Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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XV.

Aus der großen Masse der Parochianen hoben sich für Gerland mehr und mehr Gestalten und Gesichter Einzelner ab, die ihm vertraut und lieb waren; von Tag zu Tag mehrten sich die Anknüpfungen zwischen ihm und seinen Beichtkindern. Hier hatte er ein Paar getraut, dort ein Kind getauft, in dem einen Hause einen Sterbenden berichtet, in dem andern einen Genesenden besucht. Die Kinder kannte er vom Schulunterricht, die heranwachsende Jugend vom Konfirmationsunterricht her. Mit den Honoratioren des Ortes endlich brachten ihn Schul- und Kirchensachen in häufige Berührung. Bei jeder Gelegenheit, wo Kenntnisse und höhere Begabung gebraucht wurden, rief man die Hilfe des Pfarrers an. Er mußte Schriftstücke revidieren, Anträge verfassen, und zum Sedanfeste hatte ihn der Kriegerbund ersucht, die Rede am Denkstein der Gefallenen zu halten.

Mit der zunehmenden Einsicht in die mannigfachsten Verhältnisse hatte er an Vertrauen und Sicherheit gewonnen. Früher hatte ihn eine Art geistiger Anämie verhindert, unangenehmen Dingen auf den Leib zu gehen. Diese Zimperlichkeit verlor sich in der ländlich scharfen, mit dem Dufte der frischen Ackerscholle, des tierischen Düngers und menschlichen Schweißes geschwängerten Luft, schnell. Seine verwöhnte Städternatur lernte allmählich in dieser ätzenden Atmosphäre zu atmen. Kräftiger und gesünder stand er da, mit gestärkten Lungen, abgehärteter Haut, geschärften Augen; alle Organe schienen neue Kräfte aus diesem fruchtbaren Humus gesogen zu haben. –

Gerland hatte sich ein Herbarium angelegt, mit dem ursprünglichen Plane, eine möglichst vollzählige Sammlung aller Gräser, Blumen und Kräuter seiner Parochie zusammenzustellen. Bereits war ein hübscher Anfang gemacht. Jetzt ließ er die Hefte unbeachtet in einer Ecke verstauben.

Ein neuer und größerer Plan hatte die frühere Liebhaberei verdrängt; Buch wollte er führen über lebendige Seelen.

Es fehlte weder an tragischen noch an komischen Figuren. Da war der Säufer Heinze, der taube Tobis, die Besprechfrau Tonchen, der junge Gutsbesitzer Finke. Unter den Kindern hatte er seine Lieblinge, die ihren Platz bekamen. Kantor Wenzel nahm einen großen Raum ein. Doktor Haußner war registriert in einer besonderen Abteilung, gleichsam als auswärtiges Mitglied. Über Gertrud hatte er noch nichts dem Papiere anvertraut; was er über sie wußte, bewahrte er im Herzen, als unentweihtes Geheimnis. –

Mit der schriftlichen Niederlegung seiner Gedanken wuchs das schärfere Erkennen des einzelnen Charakters und der Verhältnisse, die ihn gebildet. Und je tiefer er blickte, je mehr verstand er und je mehr verzieh er. –

Als der junge Geistliche frisch von der städtischen Kanzel in die ländliche Gemeinde getreten, war mehr als einmal seine sittliche Entrüstung in heller Lohe aufgeflammt. Zwei Laster waren es vor allem, in denen er den Krebsschaden der ländlichen Verhältnisse zu erkennen glaubte: Trunk und geschlechtliche Sünden.

Übertriebenen Branntweingenuß fand er bei Arm und Reich verbreitet, und von den Folgen vorzeitigen Geschlechtsverkehrs sah er manche zarte Mädchenblüte angefressen. Bei den meisten Bräuten, die zum Altare traten, strafte der körperliche Zustand den Brautkranz Lüge. Enthaltsamkeit schien der Bauer nicht zu kennen. Wie viele Ehen gab es, wo die Frau Jahr für Jahr gebar!

