Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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VIII.

In der Kreisstadt war Missionsfest angesagt, Gerland hatte eine Aufforderung dazu erhalten. Ihm war die Gelegenheit willkommen, die Amtsbrüder der Umgegend kennen zu lernen, dann wollte er auch dem Superintendenten der Diözese seine Aufwartung machen.

Er nahm für zwei Tage Abschied von Breitendorf und fuhr nach der Stadt.

Superintendent Großer war derselbe, wie ihn Gerland bereits von seiner Einweisung her kannte. Dem jungen Geistlichen war es bekannt, daß er sich gern sprechen höre und so ließ er denn mit Vorbedacht dem Redefluß seines Oberen freien Lauf.

Während Gerland mit scheinbarer Andacht den Worten des Superintendenten lauschte, wurde diesem ein anderer Geistlicher gemeldet: Pfarrer Polani.

Das Alter des Neueintretenden war schwer zu bestimmen; er mochte ein angehender Vierziger sein. Sein Gesicht war glatt rasiert, das dunkle, seidenartig glänzende Haar lang und gut gepflegt. Pfarrer Polani schien Wert auf äußere Erscheinung zu legen; seine Halsbinde zeigte die Weiße des frischgefalleneu Schnees, der lange, schwarze Rock war durchaus pastoral und entbehrte dabei nicht eines gewissen Chics.

Gerland, der jeden Amtsbruder mit besonders kritischen Augen betrachtete, entgingen solche Äußerlichkeiten keinesfalls. Er mußte sich sagen, daß Polani mit seiner schlanken Figur und dem scharfgeschnittenen, intelligenten Gesichte eine äußerst ansprechende Persönlichkeit sei.

Polani blieb nur wenige Minuten. Er entschuldigte die Kürze seines Besuches damit, daß er beim Landrat zu Mittag speise. Es schien, als lasse er diese Bemerkung nicht absichtslos fallen. Nachdem er sich vom Superintendenten verabschiedet, kam er auf Gerland zu, reichte ihm die Hand und meinte: »Wir werden uns hoffentlich ein andermal näher kennen lernen, Herr Amtsbruder.« Darauf trug er seinen schwarzen Rock und den glänzenden Cylinder mit vielem Anstand zur Thür hinaus.

Das Gespräch wandte sich sofort auf den Gegangenen, Gerland erfuhr, daß Polani in einem Badeort der Nähe Pfarrer sei. Der Superintendent meinte, daß er eine besonders schwierige Stelle inne habe, weil die überwiegende Mehrheit der dortigen Bevölkerung katholisch sei. »Polani ist ein Diplomat, und darum besonders geeignet für diesen Außenposten, in partibus infidelium,« sagte der Superintendent; und Gerland that seinem Oberen den Gefallen, über die Bemerkung zu lächeln.

Superintendent Großer ließ sich noch weiter über Polani aus. Nach ihm war jener einer der tüchtigsten und brauchbarsten Geistlichen der Provinz. Er sei ein hervorragender Kanzelredner, ein äußerst gelehrter und belesener Mann, dabei ein liebenswürdiger Gesellschafter, und auch bei den weltlichen Behörden ausgezeichnet angeschrieben.

Noch andere Einzelheiten erfuhr Gerland über diesen interessanten Pfarrer. Polani besaß eine schöne und wohlhabende Frau und hielt sich Equipage.

Als sich Gerland nach einer halben Stunde von dem Superintendenten verabschiedet hatte, klang ihm Polanis Leumund noch in den Ohren nach. Er nahm sich vor, den Mann, wenn irgend möglich, näher kennen zu lernen. –

Gerland war in dem größten Gasthofe abgestiegen, der dem Rathause gegenüber am Ringe lag. Die Stadt war überfüllt von Leuten, die dem Feste beiwohnen wollten.

An der Wirtstafel hatte man für die zahlreich erschienene Geistlichkeit besonders gedeckt.

Gerland saß als der Letzte einer langen Reihe von Schwarzröcken; neben ihm waren noch eine Anzahl Stühle frei. Einige Geistliche erschienen erst, als man bereits beim Braten angelangt war. Ein hochbetagter Mann wurde Gerlands Nachbar. Von Anfang an bestach ihn der Neugekommene durch seine würdige Erscheinung; milchweißes Bart- und Haupthaar umrahmten ein mildes Patriarchengesicht. Die Figur schien vom Alter nur wenig gebeugt. Der Alte war eine von den seltenen Erscheinungen, auf welche die Jahre mehr einen verschönenden als zerstörenden Einfluß ausüben.

