockend schlingen. Wenzel! – Und wieder schwanden ihm die Gedanken. –

Als er das nächste Mal aufwachte, standen zwei Gestalten an seinem Bette. Es bedurfte einiger Zeit, bis er herausgefunden hatte, wer diese Männer in dunklen Überziehern seien.

In dem jungen Menschen, der näher stand, erkannte er den Färbersbacher Arzt; die andere gedrungene Gestalt, die sich gegen das helle Fenster abhob, schien Dornig zu sein. Die Witwe war auch nicht fern. Man unterhielt sich im Flüstertone. Eine Nachtlampe brannte im Zimmer. Die Pastorin erzählte Gerlands Krankheitsgeschichte in ihrer Art, mit starken Übertreibungen.

Gerland verdroß ihre Wichtigthuerei. Doktor Herzner schien zu bemerken, was den Kranken störe; er bat die Pastorin doch eine Wassersuppe für den Patienten herzustellen.

Die Witwe entfernte sich, Dornig trat jetzt an das Bett. »Na, was machst du denn für Geschichten, alter Junge!« rief er mit einer Stimme, die den ganzen Raum erfüllte.

»Bitte, nicht so laut, Pastor Dornig!« meinte der Arzt. »Sie sind hier nicht auf der Kanzel.«

Dornig lachte dröhnend. »Na, Sie thun ja wirklich, als ob's bereits zum letzten ginge. Aber das macht ihr Ärzte ja immer so, um hernachen mit euren Wunderkuren zu prahlen.«

»Sie irren sich, Pastor Dornig, wir sind es nicht, die mit Wundern manipulieren.«

Dornig war durch die schnelle Antwort des Arztes etwas aus dem Texte gebracht. »Was wird's denn weiter sein, als ein bißchen Schnupfen,« meinte er.

»Mehr ist es doch; wenn auch von Lebensgefahr keine Rede ist.«

»Ich hoffe, er übersteht's, obgleich er Sie zum Arzte hat.« – Dornig lachte weidlich.

Der Arzt zeichnete nicht weiter auf ihn und beschäftigte sich mit dem Patienten.

Dornig setzte sich neben das Bett. »Du hast ja da wirklich eine famose barmherzige Schwester! – Das muß ich sagen, von der ließe ich mich auch gleich pflegen.«

»Irritieren Sie doch den Kranken nicht,« raunte ihm der Arzt zu. Dornig kicherte.

»Werde ich am nächsten Sonntag predigen können?« fragte Gerland nach einiger Zeit.

»Auf keinen Fall! Sie müssen sich halten; unter acht bis vierzehn Tagen lasse ich Sie nicht hinaus.«

Gerland seufzte.

»Herr Pastor Dornig wird sich gewiß ein Vergnügen daraus machen, Sie in Ihren Amtsgeschäften zu vertreten,« meinte der Arzt mit diabolischem Lächeln. Dornig erklärte, er habe gerade genug in seiner eignen Parochie zu thun. –

Nachdem der Arzt Verhaltungsmaßregeln gegeben, entfernte er sich und nahm auch Pastor Dornig mit fort.

* * *

Am meisten Sorge bereitete Gerland der Gedanke, daß sein Amt für längere Zeit unversorgt bleibe. Er hatte dem Ephorus pflichtschuldigst seine Erkrankung gemeldet. Die Order kam zurück, daß der Kantor am nächsten Sonntage lesen möge.

Dem jungen Geistlichen war der Gedanke peinlich. Wenzel, dem Reinheit und Würde so gänzlich abgingen, an geheiligter Stätte lesend, das erschien ihm wie Entweihung. Er sann nach, was zu thun sei, damit die Gemeinde das Gotteswort, von einem berufenen Diener vorgetragen, nicht entbehre. Seine Gedanken blieben bei Polani haften; der mußte Hilfe schaffen. In Annenbad waren ja zwei Geistliche – einer von ihnen konnte füglich die Vertretung übernehmen.

Er schrieb, im Bette aufsitzend, mit zitternder Hand ein Paar Bleistiftzeilen, und ließ den Brief durch ein Schulkind nach Annenbad befördern.

Antwort kam zurück: Diakonus Fröschel werde am Sonntag herüberkommen und die Predigt halten. Außerdem brachte das Botenkind ein Körbchen mit, in welchem Weintrauben eingepackt waren – eine Aufmerksamkeit der Pastorin von Annenbad, die ihm gute Besserung wünschen ließ.

