Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Eines Mittags, Gerland saß noch bei Tisch mit Pastorin Menke, wurde ihm durch die Aufwartung ein Knabe gemeldet, der mit ihm sprechen wolle. Der Geistliche ließ den Jungen der Kürze halber sogleich ins Eßzimmer rufen. Er erkannte in dem halbwüchsigen, schlechtgenährten Bürschchen eines von den zahlreichen Enkelkindern der alten Marzliebs-Hanne. Der Junge blieb mit verschüchterter Miene an der Thür stehen, die Mütze in der Hand drehend, auf seine bestaubten Zehen blickend.

Gerland stand vom Tische auf und trat zu ihm: »Was hast du mir auszurichten, mein Junge?«

»De Grußemutter läßt och schiene bitten, und Se mechten ack schnell kimma, 's Christel wire su sihre geringe.«

»Wie, der kleinen Christel geht es schlecht? Ich werde sofort kommen. – Frau Pastorin, geben Sie dem Jungen einstweilen etwas zu essen, hier gleich vom Tische.« Damit eilte Gerland auf sein Zimmer, um sich für den Gang zurechtzumachen.

»Ich habe den Bengel in den Hausflur hinausgeschickt,« sagte die Pastorin, als Gerland in das Eßzimmer zurückkehrte. –

»Warum das?« –

»Er war mir hier zu schmutzig; draußen steht er und schlingt.«

Gerland verdroß ihre Art, verächtlich von der Armut zu sprechen. Gern hätte er das Kind wieder ins Zimmer geholt, schon um ihr eine Lektion zu erteilen; aber heute war dazu keine Zeit.

Er faßte den Knaben, der seinen Teller inzwischen blank ausgelöffelt hatte, an der Hand und verließ mit ihm das Pfarrhaus. Heute wählte der Geistliche den kürzeren Weg durch die Felder, die Straße, welche an Doktor Haußners Grundstück vorbeiführte, vermeidend.

Eine große Anzahl Leute waren in der Ernte; an vielen Stellen erhoben sich schon die Kornpuppen.

Die alte Märzliebs-Hanne hatte ihn vom Hause aus bemerkt und war ihm entgegengegangen. Sie weinte, »'s gieht uf's latzte, Herr Paster,« meinte sie unter Schluchzen; »'s gieht uf's latzte mit unsen kleenen Madel.«

Gerland redete der Alten zu und verwies sie auf Gottes Güte und Allmacht.

»Ich weeß, Herr Paster, ich weeß. Ich hobe ju och su gebatet, aber's hilft nischt, se hoat's Fieber zu sihre. Ne, ne, das überlab'ch ne, wenn mer der lieba Gutt, und er nimmt mer das Madel!«

Sie waren in die Holzstube getreten; das Zimmer schien auf den ersten Blick leer zu sein. »De andern sein alle im Kurne, mir hoan a Scheffel a zwee gepacht.«

In einem Korbe, der mit zwei Stricken an dem Hauptträger befestigt war, lag ein kleines Kind, einen Zulp im Munde.

Als Gerland zufällig einen Blick nach dem Ofen warf, erblickte er dort ein paar häßliche Füße aus der Hölle herausgucken. Als er näher zusah, erkannte er den Hausvater, der wohl sein Schläfchen hielt.

Der Alten war es offenbar nicht lieb, daß er diese Entdeckung gemacht hatte. »Kommen Se ack hier nei.« Damit wies sie nach der Kammer. »Ibrigens Haußnern sene Gertrud is och do.«

Der Geistliche erschrak; aber es war doch mehr freudige Überraschung.

Er fand die Tochter des Arztes neben dem Bette sitzend; sie erhob sich zum Gruße, als er eintrat, dann senkte sie den Blick sofort wieder.

Gerland erkannte, daß der Fall ernst sei; das Gesicht der Kranken war hochrot und gedunsen, die Lippen bläulich und vertrocknet. Sie verdrehte die Augen, deren Pupillen häufig ganz im Kopfe verschwanden. Unter dem leichten Tuche, mit dem er zugedeckt, wurde der Körper in krampfartigen Schauern hin und her geworfen. Gertrud Haußner hielt die Hände der Kranken mit sanfter Gewalt auf die Bettdecke gedrückt.

»Keen Bette will se nich uf sich leden,« erklärte die Alte. »Mir hoan se urndlich feste halen missa und geschriechen hoat se vurden, daß de Nubern zusammdeliefen.«

Gertrud hatte den Hut abgelegt; Gerland sah zum ersten Male ihren schön geformten Kopf und den schlichten, blonden Scheitel.