Gerland entdeckte zu seiner Freude sehr bald, daß persönliche Liebenswürdigkeit bei dem Greise Hand in Hand gehe mit einnehmender Erscheinung. Es entwickelte sich ein Gespräch zwischen ihnen.

Der Alte war Landgeistlicher, er nannte den Namen seiner Parochie. Vorm Jahre habe er sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum gefeiert, berichtete der Greis. Wie's schien, hegte er aber keineswegs die Absicht, sich emeritieren zu lassen; seine Gemeinde müsse ihm Weib und Kind und alles ersetzen, da er Witwer sei und Gott ihm keine Kinder beschert habe.

Man berührte im Laufe des Gespräches die verschiedensten Gebiete. Der alte Mann hatte durchaus nichts Geistreiches an sich, seine Ansichten trugen den Stempel des Altmodischen, bei einer Gelegenheit gestand er seine Unbekanntschaft mit einer allgemein bekannten theologischen Frage offen ein. Aber die Herzlichkeit und schlichte Ehrlichkeit, die aus jedem Worte dieses Mannes sprach, ersetzte reichlich, was ihm an Kenntnissen und Geisteskultur abgehen mochte. »Ich habe fünfzig Jahre unter Bauern gelebt,« meinte er entschuldigend, »und um mir Bücher anzuschaffen, dazu reichte das Gehalt nicht, und so bin ich etwas ins Hintertreffen geraten.« Schon vorher hatte er angedeutet, daß er eine sehr kleine Stelle innehabe. »Solche Gelegenheit, wie heute, wo man viele gelehrte Leute trifft und stets etwas Neues hört, benutze ich daher um so lieber, meine Kenntnisse aufzufrischen.«

Er sprach mit großem Respekt von der Gelehrsamkeit, welche die jungen Leute sich jetzt auf den Universitäten aneigneten; und Gerland hörte es nicht ungern, daß der Alte auch ihn zu diesen jungen, gescheiten Leuten rechnete. Es lag etwas Kindliches in seiner naiven Bewunderung für das Wissen, das er selbst nicht besaß.

Was aber Gerland am meisten an dem greisen Amtsbruder bewunderte, war die echte und tiefe Begeisterung, die er für seinen Beruf empfand. Glauben und Pflicht schienen sich bei ihm in schönster Weise zu decken. Er hatte kein Kompromiß zwischen Überzeugung und Lebensklugheit nötig. Und dieser Mann war grau im Dienste der Kirche geworden. Eine solche Erscheinung hatte etwas ungemein Tröstliches. Während Gerland auf dieses ehrwürdige Haupt, auf die gutmütigen, kindlichen Züge blickte, fühlte er die Hoffnung in sich wachsen, daß auch er noch in dem erwählten Stande Befriedigung finden möchte.

Gerland hielt bei dem Alten aus, als dieser seine Mahlzeit längst beendet und die anderen sich zum großen Teile entfernt hatten.

Sie waren schließlich auf Land und Leute zu sprechen gekommen; der Alte konnte dem Jüngeren manche interessanten Aufschlüsse geben. Auch von Gerlands Vorgänger, dem Pastor Menke, wußte er zu erzählen.

Sein Urteil schien Gerland besonders gewichtig, weil er durchaus parteilos war. Die Runzeln in diesem milden Greisenangesicht waren gewiß nicht durch Neid und Haß dort eingegraben worden.

Gerland stutzte, als der Amtsbruder gelegentlich erklärte, Pastor Menke habe durch Intoleranz viel Unheil gestiftet. Das klang besonders bedeutungsvoll aus diesem Munde. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Amtsbruder zu fragen, ob ihm ein gewisser Doktor Haußner bekannt sei, der in Eichwald wohne.

Das freundliche Gesicht des Alten nahm bei Gerlands Frage einen ernsten Ausdruck an.

»Ob ich Haußner kenne? – Seine Frau war meine Nichte.« –

Gerland war aufs höchste überrascht. Also hatte er die ganze Zeit über ahnungslos mit Pastor Valentin gesprochen, dessen Namen er mehr als einmal in Verbindung mit dem Haußners gehört.

»Mit dem Falle Haußner verknüpfen sich für mich sehr traurige Erfahrungen.« Gerland hörte den Alten seufzen; er war auf einmal schweigsam und nachdenklich geworden und schien alten Erlebnissen nachzusinnen.

