Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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V.

Es war merkwürdig, die Leute schienen zu ahnen, wie interessant Doktor Haußner und seine Tochter dem jungen Geistlichen seien; in seiner Gegenwart kam das Gespräch stets auf dieses Paar. Es mußte wohl einen ganz besonderen Kitzel bereiten, dem Pfarrer gegenüber von dem Dissidenten und seiner ungetauften Tochter zu sprechen.

Die Urteile lauteten sehr verschieden. Manche spuckten aus, wenn sie den Arzt erwähnten – als sei er der Gottseibeiuns in eigner Person – andere nahmen ihn in Schutz und rühmten ihm allerhand gute Eigenschaften nach. Besonders bemerkenswert war Gerland das Urteil eines älteren, besonnenen Mannes aus dem Dorfe, das dahin lautete: Doktor Haußner sei ein besserer Mensch als viele andere, und an seinem Zwist mit der Kirche sei niemand anders schuld, als Pastor Menke selbst.

Die Pastorin-Witwe war eine von denen, die keinen guten Faden an Haußner ließen. Sie geriet stets in moralische Entrüstung, wenn sie von ihm sprach. Es gab keine Schändlichkeit, die sie dem Arzte nicht nachgesagt hätte; für die Tochter hatte sie überhaupt keine andere Bezeichnung als: »der Heidenbalg«. Auch heute erging sie sich wieder in den wildesten Schmähungen über Vater und Tochter.

Gerland gab nicht allzuviel auf ihre Reden; er hatte lange genug mit ihr an einem Tische gesessen, um zu wissen, was sie in übler Nachrede über den lieben Nächsten zu leisten im stande war.

Von Haußners Charakter vermochte sich Gerland, trotz des vielen, was er über den Mann gehört hatte, kein rechtes Bild zu machen. Eines schien festzustehen, der Arzt war kein Durchschnittsmensch; dafür sprach schon der außergewöhnliche Gang seines Lebens.

Das meiste und zuverlässigste darüber erfuhr Gerland durch Kantor Wenzel.

Vor dreißig Jahren etwa war Haußner in die Gegend gekommen und hatte sich in der Kreisstadt als praktischer Arzt niedergelassen; dort verlobte er sich mit der Tochter eines reichen Holzhändlers. Er führte die Erbtochter heim, nachdem er, wie Pastorin Menkes böse Zunge behauptete, den Alten zu Tode kuriert hatte.

Der Ehe entsprossen zwei Kinder. Als das älteste der beiden, ein Knabe, schulpflichtig wurde, war es über den Religionsunterricht, den der Vater persönlich erteilen wollte, zwischen Haußner und der Kirchenbehörde zum Streite gekommen, der damit endete, daß der Arzt aus der Landeskirche austrat.

Die Pastorin Menke hatte eine andere Version, sie behauptete: Haußner habe einen so offenkundig schlechten Lebenswandel geführt und seine Frau so fürchterlich mißhandelt, daß der Superintendent sich schließlich veranlaßt gesehen habe, einzugreifen, daraufhin habe der Arzt den Geistlichen auf offener Straße insultiert. Sie fügte dann noch eine Anzahl Ungeheuerlichkeiten hinzu, die Gerland auf Rechnung ihrer offenkundigen Übertreibungssucht setzte.

Damals erwarb Haußner seine jetzige Besitzung in Eichwald. Ursprünglich war dieses Grundstück ein selbständiges Rittergut gewesen, das im Laufe der Zeit parzelliert worden war und die Rittergutseigenschaft verloren hatte. Als Haußner das Gut kaufte, standen noch die Wirtschaftsgebäude; er riß alles nieder, ließ nur das Wohnhaus stehen, an dem er umfassende Veränderungen vornahm. Die hundert Morgen, welche noch zum Hause gehörten, gab er in Einzelpacht. Mit der Zeit erwarb er noch einige angrenzende Häuschen von kleinen Leuten hinzu; auch diese ließ er niederreißen und verwandelte das ganze Terrain rings um das Anwesen in Garten.

Von der Frau des Arztes sah man wenig; sie schien leidend zu sein. Das Gerücht ging, daß Haußner sie eingesperrt halte, um sie mit Gewalt vom Kirchenbesuch und Teilnahme am Tische des Herrn fernzuhalten.

Hin und wieder, besonders zu den hohen Festen, erschien sie doch einmal in der Kirche und brachte wohl auch eines der Kinder mit. Sofort nach beendetem Gottesdienste ging sie wieder nach Eichwald zurück, um hinter dem eisernen Gitter, mit dem Haußner sein Grundstück nach der Straße zu abgeschlossen hatte, zu verschwinden.

Durch Dienstboten und andere Leute, die mit ihr in Berührung kamen, hatte sich das Gerücht verbreitet, daß bei ihr nicht alles richtig sei. Kantor Wenzel, der den Kindern Musikunterricht erteilt hatte, erklärte: die Frau habe ihm einen stillen und gedrückten, aber durchaus vernünftigen Eindruck gemacht. Während die Kinder sangen, habe er sie oft verstohlen weinen hören, besonders bei Liedern geistlichen Inhalts.

Sie stammte angeblich aus einer streng orthodoxen Familie und war in einem Herrenhuter Pensionat aufgewachsen. Mit ihren früheren Freunden und den zahlreich in der Gegend lebenden Anverwandten hatte sie seit dem Austritte des Arztes aus der Kirche keinerlei Verkehr mehr gepflegt.