Und wie wurde die Kinderwartung und Erziehung betrieben! Die einfachsten Begriffe der Pädagogik fehlten. Man verzog die Kinder einerseits, gab jedem ihrer unvernünftigen Wünsche nach, dann wieder züchtigte man sie aufs grausamste, ohne Sinn und Verstand, nur nach Laune. In dem, was anständig und erlaubt sei, herrschten die wunderlichsten Begriffe. Erwachsene und Halberwachsene beiderlei Geschlechts schliefen häufig in einem Raume durcheinander, manchmal sogar in einem Bette. Niemand scheute sich, körperliche Verrichtungen in Gegenwart anderer ungeniert vorzunehmen. Die Sprache strotzte von den unflätigsten Schimpfworten. Mittelalterlicher Aberglaube beherrschte das tägliche Leben. Vor dem Arzte fürchtete man sich wie vor dem Gottseibeiuns und griff zu Quacksalberei und Sympathie. Für geistigen Genuß gab es keinen Sinn; jede Verbesserung und Verfeinerung des Lebens und der Sitte scheute und verachtete man als Neuerung. Dabei waren die Leute voll Selbstzufriedenheit und Dünkel; daß es anderswo besser sein könne, wollte niemand glauben. –

Gerland ging die Not dieser Menschen zum Herzen; glühend von Eifer, ließ er sich dazu hinreißen, von der Kanzel herab eine Philippika zu halten; deutlich gab er es den Leuten zu verstehen, was er von den sittlichen Zuständen in der Gemeinde halte.

Gespannt war er auf die Wirkung; aber sie blieb vollständig aus. Nicht einmal Anfeindungen brachte ihm diese Bußpredigt. Die Gemeinde trug den gewöhnlichen verschlafenen Eindruck zur Schau, wie an jedem andern Sonntage. Sein harter Tadel stachelte sie nicht auf; wie Wasser liefen seine Ermahnungen an ihren dicken Häuten ab.

Gelegentlich erfuhr dann Gerland, daß die Breitendorfer an Bußpredigten gewöhnt waren. Das war gerade des verstorbenen Pastors Menke starke Seite gewesen. Und zu der sittlichen Entrüstung auf der Kanzel als Folie: der berüchtigte Lebenswandel des Mannes! Das mochte wohl die Gemeinde gegen geistliche Ermahnung abgebrüht haben.

Diese und andere Beobachtungen führten den jungen Geistlichen zu der Einsicht, daß er auf falschem Wege sei. Solche tiefeingewurzelten Laster mit Drohung und Ermahnung bekämpfen zu wollen, war verfehlt.

Mehr und mehr erkannte er, welcher Abstand zwischen ihm, dem Gebildeten, und diesen Unkultivierten bestand. Sie waren anders geartet, standen auf einer tieferen Stufe, fühlten, dachten, urteilten anders als er, sie hatten ihre besondere Sittenlehre, Rechtsanschauung und Religion. Bei tausend Anlässen drängte sich ihm diese Bemerkung auf, die er anfangs als vermessen weit von sich weisen wollte.

Das gab ihm viel zu denken. Hier war Mensch und Mensch, Christ und Christ, und dennoch grundverschiedene Wesen – ein größerer Unterschied als der, den Rasse, Nation und Konfession begründen – ein Unterschied im Fundamente.

Aber wie den Leuten Licht in ihre Dunkelheit tragen? Wie sie erleuchten und erwärmen und den göttlichen Funken der Menschlichkeit, der in ihnen allen schlummerte, entfachen?

Sie hatten ja Kirche und Schule, wurden mit Bibel, Katechismus und Gesangbuch bekannt gemacht, die Grundsätze des Dekalogs dem kindlichen Gemüte vor allem andern eingeprägt. In der Kirche boten sich die Heils- und Gnadenmittel für jedermann dar – und alles das schon seit Hunderten von Jahren. Was hatte es genützt? Die Leute hatten sich ihre eigne Religion zurechtgestutzt, für ihren Bedarf. Tausend Pforten und Pförtchen gab es, wo Eigennutz, Haß und Unzucht hineinschlüpfen konnten in Christi Religion der Selbstlosigkeit, des Friedens und der Reinheit. Ein guter Christ wollte jeder von ihnen heißen, aber von einem Eindringen in den tieferen Sinn des Evangelismus und nun gar von einem Leben im christlichen Geiste, war keine Rede.