Gerland hätte nur zu gern noch mehr über das angeregte Thema erfahren. Nun war er ja endlich an die richtige Quelle gekommen; hier war jemand, von dem man ein maßgebendes Urteil über Doktor Haußners Vergangenheit erwarten durfte.

Sehr zu Gerlands Verdruß kam jedoch die Zeit heran, wo man an Aufbruch denken mußte; der Festgottesdienst war um zwei Uhr Nachmittags in der evangelischen Hauptkirche des Ortes angesagt. Ein Geistlicher aus der Provinzialhauptstadt hatte die Festpredigt übernommen.

* * *

Als Schauplatz für das Fest war ein Garten außerhalb der Stadt gewählt worden, in welchem für gewöhnlich Vogelschießen und andere profane Festlichkeiten abgehalten wurden. Der Platz lag auf mäßiger Anhöhe, die in früheren Zeiten eine Bastion gewesen sein mochte. Man genoß von da aus einen guten Blick auf das Städtchen mit seinen verschiedenen Kirchen, von denen sich die evangelische Hauptkirche durch ihren Zwillingsturm auszeichnete, dem altertümlichen Rathause, dem Reste der alten Umwallung, dessen graues Gemäuer hier und da noch zwischen den Häusern zum Vorschein kam, und einem Gewirr von verzweigten Gassen und Gäßchen.

Nach diesem Platze wurde von der Kirche aus in feierlicher Prozession gezogen. Man verfuhr dabei nicht ohne berechnete Ostentation. Der Ort war paritätisch, und man ließ eine solche Gelegenheit nicht gern vorübergehen, ohne den Katholiken zu zeigen, wie stark der evangelische Anhang sei. Der Zug stellte sich in einer engen Seitengasse neben der Hauptkirche auf und bewegte sich dann über den Ring, eine Zeit lang der städtischen Promenade folgend, hinaus nach dem Festplatze.

Die Geistlichkeit marschierte geschlossen an der Spitze, voran der Festredner, der Superintendent und andere Würdenträger.

Vergebens suchte Gerland nach Polanis schlanker Gestalt; der mochte wohl noch beim Landrat sein. Dafür traf sein Auge auf eine andere ihm wohlbekannte Persönlichkeit. Der breite Rücken mit dem fleischigen Halse, in den zusammengebackene Strähnen hellblonden Haares hinabhingen, konnte keinem anderen gehören, als Dornig. Gerland hatte von ihm nichts mehr gesehen und gehört, seit er neulich so plötzlich die Taufhandlung des Färbersbacher Amtsbruders verlassen.

Es war nicht unmöglich, daß Dornig ihm das übelgenommen hatte. Gerland beschloß nichtsdestoweniger, ihn anzureden. In der That zeigte sich Dornig anfangs äußerst kühl. »Wirklich, bist du auch da – du machst dich ja sonst sehr rar – wirst's wohl hier auch nicht lange aushalten?« –

Gerland achtete nicht auf die versteckten Spitzen. Er wollte den Schatten, der letzthin zwischen ihn und den alten Schulkameraden gefallen war, auf jeden Fall bannen.

Dornig schien auch nicht gewillt, lange zu zürnen. Bald war der vertrauliche Ton zwischen ihnen wieder hergestellt. Der Pfarrer von Färbersbach war froh, einen Neuling in der Gegend gefunden zu haben, dem er die anwesenden Persönlichkeiten erklären konnte.

Man war inzwischen, durch mehr als eine laubumwundene Ehrenpforte schreitend, auf dem Festplatze angekommen. Hier spielte Musik, ein gemeinsamer Choral wurde abgesungen. Auf einem Brettergerüst gegenüber der Rednertribüne hatten sich weltliche und geistliche Honoratioren zusammengefunden.

Gerland erfuhr, daß jene starke Dame in heller Toilette die Landrätin sei, neben ihr saß die Frau des Bürgermeisters; auch der Landadel der Umgegend war vertreten.

Auf eine große, auffällig gekleidete Brünette weisend, fragte Dornig: »Würdest du die dort, mit den roten Mohnblumen, für eine Pastorsfrau halten?«

»Ist das etwa die Frau des Pfarrers Polani?«

»Woher weißt du denn etwas von dem?«

»Ich habe ihn heute früh beim Superintendenten getroffen.«

Gerland blickte mit Interesse nach der Frau hin, die ihm als Pastorin Polani bezeichnet worden war. Sie saß im Gespräche mit zwei niedlichen, im Backfischalter stehenden, jungen Dingern – Komtessen, wie Dornig erklärte.

