Wilhelm von Polenz
Der Pfarrer von Breitendorf Erster Band
Wilhelm von Polenz

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X.

Es war Sonntag, Pfarrer Gerland saß in seiner Gartenlaube und las; er hatte wieder einmal seinen Kant vorgenommen, der sonst auf dem Bücherbrette verstaubte. Die Laube in der Ecke des Gartens war sein Lieblingsplatz, hier konnte er lesen, von niemandem belauscht und von nichts gestört, als höchstens einmal von einem Falter, der sich zu ihm verirrte und ihn mit Surren umschwärmte. Hinter ihm schlief das Dorf, kein Wagen rasselte zum Feiertage auf der Dorfstraße, kein Webstuhl klapperte, nur hin und wieder schlug ein Hund an, weithin hörbar durch die Stille, und von der Turmuhr fiel der Stundenschlag in regelmäßigen Zwischenräumen. Gerland liebte es, in dem Stahlbade Kantscher Philosophie von Zeit zu Zeit seinen Geist zu stärken; aber heute kam der junge Geistliche zu keiner rechten Aufmerksamkeit. Vor ihm auf dem wackeligen Holztische lag das alte Buch, das er als Student antiquarisch erworben hatte. Er blickte über die gelben Blätter hinaus in den Garten nach seinen Rosenstöcken, die eben zum zweiten Male blühen wollten. Jeder Windhauch, der durch die offene Thür zu ihm hereindrang, war geschwängert mit betäubendem Blütenduft. Jetzt ging die Thür im Pfarrhause, die Klingel spielte die ihm so wohl bekannte Tonleiter auf- und abwärts; er lauschte, Schritte näherten sich. Die kräftige Gestalt der Pastorswitwe erschien in der Thür; sie trug ein bunt karriertes Kleid und einen Hut mit rosa Blumen. Gerland hatte sich schon oft im stillen über ihre Vorliebe für schreiende Farben belustigt. »Ich gehe aus,« sagte sie und verschwand lächelnd. Er hörte, wie sie durch das Gartenthor schritt; sie ging wohl zu ihren Freundinnen ins Dorf in diesem Aufzuge. Seine Gedanken sprangen von ihr auf den verstorbenen Pastor über. Menke hatte diese Laube angelegt. Sie hatte ihm gesagt, wie manche Stunde sie hier mit ihrem Seligen zugebracht habe. Wenn die Laube erzählen könnte! – – Gerland hatte ein Bild von Menke gesehen: ein grobsinnliches Gesicht, aus dem nichts sprach, als niedere Triebe – Weg damit! Er wollte lesen. –

Bald störten ihn ein paar kleine Vögel, die im Weißdorn nebenan mit impertinentem Zwitschern sich belustigten. Er stand auf; es schienen Graumeisen zu sein. Wieder setzte er sich und fuhr zu lesen fort, wo er aufgehört hatte. Wie kam es nur, daß, alle diese nüchternen, gedruckten Zeichen verlöschend, plötzlich die Gestalt der schönen Pastorin von Annenbad vor ihm stand, mit roten Lippen und unkeuschen Augen, wie sie ihn häufig bei Tag- und Nachtzeiten verfolgte. Aber heute sollte ihn diese Vision nicht stören; er zwang seine Gedanken in das Buch.

Doch er war nicht in der Stimmung für methaphysische Studien. Diese fleischlosen Abstraktionen sahen ihn an, wie Leichengesichter – eine Gesellschaft, in der er nichts zu suchen hatte.

Der Duft von Rosen und Reseda schien stärker zu werden, je mehr der Abend hereinsank; die Vögel lärmten in den Büschen. Die Dämmerung verwischte die Zeilen vor seinen Augen; er legte das Buch weg und träumte in den Abend hinein. –

Jetzt ertönten Schritte auf dem Fußsteige draußen, der an dem pastorlichen Gartenzaune vorbeiführte; junge Mädchen mußten es sein, sie schwatzten und kicherten. Nicht lange darauf kam ein Troß Burschen lachend und lärmend desselben Weges. Gerland wußte, wo sie sich hinbegaben. Der Weg führte auf eine bewaldete Kuppe hinter dem Dorfe, welche Gemeindeeigentum war. Dieses Büschchen bildete ein beliebtes Stelldichein für die Jugend des Ortes. Jeden Sonntag, im Laufe des Sommers, sah er die Jünglinge und Jungfrauen von Breitendorf gegen Abend dort hinausziehen.