Kirche und Glaube fiel bei diesen Leuten zusammen. Eine Trennung zwischen Kern und Schale vorzunehmen, ging über ihren Horizont. Die Kirchlichkeit war ihnen eine eingebläute Angewohnheit.

Man mußte nur den Verlauf eines Sonntags erleben. Schon am Sonnabend Abend ließ man sich den Wochenbart abnehmen, Sonntag früh wurde ein frisches Hemd und die Feiertagskleider angelegt, das Gesangbuch aus Truhe oder Schrank hervorgesucht, die Frauen pflückten sich kleine Sträuße – womöglich von starkduftenden Kräutern, die an Stelle des Flacons unter die Nase gehalten wurden, um den Kirchenschlaf zu unterbrechen. – So vorbereitet trat man den Weg zum Gotteshause an, bei jedem Wetter, zu jeder Jahreszeit. Ohne triftigen Grund blieb keiner gern fern; Gerland hatte anfangs seine helle Freude gehabt an dem eifrigen Kirchenbesuch. Allmählich aber verflüchtigten sich die Illusionen, er wurde sich klar über den Geist, aus dem diese rege Frömmigkeit stamme. Viele von denen, die das Schiff und die Emporen so dicht füllten, vermochte kaum die Liturgie wach zu erhalten, während der Predigt nickten sie unfehlbar ein. Bei der Aufkündigung dagegen fehlte ihm gewiß kein Ohr. Wer das Amen der Predigt etwa verschlafen hatte, wurde von dem Nachbar geweckt, denn die Nachrichten über den lieben Nächsten: die Geburts- und Todes- und Trauungsmitteilungen waren der interessantere Teil des Gottesdienstes. – Er hatte oft das Gefühl, daß er Perlen vor die Säue werfe. Um sich packen, begeistern oder umwandeln zu lassen, kam keiner an diese Stätte. Gewohnheit, nicht Hunger, nicht Heilsbedürfnis und Drang nach innerer Erleuchtung trieb sie zu ihm. Und als er gar erleben mußte, wie so mancher dieser mit dem Anschein der Würde und Anständigkeit begonnenen Sonntage im Gasthofe mit Tanz, Trunkenheit und Schlägerei endete, da war er geneigt, nicht mehr viel auf den regen Zulauf zu seiner Predigt zu geben. –

Von der Kanzel aus an ihre Herzen zu dringen, war nicht möglich. Der Gottesdienst, wie ihn die Agende vorschrieb, kam ihm wie ein altes, stumpf gewordenes Schwert vor; er begann sich nach schärferen Waffen umzusehen. Er hatte oft das Gefühl, als müsse er von dieser Kanzel herabsteigen, die den Priester ebensosehr von der Gemeinde entfernt, wie sie ihn über sie erhebt – herab auf gleichen Boden mit ihnen, um, befreit von allem Formelwesen, Mensch gegen Mensch, einfach und natürlich zu ihnen zu sprechen.

Persönliches Beispiel bedeutete sehr viel; aber er allein war zu wenig. – Viele Verhältnisse entzogen sich ihm vollständig. Er konnte nicht zu den Frauen gehen und ihnen Reinlichkeit lehren, oder sie zur Enthaltsamkeit im Geschlechtsgenusse ermahnen; er konnte nicht Unterricht in Kinderpflege, Erziehung und Krankenwartung erteilen.

Hier mußte weibliche Hilfe herbei. Ein stiller, zarter, frauenhafter Einfluß würde in diesen intimen Angelegenheiten größeres wirken, als zürnender Eifer oder trockene Belehrung.

Mehr und mehr verliebte er sich in den Gedanken, eine Gemeindediakonisse anzustellen. Im Hintergrunde standen noch andere weitschauende Pläne: ein Krankenhaus für den Ort – aber das sollte erst später kommen.

Eine Gemeindediakonisse! – Er sah im Geiste die freundliche, tröstende Gestalt, ihr bescheidenes, mildes Walten an Kranken- und Sterbelagern, beim Kindbett und in der Wochenstube.