»Die Polanis werfen sich immer an die Vornehmen heran,« flüsterte Dornig voller Gift. »Sie ist eine Fabrikantentochter aus –« er nannte ein durch seine Leinwandindustrie bekanntes Städchen. »Eine pompöse Ausstattung hat sie mitgebracht. Jeden Tag wird bei Polanis Champagner getrunken; das hat sie sich vor der Hochzeit ausgemacht.«

Ihre Erscheinung fesselte Gerlands Aufmerksamkeit, er mußte immer und immer wieder nach den großen, lebhaften Augen blicken. Sie trug ein dunkles Kleid, einen schwarzen Strohhut mit roten Blumen darauf. Gerland kam es vor, als sei sie von den anwesenden Damen am gewähltesten gekleidet.

Die Hauptnummer des Programms, das eigentliche Zugstück, bildete die Rede eines Missionars, der, aus Afrika zurückgekehrt, gegenwärtig in einer Herrenhuter Kolonie der Nachbarschaft weilte. In wenigen Wochen wollte er an die Stätte seiner Wirksamkeit zurückkehren. Inzwischen hatte er sich eine Braut erwählt, die ihn als Lebensgefährtin auf dem gefahrvollen Pfade begleiten sollte. Das Mädchen, in ihrem Konfirmationskleide, mit der roten Korallenkette um den Hals, machte den Eindruck eines halben Kindes.

Der Missionar, ein kleiner und wenig schöner Mann, sprach ohne Redebegabung, häufig stockend, oder sich überhastend; aber auf Gerland machten seine Worte Eindruck. Es steckte Leidenschaft in dem Manne – eine heiße, innere Glut für die Sache. Der kleine Mann mit dem sommersprossenbedeckten Gesichte und dem struppigen roten Barte, der seine schwerfälligen Satzgefüge mit ein und derselben hämmernden Bewegung des rechten Armes begleitete, war kein Phrasenheld, vielmehr ein Mensch, der bereit war, seinen Glauben mit dem Leben zu bekennen. Der Ernst, welcher ihn vom Scheitel bis zu den Füßen erfüllte, gab dieser unbedeutenden Erscheinung eine gewisse Schönheit. So mochte auch seine Braut denken; Gerland bemerkte voll Rührung, wie ihre Blicke bewundernd an diesen abstoßenden Lippen hingen. –

Nach dem Missionar sprach Superintendent Großer, den starken Wein, den jener geboten hatte, durch breite Geschwätzigkeit verwässernd.

Schließlich trat auch Pastor Polani auf die Tribüne. Gerland empfand eine gewisse Bangigkeit – würde dieser Mann sich kleiner zeigen, als er ihn taxiert hatte?

Polani erklärte, er wolle einige Briefe, die er kürzlich von einem Missionar aus Indien erhalten habe, verlesen. »Polani muß natürlich was Besonderes haben,« raunte Dornig seinem Nachbar ins Ohr. Nach Vorlesung der Briefe, die von Missionsangelegenheiten handelten, gab der Redner einen gedrängten Überblick über den Kulturzustand unter den Drawidavölkern. Er wußte mancherlei über eigentümliche Gebräuche, Lebensweise, Religion und Litteratur der Bevölkerung des Deckhans zu berichten. Schließlich verlas Polani einen von ihm selbst übersetzten Lobgesang auf den Heiland, den ein zum Christentum bekehrter Tamule verfaßt hatte.

Gewählt wie sein Äußeres, war auch die Sprechweise des Geistlichen. Er erntete reichen Beifall, vor allem von seiten der Damenwelt.

Die Reden nahmen sobald kein Ende. Aber die Aufnahmefähigkeit des Publikums schien erschöpft, man sprach und lachte durcheinander und schenkte den Vortragenden nur geringe Aufmerksamkeit. Einzelne Gäste fingen an sich zu entfernen.

Dornig holte Gerlands Ansicht ein, wie man den Abend verbringen solle; denn da man einmal in der Stadt sei, müsse man die Gelegenheit auch ausnützen. Gerland war nicht im Zweifel, was er unter dem »die Gelegenheit ausnützen« verstehe. Seine Annahme wurde bestätigt, als er bald darauf den wohlgenährten Amtsbruder in lebhaftem Disput mit einigen jüngeren Geistlichen, über die Güte des Bieres in den verschiedenen Lokalen des Ortes, begriffen fand.