Er wagte es, sie anzureden – unter Herzklopfen. Eine Frage, den Zustand der Patientin betreffend, stellte er. Sie antwortete mit leiser Stimme.

Die Kranke verzog jetzt den Mund schmerzlich, und stieß winselnde Töne aus, die in einem hilflosen Röcheln endeten.

»Gutt, ach, lieber Gutt in deinen Himmel huben,« betete die Alte, das verwitterte Gesicht ganz von Thränen überströmt, »nee laß mer ack dos Madel, nimm ack mich lieber zu dir, ich bi alt und nischt meh nütze uf der Walt, aber das junga Laben – lieber Gutt!« – Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Laßt uns beten!« sagte Gerland.

Er kniete an dem Bette nieder, faltete die Hände, richtete den Blick aufwärts und sprach ein kurzes, inbrünstiges Gebet, wie es ihm der Augenblick eingab.

Als er aufstand, bemerkte er, daß auch Gertrud die Hände gefaltet hatte; er sah, daß ihre Augen groß waren und glänzten. Sie blickte weg, als sie seinem Blicke begegnete und machte sich wieder an der Kranken zu schaffen.

Gerland fragte die Alte, was eigentlich die Verschlimmerung im Zustande des Kindes herbeigeführt habe.

Schon immer habe die Kranke gebettelt, erfuhr er, man möchte ihr doch einmal ihre Lieblingsspeise zubereiten: ›Quargkleesa mit Speck‹. Bisher hatte es immer an Mitteln gefehlt, um dem Kinde den Wunsch zu erfüllen, endlich war soviel Geld im Hause gewesen, um sich einen allgemeinen Festtag zu gönnen. Zu einer Art Feier war dieses Mahl geworden; die Branntweinflasche hatte nicht gefehlt. Die besten Bissen wurden der Rekonvalescentin vorgelegt, und sie hatte mit Heißhunger gegessen. Mit Vergnügen hatten sie alle zugesehen, wie es dem Christel schmeckte. Soviele gute und seltene Sachen: Quark, Zucker, Gewürz, Speck, meinten diese Thoren, müßten die Genesende vollends herstellen; sie ahnten nicht, was sie angerichtet in ihrer beschränkten Gutmütigkeit. Und als das Kind vor ihnen lag, vom Fieber geschüttelt, ächzend und in Schmerzen sich windend, standen sie ratlos da und begriffen nicht, was geschehen sei.

Der Vater des sterbenden Kindes hatte sich bei Gelegenheit dieses Festes einen Rausch angetrunken, von dem er noch nicht wieder erwacht war. –

Der Geistliche fühlte sich um eine Illusion ärmer. Das Verhältnis, in dem er zu dem kranken Kinde gestanden, hatte er von Anfang an als etwas Besonderes betrachtet, er war geneigt gewesen, seinem Gebete bedeutenden Einfluß auf die Genesung der Kranken zuzuschreiben; eine überirdische Macht schien ihre Hand im Spiele gehabt zu haben. Die Lösung, vor der er jetzt stand, war beredt. Die Trivialität dieses Abschlusses vor allem verletzte ihn.

Daß das Kind im Sterben liege, war kaum noch zweifelhaft.

Er äußerte, daß es gut sein möchte, die übrige Familie, vor allen: die Eltern des Kindes, herbeizurufen. Alle Anzeichen ließen darauf, schließen, daß es sich hier nur noch um Viertelstunden handeln könne.

Die alte Hanne rief ihren Enkel, denselben, der Gerland heraufgeleitet hatte, herbei und gab ihm den Auftrag, die übrigen Familienmitglieder zu holen.

Im Nebenzimmer fing jetzt der Säugling an, gottserbärmlich zu schreien; mit seinem Gummilutsch alleingelassen, mochte ihm die Zeit lang geworden sein. Die Alte lief sofort hinüber. Der Geistliche und Gertrud hörten, wie sie das Kind beruhigte. Als ihr dies gelungen war, schien sie Versuche zu machen, den Sohn aus seinem Rausche aufzuwecken.

Die Sterbende, welche für einige Minuten wie bewußtlos dagelegen hatte, bekam jetzt einen erneuten Anfall; die Augen erweiterten sich, der Augapfel trat aus seiner Höhle, sie krampfte die Bettdecke in ihren Händen zusammen und zog die Beine zum Oberkörper empor, biß die Zähne aufeinander, hin und wieder heisere Schmerzensschreie ausstoßend.

Dazwischen vernahm man das ärgerliche Keifen der Alten im Nebenzimmer und die unzufriedenen, grunzenden Töne des Betrunkenen, der sich nicht in seiner Ruhe stören lassen wollte.