Von ihrem Verhältnisse zum Gatten, nach dem Gerland mit besonderem Interesse fragte, konnte Wenzel nichts berichten, da er das Ehepaar niemals zusammen gesehen hatte.

Haußner hielt einen Hauslehrer für die Kinder, einen Teil des Unterrichts erteilte er selbst; angeblich hätten die Kinder keinerlei Religionsunterweisung erhalten. Seine Praxis hatte Haußner aufgegeben; nur in ganz besonderen Fällen ließ er sich herbei, einen Kranken aufzusuchen.

Eine Typhusepidemie brach in Breitendorf und den umliegenden Ortschaften aus. Doktor Haußner trat bei dieser Gelegenheit aus seiner Reserve heraus und widmete sich mit aller Kraft der Bekämpfung der Seuche; aber er schleppte sich den Krankheitsstoff ins eigene Haus. Seine beiden blühenden Kinder wurden ergriffen und starben im Laufe zweier Tage.

Über das, was damals hinter den verschwiegenen Mauern des großen Steinhauses in Eichwald vorgegangen sein mochte, konnte Gerland aus allerhand widersprechenden Nachrichten sich nur eine vage Vorstellung bilden. War es über den frischen Leichen der Kinder zwischen den Eltern zu einem schweren Zerwürfnis gekommen? – Mochte die unglückliche Mutter in diesem Schicksalsschlage vielleicht die strafende Hand Gottes erblickt haben? – Hatte sich durch den furchtbaren Schmerz ihr Geist verwirrt?

Ohne Hut, mit den Gebärden einer Wahnsinnigen, war sie auf der Dorfstraße erschienen, hatte die Leute unter Thränen gebeten, man möge ihren Kindern ein christliches Begräbnis gewähren.

Der Gatte war ihr nachgeeilt und hatte sie, wie die Pastorin behauptete, mit brutaler Gewalt ins Haus zurückgeholt.

Und nun war das Außerordentliche erfolgt, von dem Gerland bereits durch Pastor Dornig andeutungsweise erfahren hatte.

Am offenen Grabe der Kinder war es zum Streite zwischen dem Vater und dem Geistlichen gekommen. Den Anlaß schien eine Anspielung der Grabrede auf die religiöse Stellung Haußners gegeben zu haben. – Ein Wortwechsel zwischen Arzt und Priester war entstanden, der damit geendet, daß sich Haußner an dem amtierenden Pfarrer vergriffen hatte.

»Dafür hat er auch gesessen – drei Monate,« verfehlte die Pastorin niemals triumphierend hinzuzufügen, wenn sie auf diese Angelegenheit zu sprechen kam.

Die Frau des Arztes war über alledem tiefsinnig geworden. Etwa ein Vierteljahr nach dem Begräbnisse der Kinder wurde sie von einem Töchterchen entbunden. Sie vegetierte noch einige Jahre in einer Anstalt für Gemütskranke, gebrochen an Geist und Körper.

Haußner war damals fortgegangen aus der Gegend, das Kind hatte er mit sich genommen. Niemand konnte angeben, wo er sich in den nächsten Jahren aufgehalten haben mochte; Wenzel vermutete in der Schweiz. Sein Haus in Eichwald hatte er abgeschlossen. Das Grundstück lag einige Jahre lang völlig unbewohnt und verwahrloste.

Späterhin brachte Haußner in jedem Jahre einige Monate in Eichwald zu. Man gab sich den abenteuerlichsten Vermutungen hin, was er in der Zeit seiner Abwesenheit treibe.

In Eichwald war seine einzige Beschäftigung, den Garten wieder in Stand zu setzen. Man sah ihn in Hemdsärmeln, einen gelben Panamahut auf dem Kopfe, im Grundstück umhergehen, die Obstbäume ausputzen und in den Beeten graben. Hin und wieder nahm er Tagelöhner an, aber im übrigen ließ er niemanden sein Besitztum betreten.

Das merkwürdigste war, daß er sich um die Ernte, die er zog, wenig zu kümmern schien; was er nicht selbst verzehrte, ließ er umkommen. Das Obst verfaulte an den Bäumen, das Gemüse schoß ins Kraut. Sobald er fortging, was meistens im Spätherbste geschah, unternahmen große und kleine Diebe einen wahren Plünderungszug in das unbewachte Grundstück.

Eines Tages im Frühjahr kam er zurück und brachte ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren mit – seine Tochter.

Sie richteten sich häuslich ein, nahmen Dienstboten an; alles deutete darauf, daß sie Eichwald von jetzt ab zu ihrem stehenden Aufenthalt machen würden. Haußner nahm verschiedene Verbesserungen an Haus und Garten vor, über welche die ganze Gegend staunte. Er grub nach Wasser und stieß auch wirklich auf einen Quell, den er zu einer Wasserleitung für das Haus verwertete; darauf wurde ein Badezimmer eingerichtet. Eine elektrische Klingel, die durch das ganze Haus ging, konstruierte er sich selbst. Dann ließ er ein Warmhaus nach seinem eigenen Plane bauen. Allerhand fremdartige Gewächse, deren Samen er mitgebracht, wurden auf einem Versuchsfelde angebaut. Einen Bach, der vom Walde herab in sein Grundstück fiel, staute er an verschiedenen Stellen zu kleinen Teichen an.

Nach wie vor verkehrte er mit keiner Seele weit und breit; von den Verwandten seiner Frau, die ziemlich zahlreich in der Gegend lebten, sah er niemanden.