Gerland empfand wenig Lust, in dieser Gesellschaft einen Abend zu verderben. Er erwog im stillen, ob er nicht sogleich den Rückweg nach Breitendorf antreten solle.

Während er sich von der Menge nach dem Ausgange des Festplatzes schieben ließ, berührte ihn plötzlich eine Hand. Zu seinem Erstaunen erkannte er Polani.

»Ich suchte Sie, Herr Pfarrer.«

Das Gedränge ersparte dem verdutzten Gerland die Antwort, um die er auch in diesem Augenblicke verlegen gewesen wäre.

Als sich die beiden auf einen ruhigeren Fleck gerettet, meinte Polani: »Zunächst gestatten Sie mir, daß ich Sie meiner Frau vorstelle – Sie ist hier in der Nähe.« –

Der rote Sonnenschirm war nicht zu übersehen in der dunklen Menge; sie steuerten auf die Pastorin zu.

»Ich suchte dich!« rief sie, sobald sie des Gatten ansichtig wurde. »Wollen wir nicht gehen? Es fängt an langweilig zu werden.«

Polani machte sie auf Gerland aufmerksam. Sie reichte ihm sofort die Hand, lächelte entgegenkommend und erklärte, daß sie sich sehr freue. Gerland empfand die Notwendigkeit, irgend etwas zu sagen.

Er begann von dem, was ihr voraussichtlich am meisten gefallen mußte: von dem eben erlebten Erfolge des Gatten.

Sie gab sofort zu verstehen, daß auch sie sich lebhaft für die Drawidavölker interessiere, kramte allerhand Kenntnisse auf diesem Gebiete aus. Im großen und ganzen wiederholte sie das, was ihr Mann über das Thema gesagt hatte, hier und da ein wenig ausschmückend und nach Frauenart Ungenauigkeiten begehend.

So schritt man langsam in der vorwärts drängenden Menge der Stadt zu.

Gerland durchströmte ein sanftes Wohlbehagen; er hatte so lange alle feinere Geselligkeit entbehrt. Die Unterhaltung mit ihr war bequem, man brauchte sich nicht besonders anzustrengen, sie besaß Phantasie und verlangte keine Gründlichkeit. Und so floß das Gespräch leicht und gefällig, wie ein angenehm plätscherndes Wasser dahin, nicht so tief, daß man den Grund nicht hätte erkennen können – und dazu die lebhaften Augen der Frau Pastorin, die auf manches an sich ganz unbedeutende Wort ein Schlaglicht setzten.

Polani ging hinter den beiden her, im Gespräche mit zwei Herren, die Gerland nicht kannte.

Man war auf das schlechte Pflaster des Städtchens gekommen.

Da die Drawidavölker nunmehr durchgesprochen waren, traf sich's günstig, daß die Hauptkirche mit ihrem gotischen Portale soeben ins Gesichtsfeld kam. Nun fand Gerland Gelegenheit, sein Licht leuchten zu lassen. Er sprach über die Gotik im allgemeinen und über ihre Abart in dieser Gegend im besondern; und sie hatte die Liebenswürdigkeit, auch hierfür Interesse vorzugeben.

Polani war inzwischen frei geworden und kam zu den beiden. Es stellte sich heraus, daß man in demselben Gasthofe abgestiegen war.

»Was unternehmen Sie heute abend?« fragte Polani.

»Ich wollte eigentlich noch nach Breitendorf zurück, wenn's geht.«

»Und wenn es nicht geht?«

»Dann bleibe ich hier über Nacht und gehe morgen früh bei Zeiten hinaus.«

»Ein tüchtiger Marsch.«

»Ich bin ein guter Fußgänger.«

Die Pastorin mußte ihrem Gatten ein geheimes Zeichen gegeben haben; nach kurzer Pause meinte er: »Wissen Sie was, lieber Pastor! Kommen Sie mit zu uns nach Annenbad, in meinem Wagen ist Platz für dreie. Wir fahren noch heut abend; dann haben wir morgen einen reizenden Tag zusammen, und ich lasse Sie nach Breitendorf zurückfahren, wann Sie wollen.«

Gerland machte allerhand Ausflüchte; er könne das nicht annehmen, meinte er.

»Was wollen Sie denn heute abend hier anfangen?« fragte Polani. »Zu Biere gehen mit den andern in den Ratskeller? – Sie sehen mir nicht danach aus, als sei das Ihr Geschmack.«

Gerland fühlte sich geschmeichelt; er schwankte bereits. Und nun fiel auch noch die Pastorin ein: »Bei uns ist es gar nicht übel. – Sie werden mal sehn! Zum mindesten werden wir eine reizende Fahrt haben, heut abend.«

Gerland stand schon ganz und gar unter dem Banne ihrer dunklen Augen; er willigte ein.