Die Tochter des Arztes verlor ihre Ruhe nicht. Immer wieder zog sie der Kranken die Decke empor, welche die Fiebernde nicht mehr auf sich dulden wollte, stützte ihr den Kopf und strich das zerzauste Haar zurecht; mit jenem Instinkte der Frauen für das Wohlanständige, der sie selbst in außergewöhnlichster Lage nicht verläßt.

Gerland folgte voll wachsender Bewunderung jeder ihrer weichen, abgerundeten Bewegungen.

Die Kranke bäumte sich eben wieder hoch im Bette auf und wäre unfehlbar hinausgestürzt, wenn nicht Gertrud und der Geistliche sie mit vereinten Kräften gehalten hätten.

»Kann man denn gar nichts thun?« rief Gerland entsetzt.

»Ich werde meinen Vater holen,« sagte Gertrud in plötzlichem Entschlusse; sie setzte ihren Hut auf und erklärte der alten Hanne, die eben wieder eintrat, ihre Absicht.

»Ju ju – rufen se ack dan Vater, Gertrud – sein Se so gutt, vielleicht kimmt ar und ar bredt nuch woas mit dan Madel.« –

Gertrud verließ das Haus.

Gerland bemerkte auf einmal, daß in der Kammer eine Schwüle herrschte, die er nicht länger ertragen zu können glaubte. Er trat vor die vordere Thür und blickte dem davoneilenden Mädchen nach, bis sie seinen Augen verschwand. Seine Gedanken folgten ihr noch weiter.

Nein, diese schlichten, kindlichen Züge konnten nicht heucheln; sie war das, was sie schien: liebevoll und gut. Und noch eine andere Überzeugung hegte er, daß sie unschuldig sei und unverdorben – rein wie ein Bergquell.

Und doch blieb sie ihm ein Rätsel.

Sie war nun einmal Doktor Haußners Tochter. Wie einen körperlichen Schmerz empfand der Geistliche diese Thatsache, als er an das liebliche, sympathische Geschöpf dachte, das eben von hier gegangen.

Immer wieder mußte er an den rätselhaften Ausdruck ihres Gesichtes zurückdenken, wie er es für einen Augenblick gesehen, als er sich vom Beten erhob. Es hatte noch mehr als Innigkeit in ihrem Blicke gelegen. Vielleicht legte er zuviel in diesen Ausdruck, sah etwas, das nicht vorhanden war – aber vergessen konnte er's nicht: die gefalteten Hände, die frommen, innigen Augen.

Dann erwog er, wie er dem Arzte, nach dem, was sich ereignet, gegenübertreten solle. Zurückhaltung schien das Gebotene. Doktor Haußner sollte keinen zweiten Triumph feiern; die Demütigung von neulich schmerzte noch. –

Er wurde durch die Angehörigen des kranken Kindes, die jetzt herbei kamen, aus seinem Sinnen gerissen; allen voran lief die Mutter, in bloßen Armen, ein Tuch über dem Haar.

Es war die höchste Zeit, daß sie kamen. Gerland bemerkte die außerordentliche Veränderung, die während der letzten halben Stunde mit dem Kinde vor sich gegangen. Das Gesicht schien verlängert, zeigte jetzt eine aschfahle Färbung, die Augen hatten den fieberischen Glanz verloren, der Körper lag ruhig – wie erstarrt.

Die Mutter rief das Kind mit ihrer rauhen Stimme bei Namen, faßte die Sterbende an der Schulter und rüttelte sie. Das Mädchen wandte den Kopf und starrte die Frau an; kein Zeichen in dem fahlen Gesichte deutete darauf, daß sie die Mutter wiedererkenne.

Nun kamen auch die Geschwister herbei, das älteste Mädchen mit einem ihrer Kinder auf dem Arme, die Kleineren mit verdutzten, unverständigen Mienen. Ein großes Weinen begann, als sie den Zustand der Schwester zu begreifen anfingen.

Auch der Vater, der seinen Rausch nun endlich ausgeschlafen, steckte den Kopf um die Ecke, dann wagte er sich, nur mit Hemd und Hose bekleidet, näher heran. Anfangs schien er nicht recht zu wissen, um was es sich handle, stimmte aber bald in das allgemeine Lamento ein.