Kantor Wenzel mußte wohl ahnen, wie interessant dem Geistlichen jede Nachricht über Doktor Haußner sei; bei jeder Gelegenheit trug er Gerland etwas Neues über den Einsiedler von Eichwald und seine Tochter zu.

* * *

Pfarrer Gerland ging häufiger an dem Haußnerschen Grundstücke vorüber, als er es eigentlich nötig hatte. Nach Eiba hinauf gab es einen Weg durch die Felder, den der Geistliche sehr wohl kannte, aber er pflegte nichtsdestoweniger den weiten Umweg über Eichwald zu machen, immer von dem geheimen Wunsche beseelt, etwas von den merkwürdigen Bewohnern des großen Steinhauses zu sehen. Gelegentlich spielte er auch mit dem Gedanken, Doktor Haußner seinen Besuch zu machen.

Dichte Bosketts von Flieder, Goldregen und anderen Ziersträuchern deckten das Grundstück nach der Straße hin. Nur durch das schmiedeeiserne Gartenthor, das die Einfahrt versperrte, gewann man eine Aussicht auf das Haus. So oft er den Blick auch, im Vorüberschreiten, verstohlen nach dem Gebäude hatte schweifen lassen, war es Gerland doch noch nie geglückt, eine lebende Seele dort zu erkennen.

Eines Tages jedoch war ihm das Glück günstig; er näherte sich eben dem Haußnerschen Grundstücke, als ihn ein Glockenlaut von dorther stutzen machte, fast gleichzeitig that sich das Eingangsthor auf, ein junges Mädchen trat heraus auf die Straße. Gerland zweifelte keinen Augenblick, daß es die Tochter des Arztes sei. Er glaubte die Gestalt wiederzuerkennen, an der er neulich in größter Flüchtigkeit im Abenddunkel vorübergekommen war. Das Herz klopfte ihm mächtig.

Sie schritt auf der Landstraße vor ihm her, ein Körbchen in der Hand. Er beschleunigte seine Schritte und kam ihr allmählich näher, seine Augen verließen ihre Gestalt nicht, keine ihrer Bewegungen entging ihm. Ihre Kleidung prägte sich ihm mit einer Deutlichkeit ein, daß er noch nach Jahren eine bis in die kleinsten Einzelheiten zutreffende Beschreibung davon zu geben imstande gewesen wäre.

Sie war ein mittelgroßes, zierlich gebautes Mädchen. Man sah der Fünfzehnjährigen an, daß sie das Gleichgewicht ihrer in schnellem Wachstum begriffenen Gliedmaßen noch nicht recht gefunden hatte. Mit vorgebeugtem Oberkörper eilte sie hastig vorwärts, so daß Gerland Mühe hatte, ihr nachzukommen. Hin und wieder hüpfte sie auch ein paar Schritte, ihre Arme waren in beständigen pendelartigen Schwingungen begriffen. Die gelbblonde Farbe des Haares konnte Gerland an einem Zopfendchen erkennen, das zwischen den bunten Bändern ihres breiten Strohhutes hervorschimmerte. Der Hals war frei, ebenso die Arme vom Ellbogen an; Handschuhe trug sie nicht. Das buntgemusterte Sommerkleid gab ihr trotz seines einfachen Schnittes doch etwas Apartes; das Kleid ließ die Füße frei, an denen sie ein Paar starke Schnürschuhe von hellbraunem Leder trug.

Es lag etwas durchaus Jugendliches, Halbentwickeltes in der ganzen Erscheinung, in dieser vorgebeugten Haltung, den abfallenden Schultern, dem häufigen Wechseln des Ganges, den etwas eckigen Bewegungen der Arme.

Als der Weg bergab ging, bemerkte Gerland, daß sie einen Stein mit dem Fuße vor sich her kollere.

Er war ihr schließlich so nahe gekommen, daß sie seine Schritte hörte; sie machte halt und sah sich um. Naiv musterte sie den Fremdling – dann, als empfinde sie plötzlich die Ungehörigkeit ihres Benehmens, wandte sie sich schnell und ging ihres Weges weiter. Sie hielt sich jetzt besser als zuvor und unterließ das Hin- und Herspringen.

Dem Geistlichen hatten sich in der Eile ein Paar große fragende Augen in einem weißen Gesichte eingeprägt, eine zierliche Nase, eine überstehende, weichgeschwungene Oberlippe. Gerland war ein wenig enttäuscht; er hatte sich eingebildet, das Mädchen müsse schön sein. Dieses Gesicht aber war höchstens sympathisch zu nennen.

Längere Zeit schwankte er, ob er noch weiter hinter dem Mädchen hergehen solle. Wenn er sie überholte, trat die Frage an ihn heran, ob er sie grüßen dürfe.

Er wurde dieser Entscheidung überhoben. Aus dem ersten Hause von Eiba, das sie eben erreicht hatten, trat eine Frau, ein Wochenkind auf dem Arme, der Vorüberschreitenden zuwinkend: »Du, Kleene – Kleene!«

Das Mädchen machte halt.

»Kimm ock a mol rei, unsa Junga is su sihre krank.«

Das Mädchen warf noch einen schnellen neugierigen Blick nach Gerland, der ihr jetzt ganz nahe gekommen war, und lief dann auf dem schmalen Fußpfade zu der Frau, mit der sie im Hause verschwand.

Also, Doktor Haußners Tochter machte Krankenbesuche! –

Allerhand kam dem Geistlichen in den Sinn, was er über dieses Mädchen gehört: sie sei vom Vater ganz in atheistischen Tendenzen auferzogen worden, für Frauenemancipation und freie Liebe schwärme sie, hatte es geheißen.