Wie würde von einer solchen edlen, gütigen, selbstlosen Persönlichkeit, wie er sie träumte, Reinheit, Gesundheit und Sittsamkeit ausströmen und sich verbreiten unter den Verwahrlosten. –

Die Ausführung dieses neuesten Planes war nicht ohne Geldmittel durchzuführen. Sie würden beschafft werden, man mußte nur an die richtigen Thüren klopfen. Zur rechten Zeit fielen ihm in der Provinzialhauptstadt einige ältere wohlhabende Damen ein, die seine Predigten eifrig besucht hatten. Eine oder die andere dieser ehemaligen Verehrerinnen entsann sich seiner doch vielleicht noch, und würde ihre mildthätige Hand öffnen, wenn er mit dem Klingelbeutel nahte – dessen war er sicher.

Dann besaß er ja auch selbst ein kleines Kapital, von einem unverheirateten Onkel ererbt; bisher hatte er nur die Zinsen davon verbraucht. Wenn er sich einschränkte, konnte er zur Not von seinem Gehalte und dem Ertrage des Pfarrackers leben. Er hatte einige Liebhabereien, die einigermaßen ins Geld liefen: er liebte es, sich gut zu kleiden, und kaufte sich gern hin und wieder ein Buch. Auch für seine Gartenpassion ließ er Geld aufgehen. In Zukunft wollte er alle diese Ausgaben nach Möglichkeit einschränken, was er nur irgend ersparen konnte, für seinen großen Zweck zurücklegen. –

Vor allen Dingen aber wollte er die Gemeinde selbst zu einer Beisteuer heranziehen. Soviel Einsicht durfte er den Vätern von Breitendorf doch wohl zutrauen, daß sie für einen Zweck, dessen Ersprießlichkeit klar in die Augen sprang, Hilfe übrig haben würden.

* * *

Zum nicht geringen Erstaunen der Breitendorfer las man im Laufzettel, der die Kirchen- und Gemeinderatsmitglieder zur gemeinsamen Sitzung in die Sakristei einlud: »Punkt drei der Beratung, Antrag des Herrn Pfarrers, Berufung und Anstellung einer Gemeindediakonisse betreffend.«

Man steckte die Köpfe zusammen, manch einer fragte, was das sei, eine Gemeindediakonisse. Fremd wie das Wort, war den guten Leuten der Gedanke. Es wurde viel darüber hin und her gesprochen, im Kretscham und in den Holzstuben. Viele lachten, manche räsonnierten. Die Besprechfrau Tonchen, das Dorforakel, die mit Sympathie und Wunderkuren eine schwunghafte Praxis trieb, zog von Haus zu Haus und besprach mit den Weibsleuten die unerhörte Absicht des Pfarrn, »ene Diakunissen reizubringen.«

»Die sein duch katholsch,« hieß es, »freilch sein die katholsch de Diakunissen – se giehn ju wie de Nunnen – schwarz und weeß.«

Der Windmüller, welcher in seiner Handwerksburschenzeit irgendwo in der Fremde krank geworden und im Lazarett gepflegt worden war, bestätigte die Behauptung, alle Diakonissen seien katholisch. Also stand es fortan fest, der Pfarrer wolle die Gemeinde römisch machen. –

Die Sitzung war die bestbesuchteste, die Gerland bisher in Breitendorf erlebt. Beide Körperschaften, der bürgerliche und der kirchliche Gemeinderat, waren vollzählig in der Sakristei erschienen. Gerland hatte absichtlich vorher mit niemandem über seinen Antrag gesprochen. Die Leute sollten überrascht, womöglich im Sturme gewonnen werden; er hoffte etwas von seiner Beredsamkeit.

Den ersten Punkt der Tagesordnung bildete die Aufnahme und Verpflichtung des Gutsbesitzers Finke in den bürgerlichen Gemeinderat; der junge Bauer war an Stelle seines verstorbenen Vaters gewählt worden.