Der Sonntag kam heran. Gerland hätte Diakonus Fröschels Predigt nur gar zu gern gehört; er hatte oft an das eigenartige Gespräch zurückdenken müssen, das er mit dem jungen Menschen gehabt. Das kleine blasse Knabengesicht mit den müden Augen und dem verbissenen Zug um den Mund war noch manches Mal vor seinem geistigen Auge aufgetaucht, seit sie sich in Annenbad gesehen hatten. Er konnte sich den Diakonus nicht recht auf der Kanzel denken.

Auch ein paar Taufen, die nicht gut aufgeschoben werden konnten, warteten nach dem Gottesdienste auf Fröschel. –

Pastorin Menke war im Gottesdienste gewesen, sie kam zu Gerland herein, den Kirchenhut auf dem Kopfe, und berichtete brühwarm über den Eindruck, den der fremde Geistliche gemacht.

Es sei nicht viel Gescheites, meinte sie. Bei der Gemeinde habe er auch keinen Anklang gefunden. »Da kann's unser Pfarrer doch ganz anders,« war die allgemeine Ansicht gewesen.

Gerland fragte die Witwe näher aus nach dem Inhalte der Predigt. Sie meinte, es wäre eben nicht Fleisch, nicht Fisch gewesen; man sei nachher ebenso klug wie zuvor. Die Moral habe gefehlt. Da hätte ihr Seliger es freilich besser gekonnt, der habe den Leuten tüchtig die Hölle heiß gemacht. Da sei aber auch Gottesfurcht dahinter gewesen und die scheine dem jungen Herrn, der heute gepredigt habe, abzugehen. Und dann sei er ja auch so ein kleiner, häßlicher Mann, meinte sie, und wollte sich ausschütten vor Lachen, über das lächerliche Gesicht und die dünne Stimme Fröschels. »Der hat uns nicht imponieren können,« schloß sie, »da sind wir's doch eben ganz anders gewöhnt.«

Gerland mußte über ihre grobe Schmeichelei lachen. Unangenehm war es ihm ja gerade nicht, zu hören, daß ihn der Fremde nicht ausgestochen habe vor seinen Pfarrkindern. –

Der Diakonus kam zwischen den Gottesdiensten ins Pfarrhaus herüber, um Gerland zu sehen und das Mittagessen einzunehmen.

Gerland dankte ihm für die Vertretung und sprach die Hoffnung aus, Fröschel ein zweites Mal nicht Herüberbemühen zu müssen – am nächsten Sonntag, hoffe er, die Kanzel wieder selbst betreten zu können. Er wollte und mußte gesund werden. Der Konfirmationsunterricht sollte beginnen, eine Kirchenratssitzung stand bevor, in der er einen längstvorbereiteten Antrag einbringen wollte. Gerland klagte bitter über die sinnlose Thorheit des Zufalls, der ihn gerade jetzt aufs Krankenlager geworfen, wo so vieles Wichtige zu beschicken war.

Fröschel, neben dem Bette sitzend, hörte dem allen mit skeptischer Miene zu.

»Sind Sie denn wirklich so für den Beruf begeistert?« fragte er.

Gerland sah ihn erstaunt an, ob dieser Frage. »Natürlich bin ich begeistert.« –

Fröschel lächelte melancholisch: »Schön, schön – wohl Ihnen!«

»Aber ich bitte Sie!« rief Gerland und setzte sich vor Eifer im Bette auf. »Das müßte doch wahrhaftig ein trauriger Geselle sein, der seinen Beruf nicht liebte. Wo gäbe es denn mehr Gelegenheit, Gutes zu stiften, als in der Stellung eines Landgeistlichen?«

»Was nennen Sie Gutes stiften?« fragte der Diakonus, und Gerland glaubte etwas wie Gereiztheit aus seinem Tone herauszuhören. »Die Leute in der Kirchlichkeit erhalten, etwa? Denn das ist doch das einzige, was wir noch erreichen können. Lächerliche Figuren sind wir geworden, wir evangelischen Geistlichen, in dieser Zeit; wie Hennen, denen die anvertrauten Entlein aufs Wasser gehen, wohin wir nicht folgen dürfen. – Die Kirche kommt mir vor, wie ein schadhafter Mehlsack, dem von allen Seiten das Mehl entweicht, und wir sind angestellt, zu halten, was doch nicht zu halten ist. Eine leidlich volle Kirche und möglichst wenig Fälle von Ungetauften und Trauungsverweigerern, die Renommierchristen auf einer hohen Präsenzziffer erhalten, das ist neuerdings das Gemeindeideal geworden. Ist denn diese Art offizieller Kirchlichkeit wirklich soviel wert, daß man die Arbeit eines Lebens daran verschwenden möchte?«