Während er seine Handtasche packte, gereute es ihn beinahe, so schnell zugesagt zu haben. Bedenken überkamen ihn. Was er that, war zum mindesten unvernünftig.

Aber warum sollte man denn nicht einmal unvernünftig sein – einmal nur, für einen Tag; und dann beseelte ihn auch Neugier. Daß er da auf ein Paar nicht ganz alltäglicher Vögel gestoßen sei, wußte er jetzt schon.

Es war ihm sehr lieb, daß er seine besten Kleider auf sich hatte; die Pastorin machte den Eindruck, als wisse sie den guten Sitz eines Rockes zu würdigen.

Als er herunterkam, stand die offene Halbchaise des Geistlichen bereits vor der Thür, zwei stattliche Braune vorgespannt, ein Kutscher in anspruchslos dunkler Livree auf dem Bocke.

Während Polani und Gerland vor dem Gasthofe standen, auf die Pastorin wartend, kam ein alter Mann auf sie zu, in dem Gerland, erst als er den Hut grüßend abnahm, Pfarrer Valentin wiedererkannte. Es fiel ihm selbst auf, wie schnell er den Alten über der neuen Bekanntschaft vergessen hatte.

Pastor Valentin blieb bei den beiden Amtsbrüdern stehen. Er sprach seine lebhafte Freude über das aus, was er im Laufe des Nachmittags gehört hatte. Sein gutes altes Gesicht leuchtete von ehrlicher Bewunderung, als er auf die außerordentliche Gelehrsamkeit zu sprechen kam, die Polani in seinem Vortrage entwickelt habe. Er meinte, daran werde er nun wieder für Wochen zehren. Dann bat er Gerland, ihn doch ja einmal in Göhdaberg aufzusuchen. Gerland versprach, der Einladung Folge zu leisten.

Inzwischen war die Pastorin heruntergekommen, sie bat um Entschuldigung, daß sie solange habe warten lassen, und stieg ein. Gerland mußte sich auf Wunsch des Ehepaares neben die Frau Pastorin in den Vordersitz setzen. Polani nahm ihnen gegenüber auf einem niedrigen Sitze Platz. So ging es rasselnd über das holperige Pflaster des Ringes, zur Stadt hinaus.

* * *

Die Fahrt versprach schön zu werden. Die drückende Hitze des Tages wich eben einem klaren, windfrischen Abende. Nicht eine Wolke war zu entdecken, der Wagen flog angenehm federnd auf der Landstraße dahin, die Pastorin in einem vom Luftzuge leicht geschwellten Staubmantel lehnte bequem in die Kissen zurück, den Schirm über sich, von roten Strahlen umflutet. Die Gegenwart der schönen Frau erfüllte den jungen Mann mit einem wohligen Gefühle von Behagen.

Man fuhr an einzelnen Villen, die aus der Stadt herausgebaut waren, an Gärten und Fabriken vorüber. Die dreie waren in der Laune, alles schön und bemerkenswert zu finden. Man besprach, was sich zeigte, lernte einander dabei kennen, ohne sich auszuforschen.

Die Landstraße lief in einem breiten Thale hin, dem Laufe eines Flüßchens entgegen, das sich weidenbesäumt durch flache Wiesen schlängelte. Durch Dörfer gings, mit manchem schönen Herrensitze, der stolz über Bauerngehöfte und Gärtnerwohnungen emporragte.

Baumgruppen und Häuser schwammen in der Ferne bereits ineinander, über den Wiesen schwebte ein leichter Dunst; der Himmel erschien heller als zuvor und leuchtete am Horizonte in gelbweißer Färbung.

Die Pastorin hatte ihren Schirm vor einer ganzen Weile herabgespannt und hüllte sich enger in ihren Staubmantel. Die beiden Männer zogen die Überzieher an: vom Wasser her kam ein kühler Zug.