Wenn Gerland sich das unschuldige Kindergesicht vergegenwärtigte, in das er eben geblickt, mußte er über derartige Behauptungen lächeln. Aber soviel stand fest, das Mädchen war ungetauft, und in der Kirche hatte sie auch noch niemand gesehen.

Irgend eine religiöse Überzeugung mußte sie doch haben. Ein Mädchen in dem Alter und glaubenslos – das wäre eine Monstrosität gewesen, an die er nicht glauben wollte.

Er mußte Einblick in ihren Seelenzustand gewinnen; eine Gelegenheit sie kennen zu lernen, würde sich schon finden. Er machte allerhand abenteuerliche Pläne, auf welche Weise er die Bekanntschaft erzwingen wollte. –

So kam er schließlich am Ziele seines Ganges vor dem Heinzeschen Hause an.

Die alte Märzliebs-Hanne stand vor der Thür und scheuerte mit Hilfe von Sand und Strohwisch ein Faß. Sie stand mit dem Gesichte nach dem Hause zu, ihren alten Rücken tiefgebeugt, und bemerkte die Annäherung des Geistlichen nicht.

Gerland machte einen Augenblick halt und sah ihr zu. Ihn dauerte die Alte, wie sie so dastand, trotz ihres Alters schuftend, in glühender Vormittagssonne. Die Füße der Greisin waren geschwollen, durch die glänzend gespannte Haut schimmerte bläuliches Geäder, um die spitzen Ellbogen ihrer abgemagerten Arme schrumpelte sich die braune, lederartige Haut in tausend Fältchen.

Gerland sah das alles; er hörte die Alte seufzen, und das Herz that ihm weh. ›Was wärest du wohl, wenn du in solcher Lage geboren,‹ sagte er zu sich selbst. Und der Gedanke, daß die Armut gottgewollt – eine göttliche Institution sei – konnte ihn heute nicht trösten.

Nach einiger Zeit redete der Geistliche die alte Frau an; sie fuhr herum und starrte ihn offenen Mundes mit blöden Augen an.

Gerland fragte nach dem Befinden der Enkeltochter.

»Ich dank' och schina, Herr Paster, 's gieht a Brinkel a basser. Entschuld'gen Se ack, ich kinn Se keena Hand ne gahn, se sein su beschissen.«

Der Geistliche erklärte, daß er das Mädchen besuchen wolle.

»Doe missen Se ack hinten rim kimma, heite. Mir han nämlich gescheiert. Ju! – Kimma Se ack hinten rim; 's is alles naß ein Vurderstiebel.«

Gerland folgte ihr zum hinteren Eingang. Er sah zu seinem Erstaunen, daß das Haus auf der Hinterseite noch baufälliger sei, als vorn. Der Dachstuhl schien sich gesenkt zu haben; der eine Giebel hing. Das Strohdach war moosbewachsen; man konnte es vom Erdboden aus bequem mit der Hand erreichen. Die Lehmwand zeigte Risse. Einige erblindete Fensterscheiben waren ohne Rahmen in die Wand eingelassen und schienen dazu bestimmt, das Licht vollends auszuschließen. Neben der niederen Thüre stand ein verfallenes Holzhäuschen, einem Schilderhause ähnlich, über einer offenen Grube, in der unter schillernder Decke, die Luft weit und breit verpestend, der Unrat stagnierte. –

Es war, wie die Alte gesagt hatte, das Mädchen hatte Fortschritte gemacht in der letzten Zeit. Ihre mageren Wangen zeigten einen Schimmer von Farbe, die großen dunklen Augen waren frei von fieberischem Glanze und hatten einen ruhigen Ausdruck. Es fiel dem Geistlichen auf, daß das Lager der Kranken sauberer sei, als früher. Es war ein frisch überzogenes Kopfkissen da, das er sich nicht entsinnen konnte, vordem gesehen zu haben. Die Kranke selbst trug ein Hemd von tadellos weißer Farbe.

Gerland wollte nicht fragen, woher das alles stamme; er hatte hin und wieder eine Unterstützung aus der eignen Tasche gegeben, die wohl in dieser Weise ihre Verwendung gefunden haben mochte.

Das außerordentlichste aber blieb die Genesung des Mädchens. Fast ein Wunder schien es. Dieses Kind, das er eine sichere Beute des Todes geglaubt, war dem Leben zurückgewonnen.

Die Frau erzählte voll Eifer, wie sich der Appetit ihrer Enkelin von Tag zu Tag steigere.

Auch heute wieder gab sie es dem Geistlichen zu hören: er und niemand anders habe das Kind gesund gemacht. Gerland wehrte ab; er wies auf den Herrn über Leben und Tod hin, ohne dessen Willen kein Haar von unserem Haupte falle.