Hiermit hatte der Geistliche nichts zu thun. Auch Punkt zwei: Amortisierung einer bei Gelegenheit des Schulumbaus aufgenommenen Schuld berührte ihn nicht.

Als es endlich soweit war, erhob sich Gerland und hielt unter gespannter Aufmerksamkeit der Gemeinde- und Kirchenältesten eine wohlvorbereitete Rede.

Er legte zunächst die Notwendigkeit seines Vorschlages dar, eine Gemeindeschwester zu berufen. Mit möglichster Schonung wies er auf die Mängel hin, die in der Gesundheitspflege, Reinlichkeit, Krankenbehandlung und Kinderwartung am Orte herrschten. Der zweite Teil seiner Rede betraf die Möglichkeit einer Besserung solcher Zustände. Er bat um Vorschläge aus der Mitte der Versammlung; der seine bestehe in Anstellung einer gelernten Krankenpflegerin. Schließlich verlas er einen von ihm aufgestellten Kostenanschlag: Gehalt, Wohnung und Verpflegung der Pflegerin betreffend. Er schloß mit der Erklärung, daß er für die Hälfte des veranschlagten Jahresgelds persönlich aufkommen werde.

Der erste Redner, welcher nach ihm sprach, der Gemeindevorsteher, ging nicht gerade mit Enthusiasmus auf den Antrag des Geistlichen ein. Bedenken machte er geltend, wie das Geld aufzutreiben sein würde, auch hatte er seine Zweifel, ob sich die Leute von einer »solchen Dame«, wie er sich ausdrückte, pflegen lassen möchten. Er erwähnte, daß man ja einen Kreisphysikus in der Stadt habe, und daß es öffentliche Krankenhäuser gebe.

Andere Redner, die nach dem Gemeindevorsteher sprachen, hatten die Absicht des Geistlichen offenbar völlig mißverstanden. Sie kamen mit allerhand Einwürfen, die weit an dem Antrage vorbeischossen. Gerland hatte Mühe, die Debatte, welche sich zu verzetteln drohte, immer wieder zum eigentlichen Gegenstande zurückzuführen.

Die Aussichten, seinen Antrag durchzubringen, wurden immer geringer; bisher hatte Gerland nur Bedenken und Einwände zu hören bekommen, gewonnen schien er niemanden zu haben.

Nur noch ein Redner stand auf der Liste, der Schuster Herklotz. Gerland war äußerst gespannt, wie sich der Mann zu seiner Idee stellen werde. Herklotz war, was die Bauern einen »Lieberalen« nennen. Die kleinen Leute hatten ihn in den Gemeinderat gewählt. Er war berüchtigt seiner »ratenkahlen« Ansichten wegen. Der Geistliche hatte erst kürzlich in unliebsamer Angelegenheit mit Herklotz zu thun gehabt; es war nötig gewesen, den Mann zu ermahnen, sein jüngstes, bereits dreijähriges Kind zur Taufe zu bringen. Die Ermahnung hatte Frucht getragen; aber der Vater selbst war nicht zum Taufakte erschienen.

Langsam erhob sich der kleine, verwachsene Mann. Zwischen den hohen Schultern des Buckeligen saß ein unproportioniert großer Kopf, sein schräg liegendes, unstetes Auge sagte nichts Gutes. Ehe er zu sprechen begann, fuhr er sich ein paarmal, wie zur Vorbereitung, mit der klobigen Rechten über den breiten Mund, dann hob er an mit krähendem Organe.

Gift und Galle lösten sich sprudelnd von seiner Zunge; ein Satz rannte in den andern hinüber, er überhaspelte sich in Gedanken und Worten, nahm sich kaum Zeit zum Schlucken und Atemholen, immer wieder fuhr die Hand über die nassen Lippen, und hammerartig arbeiteten die langen Arme auf und ab.

Gerland erschrak über das Unmaß von Bosheit, Haß und Feindschaft, das sich da in der Seele eines Menschen gegen ihn angesammelt hatte.