Die Mutter des Kindes wahrte noch am meisten die Fassung, Sie äußerte zu Gerland über den Fall philosophierend: »Und doas kimmt nu alls vu dan Bissel Assen. Mer denkt, mer tut dan Kinde woas Gutts oan, und mer ließen se assen, weil's er su sihre schmacken dhat, doderweilen frißt se sich an Tud oan Hals. – Nee, aber och suwas – wer denkt denne gleich suwas.« – Und sich zu ihrem Manne wendend, der jetzt in haltlosem Schmerze über der Sterbenden lag und sie jammernd liebkoste: »Moan, laß ack dos Kind in Ruha, laß se ack. Mit dar wird nischt mih, das sah'ch nu schun. Laß se ack in Frieden gihn.«

»Mei Christel – nee, du gutts, kleens Dingla,« heulte der Vater, »gih ack ne vun uns, mir hoan dich ju alle su lieb!«

Die alte Hanne war an den Geistlichen herangetreten, ihr weißes Haupt zitterte; sie faßte seine Hände und meinte: »Wulln Se nich a Gebat für se sprecha, zum Heilande.«

Gerland entsprach ihrem Wunsche; nachdem er sich Ruhe verschafft, sprach er das »Jesus meine Zuversicht«. Er fügte dem Liede ein Paar kurze Worte hinzu und schloß mit dem Vaterunser, in das er die Anwesenden einzufallen aufforderte.

Mit bebenden Lippen sprachen sie ihm das Gebet des Herrn nach; zerknirscht, als elende Schächer standen sie da. Sie fühlten die Schwingen des Todesengels über dem Haupte. Hier, wo der Gedanke an die eigne Hinfälligkeit so unabweisbar vor sie hintrat, wo das Grauen vor der ewigen Nacht, in die auch sie einmal hinabgestoßen werden sollten, sie überwältigte, in diesem Augenblicke waren sie wirklich fromm, da beugten sie die Kniee. Die sonst so leichtsinnigen, gleichgiltigen, stumpfen Geister waren im innersten ergriffen und zerknirscht, bereit zu glauben und zu thun, was immer für ihr Seelenheil ersprießlich schien.

Es war nicht das erste Mal, daß Gerland diese Erscheinung an Sterbelagern beobachtete. –

Die lautlose Stille, die nach dem gemeinsam gesprochenen Gebete eingetreten, wurde durch Schritte im Gange und ein kräftiges Pochen an der Thür des vordern Zimmers unterbrochen. Gerland wußte, wer draußen stehe.

Doktor Haußner trat in die Holzstube, gefolgt von Gertrud. Mit seinen grauen Stahlaugen, die etwas von der Sonde an sich hatten, musterte er die Anwesenden; ein rascher Seitenblick streifte auch den Geistlichen. Gerland wartete, ob der Arzt ihn grüßen werde. Da er nichts dergleichen wahrnahm, blieb auch sein Rücken steif.

Gertrud hatte inzwischen den Vater zu der Kranken geführt. Das Kind lag da, den Hinterkopf in die Kissen gebohrt, mit erhobenem Kinn, zusammengebissenen Zähnen, die Augen starr nach aufwärts gerichtet.

Haußner musterte die Erscheinung, er sagte kein Wort. Eine ihrer Hände ergriff er am Gelenk mit prüfender Miene; er hob die Hand wie einen Gegenstand und ließ sie los – sie fiel schwer auf die Decke zurück.

»Hm,« – meinte er dann, sich zu seiner Tochter wendend, »ich bin umsonst gekommen, mein Kind.«

Die Familienmitglieder drängten sich heran; einzelne hatten noch nicht begriffen, was geschehen. Die alte Großmutter fragte, ob der Arzt nicht was verschreiben wolle.

»Hier hilft keine Arznei mehr,« meinte Haußner trocken, »das Kind ist tot.« –

Schrecken und Schmerz äußerten sich sehr verschieden bei den Einzelnen. Gerland hatte nur Augen für eine: Gertrud.

Er sah eine sanfte Röte ihr weißes Gesicht überziehen und ihre großen Augen sich mit Thränen füllen; kein Zeichen von Angst oder Entsetzen trübte die kindlichen Züge. Ihr Kinn erzitterte, und ein paar Thränen liefen über die Wangen; das war alles, dann hatte sie auch schon ihr Gleichgewicht wiedergefunden.

Gerland sah sie zu der alten Hanne treten, die wie vom Schlage gerührt, starr, mit leeren Augen an der Leiche stand.

Die andern liefen kopflos umher, jammerten und schwatzten sinnlos durcheinander, stellten Fragen an den Arzt und den Geistlichen, ohne Antwort abzuwarten.

Haußner machte eine kurze, ungeduldige Bewegung mit dem Kopfe; er schien unzufrieden, daß er zwecklos gerufen worden war. Er gab seiner Tochter ein Zeichen, daß er zu gehen wünsche. Gertrud verließ sofort die alte Frau und kam zu ihm – ein gehorsames Kind.

Als würde etwas Teures unwiederbringlich von ihm gerissen, war es dem Geistlichen, als er sie mit dem Vater von dannen gehen sah.



 << zurück weiter >>