Sie fiel sofort mit einem Psalmworte ein, um ihre Bibelkunde darzuthun: »Herr Gott, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.« –

Sie sagte einen großen Teil des Gebetes Moses her, ohne auch nur anzustoßen. –

Im Innersten fühlte sich Gerland durch die Behauptung der alten Frau angenehm berührt. Wunderbar blieb die Erhaltung dieses Lebens auf alle Fälle. Wenn er bedachte, wie er das Mädchen gefunden, als er zum ersten Male in diese elende Kammer getreten, und wenn er die Genesende jetzt ansah, wie sie vor ihm lag, immer noch zart und schwächlich zwar, aber mit den sicheren Anzeichen der Rekonvaleszenz in Erscheinung und Wesen, dann konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, daß Gott doch wohl sein Gebet erhört habe. War nicht vom Glauben gesagt, daß er Berge versetze; und daß er eine feste Zuversicht sei des, das man hoffet? – Nun, er hatte mit einer Zuversicht, die der Gewißheit gleichkam, gehofft, daß Gott sein Gebet um dieses Menschenleben erhören werde. Mit solchem Ernste und solcher Inbrunst hatte er selten gebetet, wie an diesem Lager. Sonst mischten sich häufig allerhand störende Reflexionen in seinen Verkehr mit dem Höchsten; aber hier war es wirklich gewesen, als schlüge die Flamme des Gebetes kerzengerade aus inbrünstigem Herzen empor zum Sohne Gottes. Denn an den Gekreuzigten wandte er sich, wenn er in besonderer Not war; ihn, den Erlöser, rief er an, der alle Schmerzen des menschlichen Daseins durchgekostet. Ihn hatte er auch um dieses Mädchens willen beschworen, und gerade hier war er erhört worden.

Wies das nicht wieder auf jenes besondere, ihm allein bekannte Verhältnis hin, in welchem er zum Menschensohne stand, der ihm in den Weg getreten war, wie einst dem Saulus, um ihn für alle Zeiten seiner Sache zu gewinnen?

Die Genesung des Kindes erschien ihm in geheimnisvollem Lichte. War etwa von jener Wunderkraft etwas auf ihn gekommen, die der Herr den ersten Verkündern seines Wortes hinterlassen, die durch Händeauflegen und Gebet Blinde sehend und Lahme gehend gemacht hatten?

Derartige Gedanken, wenn sie auch vor dem nüchternen Verstande nicht Stich halten wollten, hatten doch was ungeheuer Einschmeichelndes. Es that so wohl, sich als Auserwählten zu fühlen.

Und die alte Märzliebs-Hanne that das ihre, um ihn in diesem frommen Traume zu bestärken. Gleich, als er das erste Mal gekommen, habe man verspürt, daß mit dem Mädchen etwas Außergewöhnliches vor sich gegangen sei: »Noch an salbchen Abende sagt'ch über menen Suhn: Karle, sagt'ch, mit dan Madel is was für sich geganga. Und ei dar Nocht druffe hoat se och a grußes Bissel geredt, 's Madel, immer vum Heilande und immer vum Heilande! O jerum, jerum, was se da alles darzahlen that vun Himmel und vun dan sal'gen Engeln; das mußte se su sahn in ihrem Traumen, verstiehn se! Urdentlich baten that se. Und dernoe sprach se wieder vun Herrn Paster – das is dar sal'ge Geist Guttes, dar durch Sie uf dos Madel gekumma is. Herr Paster, Se kenn mers gleba. Wie's in dar Bibel heeßt: In meinem Namen werden sie Teufel austreiben – auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden.«

Um die Alte von solchen Reden abzubringen, fragte Gerland, ob sie einmal den Doktor befragt hätten.

»An Duchter!« rief die Frau beinahe erschreckt. »Nee, nee, mir hoan keenen Duchter ne gefragt, Herr Paster, mir ne. Unse Pfarr ist besser als hundert Duchtersch, ho'ch gesogt. Se kenn mersch heilig gleba, Herr Paster, mir fragn in Laben keenen Duchter ne.«

Gerland versuchte umsonst der Alten zu erklären, daß er nichts Unrechtes darin erblicke, den Arzt zu fragen. Dabei sei durchaus nichts Gott Mißfälliges, im Gegenteil, der Herr wolle nicht, daß man der Gefahr gegenüber die Hände in den Schoß lege. Aber sie blieb dabei, sich gegen den Verdacht zu verteidigen, als habe sie irgend etwas mit dem Doktor zu thun gehabt.

Der Geistliche wunderte sich nicht allzusehr über solch ausgesprochenen Widerwillen gegen ärztliche Hilfe. Es war nicht das erste Mal, daß er diesem sonderbaren Vorurteile begegnete. Um so erstaunter war er, als sein Blick auf eine Medizinflasche traf, die halbversteckt zwischen den zurückgeschobenen Laden und der erblindeten Fensterscheibe stand.

»Wer hat denn die Medizin dort verordnet?« konnte er sich nicht enthalten zu fragen.

Die alte Frau schien zu erschrecken. »Die hot ack mei Suhn aus der Aptheke mitgebrucht,« beeilte sie sich zu versichern, »wie ar 's letzte Mol ei der Stadt wur. Die is ne vun Duchter, Se kenn mersch gleba! –«

Die Alte wollte offenbar noch mehr über die Herkunft der kleinen Flasche mit der braunen Flüssigkeit berichten, aber jetzt wurde ihre Aufmerksamkeit durch Stimmen abgelenkt, die im Flur und gleich darauf im Nebenzimmer erklangen – zwei Frauenstimmen.

Die alte Märzliebs-Hanne lauschte gespannt, den zahnlosen Mund geöffnet; dann wurde sie plötzlich sehr unruhig. »Entschul'gen Se ack,« meinte sie und wackelte zur Thür, »'s is ees gekimma.« Aber noch ehe sie zum Ausgang gekommen, öffnete sich die Thür, auf der Schwelle erschien ein junges Mädchen, einen Strohhut mit bunten Bändern auf dem Kopfe, in der Hand ein Körbchen.