Plötzlich wendete sie sich wieder an Gerland: »Mein Mann erzählte mir schon heute früh von Ihnen, als er Sie beim Superintendenten kennen gelernt hatte.« – Sie stockte, legte ihrem Gatten die Hand aufs Knie und fragte: »Arthur, darf ich?« –

»Erzähle nur, wenn du willst. Ich habe ja, soviel ich mich entsinne, nichts Ungünstiges über Pfarrer Gerland geäußert.«

»Mein Mann erzählte mir, er habe soeben einen Amtsbruder kennen gelernt, dessen Erscheinung und Wesen – so sagtest du, glaube ich – ihm sofort aufgefallen sei, und dessen Bekanntschaft er gern weiterpflegen möchte.«

»Ich hatte genau dieselbe Empfindung Ihrem Gatten gegenüber,« versicherte Gerland.

»Ach, sehen Sie, und darum freue ich mich so, daß Sie unsere Einladung angenommen haben.«

Die Dämmerung, welche den Gesichtsausdruck zu verhüllen begann, begünstigte die Offenheit, mit der die Unterhaltung jetzt geführt wurde. Allen dreien that die gegenseitige Anerkennung wohl. Für Gerland war die Zuvorkommenheit dieser Frau wie ein süßer Trank, der ihn mit sanftem Rausche umnebelte.

Von der Bedenklichkeit, die ihm Frauen gegenüber sonst eigen war, fühlte er sich heute ganz befreit; er legte auf einmal Talent zur Unterhaltung an den Tag. Da sie ihn nach seiner Familie und seinem früheren Leben fragte, erzählte er eine Menge Dinge, über die er kaum jemals zu irgend einem Menschen gesprochen hatte. Voll geheimem Entzücken merkte er, daß er fessle mit seinen Erzählungen.

Auch über Breitendorf und seine jetzige Lebensweise wollte sie hören. Merkwürdig, er berichtete darüber in komischem Tone. Noch nie war es ihm bisher eingefallen, seine Umgebung von der lächerlichen Seite zu betrachten. Das Lachen dieser Frau verführte ihn dazu. Die Sprache der Leute, ihre hinterwäldlerischen Sitten und Gewohnheiten, mußten herhalten, um sie zu unterhalten. Auch über die Pastorin Menke machte er sich lustig. Sie fragte sofort, wie alt diese Frau sei, und neckte ihn mit der reizenden Witwe.

Von Doktor Haußner und seiner Tochter erzählte Gerland nichts, obgleich es ihm ein paarmal auf der Zunge lag, auch davon anzufangen. Wie unendlich weit schien ihm alles gerückt, was sonst sein Interesse am lebhaftesten in Anspruch nahm; er befand sich in einem beseligten Taumel – so leicht, so frei, so zum Leichtsinn aufgelegt.

Man hatte inzwischen das Flußthal verlassen und fuhr über einen bewaldeten Bergrücken. Als der Wald aufhörte, zeigten sich rechts und links der Straße wieder Häuser, im Villenstil gehalten, und in abgeschlossenen Gärten gelegen. Dann kreuzte man eine Promenade; von einem erleuchteten Gebäude her ertönte Musik. Der Kursaal, wie Polani erklärte. Man war in Annenbad angelangt.

Die evangelische Kirche lag am äußersten Ende des Städtchens, das Pfarrhaus dicht daneben.

Ein Mädchen öffnete; man begab sich in ein Parterrezimmer. Hier stand der Tisch gedeckt, die Pastorin legte eigenhändig ein drittes Couvert auf. Auf einem Nebentische glänzte der Theekessel, dessen Wasser bald zu brodeln anfing.

Etwas wie Neid stieg in Gerland auf gegen Polani, der alles dies so als selbstverständlich hinnahm, mit ruhiger Würde sein Abendbrot verzehrte und gar nicht zu empfinden schien, welch entzückendes Wesen ihm den Thee zurecht machte.

Seit drei Jahren waren sie verheiratet. Kinder schienen sie nicht zu haben – Gerland hatte mehrfach an diese Möglichkeit gedacht, aber nicht zu fragen gewagt.

Die Tafel war reich besetzt. Gerland erneuerte alte Bekanntschaften mit Delikatessen, die er in seiner Breitendorfer Eremitage nie zu sehen bekam. Das Geschirr, die Ausstattung des Zimmers waren eleganter, als Gerland sie je zuvor in einem evangelischen Pfarrhause gesehen.

Manches von Dornigs hämischen Bemerkungen stieg jetzt wieder in Gerlands Erinnerung auf. Etwas Kaltes lag in Polanis Zügen, das Auge war nicht seelenvoll, der Mund konnte Härte ausdrücken. Mit dem überscharfen Auge des Eifersüchtigen beobachtete Gerland den Verkehr der beiden Eheleute. Polani bat um ein Stück Brot; sie sprang auf und schnitt es am Buffett. Gerland nannte dies Tyrannei in seinem Herzen. Sie bot sich an, dem Gatten die Kartoffeln zu schälen; der Eifersüchtige fand, daß er sich bedienen lasse, wie ein Pascha.