Gerland brannte die ganze Zeit über darauf, den andern zu unterbrechen. Fröschel hatte da ein Gebiet berührt, das, wie kein anderes, sein Denken beschäftigte. »Natürlich rede ich nicht von der offiziellen Kirchlichkeit. Ich verachte sie, weil sie heuchlerisch und selbstgemacht und dem wahren Geiste und Sinne des Evangeliums zuwider ist. Ja, ich hasse sie als den tödlichsten Feind. Wer seinen Lebensberuf darin sieht, diese morsche Ruine zu stützen, den bedaure ich. Aber ich dachte, es gäbe doch schließlich noch andere Aufgaben, die für den evangelischen Pfarrer zu lösen bleiben.«

»Und die wären, wenn ich fragen darf?«

»Nun – jede Art von Hilfe und Tröstung. Gerade in jetziger Zeit, wo eine neue Weltanschauung einzudringen beginnt, wo alle Stützen wanken, wo alle ratlos umhertasten, kann man Großes wirken, durch Lehre, Beispiel und Hilfe, durch Stärkung und Festigung im Glauben.«

»Jawohl, im Glauben,« meinte Fröschel und lachte bitter; »das klingt sehr gut und ist sehr leicht gesagt – und es sind eben doch nur Redensarten.«

Gerland fuhr auf, stark errötend; fast noch mehr als seine Worte reizte ihn die geringschätzige, spöttische Miene des anderen.

»Redensarten – Wie meinen Sie das! – Glauben Sie, daß ich mich mit einer Überzeugung schmücke, die ich nicht hege?«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen; verzeihen Sie, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe. Ich meinte, ganz im allgemeinen, daß wir Theologen mit Worten wie Tröstung, Festigung im Glauben und dergleichen zu schnell bei der Hand sind. Alle diese Worte sind so abgebraucht, bedeuten gar nichts mehr, weil sie über hundert heuchlerische Zungen gegangen sind. Aber sie laufen einem von selbst unter; ich weiß das aus eigner Erfahrung. Die alten Phrasen sind fadenscheinig geworden; aber man holt sie eben doch immer wieder hervor – denn Flicken und Löcher zustopfen, das ist ja unser Handwerk. – Ich will gern glauben, daß Sie es ernster meinen; Sie scheinen durchdrungen von einem Enthusiasmus, der mir leider abgeht. – Sagen Sie mir nur das eine, aber aufrichtig: haben Sie die Überzeugung, Seelen – auch nur eine Seele – für das, was wir das Reich Gottes nennen, gewonnen zu haben in Ihrer bisherigen Thätigkeit?« –

Die Frage kam unerwartet und überraschte Gerland. Er sann nach und suchte: Seelen, die er für das Reich Gottes gewonnen? Vor seinem geistigen Auge mußte die Schar der Beichtkinder Revue passieren. Wie wenige es doch im Grunde waren, die da in Frage kamen. »Seelen, für das Reich Gottes?« – Ein jugendlich anmutiges Gesicht tauchte vor seinem Gedächtnisse auf. Sollte er jenen in sein kostbarstes Geheimnis einweihen – sollte er ihm von Gertrud Haußner erzählen? –

Er verwarf diesen Gedanken ebenso schnell, wie er ihn gefaßt hatte. –

»Wer wollte sich vermessen,« meinte er, »sich solcher Erfolge zu rühmen? Man müßte ein Herzenskundiger sein, um sagen zu können, wie man mit Gottes Hilfe gewirkt. Aber eines darf ich ohne Überhebung wohl behaupten: von dem Samen, den ich hier ausgestreut, ist doch einiges aufgegangen. – Sie sollen Beispiele haben.« –