Voll Erstaunen blickten der Geistliche und Doktor Haußners Tochter einander an.

Das Wiedererkennen war ein beiderseitiges, ihr weißes Gesicht färbte sich über und über rot; auch er fühlte das Blut in einer starken Welle zum Kopfe emporsteigen. Einen Augenblick stand sie zaudernd, mit verschämt umherirrenden Augen, auf der Schwelle.

Die Alte hatte sich inzwischen so weit von ihrem Schrecken erholt, daß sie den Besuch auffordern konnte, einzutreten. »Kimma Se ack rei, Gertrud, – gun Tack och – gun Tack och! Nee, aber nee, daß Se och heite grade kumma missa.«

Gertrud Haußner trat mit gesenktem Blick, Gerlands Gruß meidend, an das Lager. Die beiden Mädchen schienen sich gut zu kennen, sie lächelten einander vertraut zu; die Kranke mit einem so freudigen Ausdrucke, wie ihn Gerland noch nie zuvor auf diesen blassen Zügen bemerkt hatte.

Gertrud hatte das Kopfkissen der Kranken zurechtgerückt, dann mit einem Blick nach der Medizinflasche in der Fensterecke, meinte sie: »Wenn die Arznei alle ist, können Sie mehr bekommen. Hier habe ich auch einen Löffel mitgebracht. Mein Vater sagt, wenn die Medizin anschlüge kann sie dreimal täglich einen Eßlöffel voll einnehmen.« –

Die Alte erging sich in überschwänglichen Danksagungen. Das würde ihr sicher dereinst im Himmel gelohnt werden, sagte sie, die Hand des Mädchens ergreifend: »Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränket – sagt unsa Herr und Erlöser.«

Gertrud machte sich mit verlegener Miene los. Sie würde nächstens wiederkommen, meinte sie mit leiser Stimme. Sie lächelte dem kranken Kinde noch einmal zu und verschwand dann voll Hast durch die Thür, ohne einen Blick nach Gerland hinüberzuwerfen. Die Alte hatte vergebliche Versuche gemacht, sie zu längerem Bleiben zu bewegen. –

»Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, daß die Medizin da von Doktor Haußner stammt, gute Frau?« fragte der Geistliche, nachdem das Mädchen außer Hörweite war.

Die Alte geriet in große Verlegenheit: »Ich meente ack, Herr Paster, weil duch Haußner guttlos is. De Leite darzahlen duch und se sagn, a leignete dan lieben Gutt, und will och von Herrn Christus nischt ne wissa; darim ducht'ch, Se kennten 's amende ibel nahmen, woan se derfihren, daß mer mit an Haußner woas zu schaffa hätten.« –

Gerland fragte ärgerlich, wofür sie ihn eigentlich halte.

»Nu dar vurge Pfarr sagte vun an Haußner, ar wär' dar Antechrist – das hu 'ch salber vun Menke gehiert! Aber Se warn mersch glebe oder ne, aber dos is ne a su schlimm mit dan Haußner. Dar is vill ville basser als manch a andrer, dar'n Namen Guttes vielleicht immer uf'n Lippen hoat, ober ne ein Harzen. Woas wor denne, als mer dozumale 's Narvenfieber dohie hotten, a Juhre funfzahn is wuhl har – woas wor denn doa, wenn mer'n Haußner ne hatten? Dar kam freil'ch nei eis Stiebel zu de kleena Leita und fragte nich zuvor, ibst sen och bezahlen kinnten, wie's de andern Duchter macha. Nee, Haußner is no ne dar schlachtste. – Ich will se mol wos sagn« – und damit trat die Alte dicht an Gerland heran, als wolle sie ihm ein großes Geheimnis anvertrauen: »Dan Haußner hoat dar vurge Pfarr ack su verargert.« –

Gerland erfuhr damit nichts Neues. Immerhin setzte es ihn in Erstaunen, die Ansicht, welche er sich im stillen gebildet hatte, auch bei den gewöhnlichen Leuten verbreitet zu finden.

Die Alte fuhr fort: »Soit ar dan Krakeel gehat hat, dozumale mit Paster Menken, giht ar ne mi zu de Kranken, dar Haußner; nu schickt ar aben de Tuchter. Aber dos is a gutts Dingla, de Gertrud. De Leite sogn vun ar, se wär' ne getoft; aber dos glob 'ch ne. Suwas läßt duch unse Herr Gutt gur ne zu. Die kennte duch gur ne su gutt sen, wenn se ne getoft war; menen Se nich och? – Nee, nee, dos glob'ch noch lange ne! De Leite raden zu vills, woas ne wohr is; laßt se ack raden! Ich bie alt genug; ich weeß, was biese Menschen sein und was gutte sein. Haußner und sene Tuchter dos sein gutta Menscha.« –

* * *

Eine halbe Stunde später befand sich Pfarrer Gerland auf dem Wege nach Eichwald.

Er ging mit großen Schritten, voll Hast, den Blick starr auf den Boden geheftet; sein Kopf war ganz von einem Gedanken erfüllt: er wollte Doktor Haußner aufsuchen. Endlich war der Entschluß zur Reife gediehen; er befand sich auf dem Wege zu dem Arzte. –

Der Jäger, der sich der weit und breit gefürchteten Lagerstätte des Raubtiers naht, kann innerlich nicht tiefer erregt sein, als Gerland in diesem Augenblicke war.