Er hatte mit dem Gemeindevorsteher und einigen Kirchenvätern bereits darüber Rücksprache genommen, wie dieser Unsitte zu steuern sei; aber es war ihm erwidert worden, daß seit unvordenklicher Zeit sich die Breitendorfer Buben und Mädchen in dem Gemeindewäldchen getroffen hätten – fast schien es, als habe er da eine altehrwürdige Institution des Ortes angegriffen.

Heute war es etwas wie Neid, was sich in die Brust des jungen Geistlichen einschleichen wollte, als er aus der Ferne das Gelächter vernahm.

Mit Studien war's nichts mehr; ein Gefühl großer Unruhe überkam ihn, Sehnsucht nach Unnennbarem – die Herbheit des einsamen Lebens peinigte.

Er beschloß, zu seiner Zerstreuung einen Gang zu unternehmen; unwillkürlich richteten sich seine Schritte nach Eichwald. –

Als er an Doktor Haußners Grundstück vorüberkam, herrschte bereits Halbdunkel. Die Hausthür stand offen, er hörte drinnen weibliche Stimmen.

Gerland blieb, gedeckt von der Mauer, stehen; durch die eisernen Stäbe des Gartenthores konnte er die Stirnseite des großen Hauses bequem übersehen.

Eine weibliche Gestalt trat aus dem Hause; die weiße Schürze leuchtete durch die Dämmerung. Das Gesicht war nicht zu erkennen, aber der schlanken Figur und den elastischen Bewegungen nach zu schließen, war's die Tochter des Arztes.

Sie verschwand unter einer großen Linde, die seitwärts vom Hause stand. Gerland entsann sich, bei seinem neulichen Besuche dort einen runden, um den Baumstamm gefügten Tisch bemerkt zu haben. Jetzt kam auch ein anderes, mit Holzpantoffeln klapperndes Frauenzimmern die Stufen vor der Hausthür herab, offenbar eine Dienstmagd. Gerland vernahm deutlich Gertruds Stimme; sie schien anzuordnen, Gläser und Geschirr klirrten, die Magd verschwand wieder im Hause.

Der Geistliche konnte sich nicht sogleich aus seiner lauschenden Stellung losreißen; der Reiz des Unerlaubten fesselte ihn an diese Stelle. Der Klang ihrer Stimme hatte ihm die ganze Persönlichkeit des Mädchens wieder ins Gedächtnis gerufen.

Sein Auge hatte sich inzwischen an die Dämmerung gewöhnt. Er erkannte Gertrud nunmehr genau; sie war mit Decken des Tisches beschäftigt. Wie allerliebst sie ihm vorkam mit ihren eiligen Bewegungen und fliegenden Mädchenröcken. Jetzt lief sie ein paar Schritte nach dem Hause zu. »Abendessen – Vater!« rief sie nach den Fenstern hinauf. Eine tiefe Stimme antwortete von drinnen. Sie lief schon wieder nach dem Tische zurück, immer springend, wie ein echtes Kind. –

Gerland riß sich mit Macht von dem Anblicke los und ging; er war noch trauriger geworden.

Er strebte dem Walde zu. Im Holze herrschte Schwüle, die Luft war geschlossen wie im Zimmer. Mit tiefen, bellenden Tönen hörte er einen Rehbock schrecken. Er ging und ging weiter, tief in Gedanken. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei« – dies uralte Wort der Schöpferweisheit gab heute den Grundakkord seiner Stimmung an.

Die Bäume warfen Schatten; immer weißer wurden die hellen, immer schwärzer die dunklen Streifen, quer über den Weg. Wie versilbert ragten die Wipfel der Tannen in den metallfarbenen Himmel empor. Granitquadern lagen am Wege, grell vom Mondlichte getroffen, Grabsteinen gleich. Kein Lüftchen, das sich regte, unendlich einsam schien der Wald und endlos.

Plötzlich, als er aus dem Hochwalde trat, erblickte er das Mondgesicht über einem schwarzen Dickicht junger Fichten. Da oben stand er, wie ein Mensch blickte er drein; die Natur erschien wie belebt, ein persönliches Element war hereingekommen.