Polani ließ es sich schmecken, er zog das Mahl in die Länge. Auf seinen Befehl wurde noch eine Flasche besonderen Rheinweins aus dem Keller hervorgeholt. Der Wirt stieß auf das Wohl des Gastes an. Seine Kordialität erweckte nur Gerlands ärgerliche Mißbilligung; es schien also doch wahr, Polani war in Materialismus versunken.

Gerland war einsilbig geworden; Polani leitete jetzt das Gespräch. Anknüpfend an eine auf der Fahrt gemachte Bemerkung, sprach er über die Gegenreformation und besonders über die Thätigkeit des Jesuitenordens. Gerland konnte sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß der andere große Kenntnisse besitze und sie interessant vorzubringen wisse. Aber der Gedanke, daß all dies angelerntes Wissen und daß Polani im Grunde doch nur ein Doktrinär sei, tröstete ihn geradezu.

* * *

Erst gegen Mitternacht fand sich Gerland auf seinem Schlafzimmer allein. Es erschien ihm unnütz, zu Bett zu gehen; er kannte sich darin, in solcher Stimmung konnte er nicht einschlafen. Von einem bequemen Lehnstuhle aus, das großblumige Muster der Tapete verfolgend, ließ er sich von der Flutung seiner Gedanken tragen.

Wie schnell sich Beziehungen zwischen Menschen anknüpfen! Vor zwölf Stunden hatte er nichts davon geahnt, daß diese Frau überhaupt in der Welt lebe, und jetzt war es ihm schon, als sei er seit Jahren mit ihr befreundet.

Immer wieder durchlebte er den verflossenen Nachmittag, wog jedes ihrer Worte, wie einen Schatz, den der Finder liebäugelnd nach allen Seiten dreht und wendet. Er hatte Eindruck auf sie gemacht, er gefiel – sie bewunderte ihn wohl gar – das schien aus ihren Worten und noch mehr aus ihren Blicken – diesen besonderen Blicken, die sie für ihn gehabt – hervorzugehen. Wie süß dieses Bewußtsein war, sich verstanden zu wissen von einer Frau. Er nannte es vor sich selbst »verstanden«.

Einzelne Gedanken standen als Ankläger gegen ihn auf. Sein Verhalten war sittlich nicht zu rechtfertigen, aber es gab Entschuldigungen für ihn. War eine Seelenfreundschaft etwas Verbotenes? – Würden nicht einem solchen Verhältnisse die edelsten Keime entsprießen? Was ihn heute erhoben und beseligt hatte, konnte unmöglich schlecht sein.

Und doch konnte er sein Verhalten mit der Lehre des Heilands nicht in Einklang bringen. Es herrschte wieder jener Zwiespalt in seiner Seele, wie in allen wichtigen Augenblicken des Lebens. Das Christentum beherrschte eben doch nicht sein Dasein, so wie er es fordern mußte. Von hundert seiner Gedanken waren gewiß neunundneunzig weltlicher Natur. Dieses Bewußtsein, das ihn als jungen Menschen zu blutigen Thränen und leiblichen Kasteiungen getrieben hatte, überfiel ihn auch jetzt wieder mit ganzer Trostlosigkeit.

Er war lange nicht schlicht genug, ihm fehlte jene Demut und Einfalt, wie sie die ersten Christen ausgezeichnet haben mochte. Unter tausend äußeren Interessen verlor sich bei ihm jene große, starke Liebe, die den ganzen Menschen durchdringen soll. Er war viel zu sehr moderner Mensch, voll Skepsis und Nervosität.

All dem ansteckenden Wesen hatte er entfliehen wollen. Aus dem Gefühle dieser Krankheit heraus war in ihm der Wunsch nach Einsamkeit, Weltabgeschiedenheit, einfachen Menschen erwachsen; deshalb war er nach Breitendorf gegangen.

Was hatte es ihm genützt! Die Versuchung, der er entwichen, war ihm nachgezogen; oder vielmehr, er hatte ihre Keime mit sich hinausgetragen. Wieder war das Gleichgewicht seiner Seele gestört. Das Fleisch, das er kreuzigen sollte, wollte leben. Und in alter bekannter Gestalt standen die Gespenster des Zweifels um ihn. –



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