Er wußte, was er auf sich nahm; er hatte vor Augen, was man ihm über Haußners ungeselliges, menschenfeindliches Wesen erzählt hatte. Er wußte auch sehr gut, welchen Empfang der Arzt andern Geistlichen vor ihm bereitet hatte.

Aber das alles konnte ihn nicht abhalten. Das Verlangen, den Mann kennen zu lernen, von dem so außerordentliche Dinge berichtet wurden, hatte sich allmählich bei ihm zur fixen Idee gesteigert. Im Schlafen und Wachen beschäftigte er sich mit dem Menschen. Sobald der Name des Arztes in seiner Gegenwart genannt wurde, fühlte er den Puls schneller gehen.

Und was vielleicht den tiefsten verborgensten Grund seiner Erregung ausmachte, war die geheime Hoffnung, ihm möchte gelingen, woran so mancher Andere sich vergeblich versucht: diese Seele zu gewinnen, Haußner zurückzuführen zum Glauben.

Der Goldgräber, der von einem außerordentlichen Schatze vernommen hat, der Vogelsteller, der einer seltenen Spielart auf der Spur ist, mag die fieberische Aufregung empfinden, die den jungen Geistlichen auf diesem Gange erfüllte. –

Jetzt sah er schon den Giebel des großen Steinhauses zwischen alten Lindenbäumen vor sich auftauchen, das Herz schlug ihm hörbar. Es war doch ganz außerordentlich, was er vorhatte. –

Noch einmal wurde er unsicher; innerhalb hundert Schritten bis zum Gartenthore nahm er den Plan zehnmal und öfter auf und verwarf ihn wieder, sah ihn in den verschiedensten Beleuchtungen.

Er war verzweifelt über den eigenen Wankelmut, schämte sich seiner Feigheit, spornte sich an und ging weiter.

Die Erwägungen, die ihn feige und bedenklich machten, sollten niedergeschlagen werden. Er faßte den glänzenden Griff des Glockenzuges scharf ins Auge, der rechts neben dem steinernen Thorpfeiler herabhing. Glänzend flimmerte der metallene Ring in der Sonne – wuchs vor seinen Augen, je näher er kam. Kaum wissend, was er that, hielt er den Griff in seiner Hand und zog daran. Der schrille Laut der Glocke erweckte ihn aus seinem befangenen Zustand; er erschrak heftig. Was hatte er vor! Schon wünschte er, niemand möge erscheinen, ihm zu öffnen. Aber da ertönten Schritte, nicht vom Hause her, sondern seitlings hinter dichten Büschen aus dem Garten.

Der Arzt selbst erschien hinter den Stäben des Thores, in Hemdsärmeln, eine Hacke in der Hand. Ein breiter, gelber Strohhut beschattete den ganzen oberen Teil des Gesichtes, das in diesem Augenblicke aus einem einzigen graubraunen Barte zu bestehen schien. Er musterte den Geistlichen durch die Stäbe, dann öffnete er.

Gerland blieb im Thorwege stehen, den Hut in der Hand, mit dem er nervös spielte. Der forschende Blick des Arztes verwirrte ihn. Alle Willenskräfte zusammenraffend, stammelte er: »Ich bin der neue Pfarrer; Sie wohnen in meiner Parochie. Ich wollte mir erlauben, Sie aufzusuchen.«

Gerland hatte das ganz anders herausgebracht, als er's eigentlich gewollt. Er hatte sagen wollen, daß er es für seine Pflicht halte, als Seelsorger jeden Hausvater seines Sprengels aufzusuchen. Auch hatte er sich vorgenommen, möglichst sicher, mit dem Anschein der Gleichgiltigkeit aufzutreten. Es kam alles so ganz anders, als er gedacht. Der Arzt selbst war sehr verschieden von dem Bilde, das er sich von ihm gemacht hatte, und das verwirrte ihn. Zum Unglück fühlte er auch noch das Blut in seine Wangen steigen. Jetzt rot werden, dachte er bei sich, das fehlt gerade noch.

Doktor Haußner blickte zu Boden, stieß ein paarmal mit der Hacke die Steinschwelle und ließ dann plötzlich, den Kopf erhebend, Gerland für einen Augenblick seine bohrenden Stahlaugen sehen.

Dann mit einer tiefen, wohlklingenden Stimme, auf den Hut in der Hand des Geistlichen weisend: »Bitte, Herr Pastor, wollen Sie sich nicht bedecken?«

Als habe er einen Befehl erhalten, beeilte sich Gerland, den Hut aufzusetzen. Der Arzt wandte sich mit einladender Geste nach dem Garten: »Bitte!«

Seitwärts vom Hause lag eine Laube, in dichtem Gebüsch versteckt; auf diese schritt der Arzt zu. Mit einem abermaligen »Bitte« forderte er Gerland zum Eintritt auf.

Clematis, die gerade in Blüte stand, rankte sich um die Thürpfosten; vor ihnen lag ein Rasenplatz, auf dem Wäsche ausgebreitet war. Eben ging eine Magd mit hochaufgebundenen Röcken über die Bleiche und begoß die einzelnen Stücke mit der Gießkanne. Die Sonne lag brütend auf dem Platze und auf der weißgetünchten Giebelwand des Hauses. Ein Duft von Wasser und Seife drang zu ihnen in die Laube.