Überallhin folgte dem Wanderer die Gegenwart dieses neugierigen, melancholischen Koboldgesichtes. Durch die buschigsten Baumkronen hindurch schien er zu blicken, in jeden Winkel. Komisch in seiner Maskenstarrheit blickte er herab auf die dämmerige Landschaft. In sanfter Klarheit lag das Thal ausgebreitet, keine harten Formen, kein aufdringliches Gewirr von Linien, keine blendenden Lichter, wie sie sich im hellen Tageslichte tausendfach verwirrend in das Auge drängen – alles aufgelöst und verwischt in versöhnende, weiche, heimliche Keuschheit. Ein zarter Schleier verhüllte freundlich das Gesicht der Dinge, ließ die Schönheit der Welt ahnen, ohne ihre Alltagshäßlichkeit zu zeigen.

Gerland stand lange in der Landschaft und meinte, in ihr zu verschwimmen; er hätte die Arme ausbreiten mögen und die Luft umarmen vor Sehnsucht. –

* * *

Laute Tanzmusik tönte ihm vom Kretscham her entgegen, als er sich dem Dorfe, vom Walde herabkommend näherte.

Durch die hohen, kirchenfensterartigen Scheiben des Gasthofs fielen helle Lichtstreifen auf die Gasse, Gruppen von jungen und alten Leuten standen davor, der Lärm war groß draußen und drinnen. Gerland befürchtete, daß die Trunkenheit arg sei. Er versuchte unbemerkt vorbei zu kommen; ändern konnte er ja doch nichts, wenigstens jetzt nicht – in diesem Augenblicke nicht. Jahre von Arbeit würden hingehen, das wußte er, ehe seine stille Arbeit Früchte tragen konnte.

Mehr als dreißig Schritte mochte er schon von dem Kretscham entfernt sein, als plötzlich ein Gekreisch aus den offenen Fenstern des Tanzsaales ertönte, das die Musik übergellte, dann ein markdurchdringender Schrei, wie von wahnsinnigem Schmerze abgepreßt.

Der Geistliche machte Halt; der Ton war ihm durch alle Glieder gefahren. Er lauschte voll Spannung – die Musik hatte ausgesetzt – er glaubte ein dumpfes Summen, wie von vielen Stimmen, zu vernehmen.

Unwillkürlich kehrte der Geistliche um; hier mußte ein Unglück geschehen sein.

Vor dem Gasthause blieb er stehen und erwog noch einmal, ob er sich einmischen solle. Nach den Fenstern des Tanzsaales hinaufblickend, konnte er eine Menge Gestalten wild durcheinander laufen sehen.

In diesem Augenblicke traten einige junge Leute aus dem Hause, in großer Aufregung durcheinander sprechend. Alle redeten auf einen hochgewachsenen, jungen Menschen ein: »Mach d'ch furt, Karle! – Er blutt wie a Schwein!« – Soviel konnte Gerland gerade noch verstehen, dann sah er den Troß im Geschwindschritt in der nächtlichen Gasse verschwinden.

Er beschloß hinaufzugehen.

In einer Ecke des dunsterfüllten Tanzsaales sah er eine Anzahl Menschen stehen. Aus dem Haufen heraus ertönte Weinen von Weibern. Er trat heran.

»Der Pfarr!« erklang's von verschiedenen Seiten; man trat auseinander.

Ein Körper lag am Boden. Gerland erkannte einen jungen Menschen mit bleichem, schmerzverzerrtem Gesichte und halbgeschlossenen Augen. Weste und Hosenbund waren geöffnet, man sah das blutbefleckte Hemde; eine dunkelrote Lache breitete sich über die Diele aus.

Der Geistliche fragte die Umstehenden, was geschehen sei. »Se hoan en ein Bauch gestuchen,« war die Antwort; mehr war nicht aus den Menschen herauszubekommen.

Gerland ließ zunächst den Verwundeten vom Boden aufheben und auf ein paar Stühle legen. Die Leute waren ihm zu langsam und unbeholfen dabei; er mußte das meiste selbst thun. Ob denn schon etwas geschehen sei, ob man nach dem Arzte geschickt habe, fragte er. Man blickte ihn mit stumpfen Mienen an; wie im Halbschlafe standen die Leute da. Gerland riß den Rock herunter, beugte sich über den Verwundeten. Er begann vorsichtig das Hemd von der Wunde zu entfernen, dann rief er nach Wasser.