Er erzählte dem anderen von der alten Märzliebs-Hanne und ihrer Familie; auch von dem gottseligen Tode der Enkeltochter gab er Bericht. Unbewußt verlieh er der Erzählung eine Färbung, die mehr seinem Wunsche, das Behauptete zu erhärten, als der nüchternen Wirklichkeit entsprach. Die Bibelstunde und ihre Erfolge wurden nicht unerwähnt gelassen. So verrottet, wie er die Gemeinde von dem Amtsvorgänger übernommen, war sie jetzt doch nicht mehr. Er führte Kantor Wenzel an, der sich unter seinem Einflusse des Trunkes entwöhnt hatte; durch Erwähnung des Lehrers kam er auf seinen Plan, den Religionsunterricht zu verinnerlichen und zu durchgeistigen. Der Konfirmationsunterricht sollte ihm eine weitere Handhabe zur Erweckung der jugendlichen Seelen bieten. Predigt, Taufe, Trauung, Sterbelager, Grab, boten Gelegenheit, auf die Geister einzuwirken. Und wenn nur alle Möglichkeiten mit Energie ausgenutzt wurden, mußte es schließlich doch gelingen, die schlafenden Gemüter aufzurütteln, und bei Alt und Jung den christlichen Sinn neu zu beleben.

Fröschel hörte aufmerksam zu; der ironische Zug schwand um seinen Mund, ein wenig färbten sich seine gelben Wangen, seine kleinen, im Kopfe versunkenen Augen wanderten unstet hinter den Brillengläsern.

»Sie sind zu beneiden! – wirklich zu beneiden!« rief er ein über das andere Mal, in nervöser Unruhe die Hände reibend.

»Wieso zu beneiden?«

»Um Ihren Optimismus.«

»Aber, lieber Amtsbruder, können Sie denn nicht genau dasselbe thun wie ich? ›Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.‹ Sie brauchen ja nur zuzugreifen; häuserhoch wartet unser die Arbeit. Stürzen Sie sich nur einmal hinein mit Eifer; Sie werden sehen, was das für Befriedigung gewährt.«

»Ein guter Rat! Ungefähr so, als ob Sie einem Tauben den Vorschlag machten, sich an dem Gesang der Vögel zu erfreuen; das würde ihn über seine Taubheit trösten,« meinte jener bitter.

»Lieber Amtsbruder – sprechen wir nicht länger in Vergleichen und Rätseln,« sagte Gerland und versuchte besondere Herzlichkeit in Ton und Miene zu legen; »reden wir frei zu einander; eröffnen Sie sich mir doch ganz!« Er ergriff dabei Fröschels Rechte.

Aber jener entzog ihm seine Hand und rückte ab; Gerland blickte befremdet in ein verdüstertes, mißmutiges Gesicht.

Man mußte vorsichtig sein in Behandlung dieses Herrn, der, wie es schien, Teilnahme als Kränkung auffaßte und jedes Entgegenkommen mißtrauisch ablehnte. – Aufdrängen wollte sich Gerland auch nicht. Ein sonderbarer, verschlossener Geselle! aber Interesse konnte man ihm doch nicht versagen. –

Gerland lenkte das Gespräch auf ein unverfänglicheres Thema; man sprach über Bücher. Anlaß dazu gaben einige Bände, die Polani dem Diakonus zur Lektüre für Gerland mitgegeben hatte. Es zeigte sich, daß auch Fröschel die reichhaltige Bibliothek Polanis eifrig benutze. »Die bessere Hälfte dieses Herrn,« wie Fröschel die Büchersammlung seines Pastors spottend benannte.

Gerland staunte über die Belesenheit des anderen. Fröschel gestand, daß er Nächte über den Büchern zubringe. »Sie leben unvernünftig,« meinte Gerland.

»Das sagt meine Mutter auch. Aber schließlich, jeder hat seine Passion: Sie Ihren Optimismus – ich die Wissenschaft. – Wozu soll man sich denn auch schonen; es ist ja nicht der Mühe wert.«

»Sie haben eine Mutter – Sie Glücklicher!«

»Ja – wir leben zusammen.«

»Sehen Sie, nun ist es an mir, Sie zu beneiden. – Eine Mutter – wenn man seine Mutter noch hätte!«

»Wenn Sie mich einmal besuchen wollen, werde ich Sie mit meiner Mutter bekannt machen.«

»Das wird mir eine große Ehre sein.«

Sie verabredeten, daß Gerland, sobald er wieder völlig hergestellt sei, nach Annenbad herüberkommen solle. Fröschel war jetzt völlig aufgeräumt und schien seine vorige Mißstimmung überwunden zu haben.

»Eine alltägliche Frau ist meine Mutter nicht, das sage ich Ihnen im voraus.«

»Nach dem Sohne zu schließen, konnte ich das auch nicht erwarten.« –



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