Sie saßen einander an einem aus Naturholz gezimmerten Tische gegenüber. Der Arzt hatte den Hut neben sich auf die Bank gelegt und wischte mit einem bunten Tuche die Tropfen von dem kahlwerdenden Haupte. Jetzt erst sah Gerland, welch mächtige Stirn über diesem bärtigen Gesichte thronte; neben der entwickelten Nase traten die Backenknochen stark hervor. Das Gesicht erschien von der Sonne dunkel eingebrannt bis zu den Augen, um so heller hob sich die weiße Stirn ab. Die kurzen, kräftigen Hände, die von häufiger Arbeit im Freien sprachen, waren mit einem Flaum von hellen Haaren bedeckt. Der Arzt hatte den rechten Hemdärmel emporgestreift und ließ den mächtigen Cyklopenarm sehen. Die Figur war untersetzt und fleischig, ohne korpulent zu sein; der Mann machte den Eindruck eines rüstigen Fünfzigers.

Gerlands Auge erfaßte all diese Äußerlichkeiten, ohne daß er Zeit gefunden hätte, dabei zu verweilen. Sein ganzes Sinnen und Trachten ging jetzt darauf, einen möglichst günstigen Eindruck auf den andern hervorzubringen. In seinem Eifer wollte er soviel wie möglich auf einmal von sich zeigen – jenen im Sturme für sich einnehmen.

Er knüpfte daran an, daß er den Arzt mit Gartenarbeit beschäftigt gefunden hatte, erzählte, daß auch er sich damit abgebe. In aller Eile ließ er einiges von seinen botanischen Kenntnissen durchblicken; besonders hierdurch hoffte er einen guten Eindruck hervorzubringen. Jener sollte von vornherein inne werden, daß er es mit keinem bildungsfeindlichen Ignoranten zu thun habe, vielmehr mit einem modernen, auf der Höhe wissenschaftlicher Bildung stehenden Menschen.

Aber dem Arzte war nicht so leicht zu imponieren.

In beinahe phlegmatischer Ruhe saß er da, die kurzen Beine von sich gestreckt, den breiten Oberkörper zurückgelehnt, mit der Hand seinen Bart vom Halse nach aufwärts streichend, und mit den Zähnen an den Enden der Haare nagend. Mit der gleichgiltigsten Miene von der Welt hörte er an, was Gerland vorbrachte, nur hin und wieder ließ er einen kurzen, scharfen Blick aus seinen grauen Augen nach dem Geistlichen hinübergleiten.

Sein Verhalten begann Gerland zu beunruhigen; er bildete sich ein, etwas wie Spott um die Nasenflügel des Arztes zucken zu sehen. Er wechselte das Thema.

Auf die Verhältnisse der Umgegend übergehend, sprach er von der Lebensweise der Leute, ihrer Nahrung, Kleidung und Beschäftigung, ihren Gewohnheiten und Lastern. Durch direkte Fragen, die er an den Arzt richtete, suchte er diesen aus seiner zuwartenden Stellung hervorzulocken.

Aber der Arzt beteiligte sich an dem Gespräche, wie einer, der keine Eile hat, sich zu zeigen, und dem an der Meinung des anderen im Grunde herzlich wenig gelegen ist.

Gerland war darauf zu sprechen gekommen, daß die Trunksucht ein in der Gegend weit verbreitetes Laster sei; er erwähnte einige Fälle von Alkoholismus, die er bei Gelegenheit seiner Seelsorgerbesuche beobachtet hatte. Er ließ nicht unerwähnt, daß ihm die mannigfachen Fälle von Anämie, Epilepsie, manche Nervenkrankheiten und besonders die große Kindersterblichkeit damit zusammenzuhängen scheine. Dazu die schlechte Nahrung, selten Fleisch, fast nur Kartoffeln und Brot, die verbrauchte Luft in den selten gelüfteten Holzstuben, die armselige Kleidung bei rauhem Klima, Mangel der einfachsten hygienischen Kenntnisse, die ausgesprochene Genußsucht, der Leichtsinn in geschlechtlicher Beziehung und im Winter die sitzende Lebensweise hinter dem Webstuhl, im Sommer die harte Feldarbeit bei jeder Witterung – alles das vereinigt, mußte die Gesundheit des Einzelnen ruinieren und auf die Generation den ungünstigsten Einfluß ausüben. –

Er glaubte bestimmt, damit auf Verständnis bei dem Arzte zu stoßen; denn hier betrat er doch dessen eigentlichstes Gebiet.

Aber Doktor Haußner schwieg.

Gerlands Mißtrauen wurde rege; er glaubte, Geringschätzung aus den Mienen des Gegenübersitzenden zu lesen. Fand jener ihn etwa aufdringlich?

Das beängstigende, peinvolle Gefühl, daß er sich lächerlich mache, beschlich Gerland auf einmal.

Er hörte plötzlich auf zu sprechen. Eine Pause entstand. Im stillen hoffte der Geistliche immer noch, der andere werde nun die Gelegenheit ergreifen, etwas zu äußern und wenn es nur pro forma gewesen wäre. –

Als jener aber beharrlich schwieg, stand Gerland auf. Doktor Haußner erhob sich mit ihm.

Der Arzt brachte ihn bis zum Gartenthore, das er eigenhändig öffnete. Ein kurzer, frostiger Abschied. Gerland war rot im Gesicht und seine Hände zitterten. Der Arzt zuckte mit keiner Wimper. Aber der Geistliche glaubte etwas wie Triumph in den grauen Augen des Mannes aufblitzen zu sehen.

Die Glocke erklang, das Thor schloß sich knarrend hinter ihm; eine Aufforderung wiederzukommen, vernahm er nicht.

Der junge Geistliche meinte, noch nie im Leben eine tiefere Demütigung erfahren zu haben. –



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