Wenn überhaupt ein Sinn aus dieser wilden, unzusammenhängenden Rede herauszuhören war, so schien es der: dem Geistlichen sei Hochmut und Vermessenheit vorzuwerfen. Wie könne er sich unterstehen, die Breitendorfer herunter zu machen, ihnen Unwissenheit und Unsittlichkeit nachzusagen und zu behaupten, sie erzögen ihre Kinder schlecht? Wie komme der Herr Pastor dazu! Er sei ja ein ganz junger Mann – was verstehe er von Kindererziehung und dergleichen? Er appelliere an die versammelten Gemeindeväter, ob sie schlechte und unwissende Leute seien, wie der Pfarrer behauptet hätte. Der Herr Pastor möge sich doch um das kümmern, was seines Amtes sei, und der Gemeindevertretung nicht ins Handwerk pfuschen. Sie wüßten schon, wo sie der Schuh drücke – das brauchten ihnen nicht erst gelehrte Herren zu sagen – zu viel Steuern hätten sie; und da komme der Pfarrer auch noch mit einer neuen. Für einen solchen Herrn, der sich von der Gemeinde ernähren lasse, sei es freilich leicht, kostspielige Anträge zu machen. Er und die anderen Gemeinderatsmitglieder seien Familienväter, die sich und ihre Kinder von ihrer Hände Arbeit ernähren müßten. Neue Ausgaben für allerhand Unfug wollten sie nicht. –

Damit schloß dieser dörfische Thersites seine Rede.

Die Worte waren nicht ohne Eindruck geblieben. Sonst als der Vertreter umstürzender Ansichten von den wohlsituierten Leuten, die den größeren Teil der Versammlung ausmachten, gehaßt, hatte Herklotz diesmal eine Saite angeschlagen, die auch den anwesenden Gutsbesitzern und Bauern angenehm klang. Den Landmann berührt nichts unangenehmer, als wenn seine Einrichtungen, mögen sie noch so übel sein, bemäkelt werden; und nun gar von einem »Gestudierten« läßt er sich Belehrung nur sehr ungern gefallen. Denn die Gebildeten sind Nichtsthuer, die auf Kosten des arbeitenden Standes leben.

Und so war es denn den meisten der Anwesenden gar nicht unlieb, daß der Pastor sein Fett wegbekommen hatte; er war ihnen überhaupt viel zu apart und hochmütig der Pfarrer. Daß er neulich den Leichenschmaus beim Begräbnis des alten Finkenbauer abgewiesen hatte, wurde ihm von vielen nicht vergessen; es war ihm ganz gesund, daß er einmal geduckt wurde. Die ungehobelte Grobheit des Schusters hatte sie im stillen belustigt. Man stieß sich beifällig an, zwinkerte sich mit den Augen zu. »Der hat's dem Pfarrn aber mal ordentlich gegeben,« das war das allgemeine Gefühl, als Herklotz endete.

Gerland war kreidebleich geworden. Soviel Niedertracht und Bosheit verwirrte ihn vollständig. Mit Schrecken fühlte er Ruhe und klares Denken von sich weichen, deren er in diesem Augenblicke doch so sehr bedurfte. Was sollte er auf diese hämischen Anschuldigungen erwidern? Solcher Perfidie gegenüber war man ja waffenlos. Er fühlte die Ohnmacht des anständigen Menschen gegen niedrige Gesinnung.

Und doch mußte er irgend etwas erwidern, sonst stand er in den Augen der Leute gerichtet da. Er sah es aus ihren spöttischen Mienen, daß sie auf Seiten seines Angreifers standen. –

Jetzt schwieg jener. – Ruhe! nur Ruhe! – Er mußte ruhig werden.

Mit bebender Stimme begann er seine Widerlegung; wie er voraus gewußt hatte, unglücklich – hastig, nicht frei von persönlicher Gekränktheit, nicht überlegen. Er fühlte, daß er sich in den Augen seiner Zuhörer nur immer mehr verwickelte, er las es aus ihren schadenfrohen Blicken.

Er setzte sich.

Die Anständigeren unter den Leuten mochten vielleicht etwas wie Mitleid mit ihm empfinden; die große Masse triumphierte und lachte sich ins Fäustchen.

Die Abstimmung ergab nicht eine einzige Stimme für den Antrag des Geistlichen. –



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