Die Energie, die sie den Geistlichen entwickeln sahen, rüttelte einige doch aus ihrer Stumpfheit auf. Man fing an, ihm zur Hand zu gehen; das gewünschte Wasser ward herbeigeschafft. Gerland konnte das Blut wegwaschen und die Verletzung bloßlegen. Er fand eine Stichwunde in der Nabelgegend.

Der Geistliche überlegte, was zu thun; wie weit innere Organe verletzt seien, konnte er nicht feststellen. Augenblicklich erschien ihm der Blutverlust die größte Gefahr. Er hatte in der Studentenzeit einen Kursus als freiwilliger Krankenpfleger durchgemacht, das kam ihm jetzt zu statten.

Er ließ Handtücher herbeischaffen und stellte aus ihnen eine Bandage her, die er, so gut er es verstand, dem Verwundeten anlegte; dann ließ er ihn, der nur halb bei Bewußtsein schien, ins Nebenzimmer tragen, wo er auf einem Ledersofa bessere Lagerstatt fand.

Er instruierte die Leute, wie sie den Körper anzufassen und zu tragen hätten, so wie er es selbst vor Jahren gelernt hatte. Man fing an, seine Überlegenheit zu erkennen und fügte sich den Anordnungen, die er traf.

Inzwischen mochte sich die Kunde, daß eine Stecherei auf dem Tanzboden stattgefunden habe, im Dorfe verbreitet haben. Eine Menge Neugieriger erschienen, deren Gesichtern das Bedauern, einen so interessanten Vorfall verpaßt zu haben, deutlich anzusehen war.

Gerland beriet sich mit dem Gemeindevorsteher und einigen älteren Leuten, was zu geschehen habe.

Einen Arzt gab es nicht in Breitendorf. Bis zur Stadt, wo der Kreisphysikus wohnte, war es immerhin drei Stunden. Ehe er zur Stelle, konnte sich der Verwundete längst verblutet haben.

Gerland hatte sofort an Haußner gedacht; man wandte ihm ein, der Eichwalder Arzt praktiziere nicht mehr. Als vorm Jahre einem Holzfäller im gräflichen Walde das Bein von einem fallenden Stamme zerschmettert worden, habe er die Hilfe verweigert.

Gerland erklärte sich bereit, den Arzt selbst herbeizuholen.

Der Gemeindevorsteher riet ab. »Herr Pastor,« meinte er, »mit Haußnern is ne gut Kirschen assen. Und nu erscht a Geistlicher – vun dan will er nischt ne wissen.«

Gerland blieb bei seinem Vorsatze. Er erklärte, Garantie dafür zu übernehmen, daß der Arzt diesmal seine Hilfe nicht versagen werde. Der Geistliche wußte sehr gut, wieviel er damit wage – vor diesen Leuten blamiert dazustehen, war noch das wenigste. Die Erfahrung, welche er mit Haußner gemacht, haftete frisch in seinem Gedächtnisse. Ganz im geheimen hoffte er auf einen besonderen Beistand – Gertrud! Sie war es gewesen, die ihren Vater vermocht hatte, das sterbende Enkelkind der alten Märzliebs-Hanne in Eiba aufzusuchen. –

Nachdem er in Hast noch einige Anordnungen gegeben, machte er sich auf den Weg. Ein paar junge Burschen, mit einer Laterne, begleiteten den Geistlichen aus freien Stücken.

Im Laufschritt ging es vorwärts, quer über Kornstoppeln und Kartoffelfelder.

* * *

Aus zwei Fenstern des Erdgeschosses schimmerte noch Licht, als Gerland vor dem Grundstücke des Arztes atemlos anlangte. Man lag also noch nicht im Schlummer, was er im stillen befürchtet hatte. Er zog mit Kraft an dem Griff des Glockenzuges, deutlich hörte man die Klingel im Hause ertönen. Der Geistliche wartete mit Herzklopfen; alles blieb still. Er klingelte ein zweites Mal, mit verdoppelter Kraft. Hinter einem der erleuchteten Fenster erschien eine dunkle Gestalt. Das Fenster wurde aufgethan, Haußners tiefe Stimme fragte, wer da sei.

»Ich, Pfarrer Gerland! Ein Unglück ist geschehen. Sie werden gebeten, zu Hilfe zu kommen.«

Keine Antwort erfolgte fürs erste, Haußners bärtiger Kopf verschwand. Das Fenster blieb offen, durch die Stille der Nacht konnte Gerland deutlich vornehmen, daß drinnen gesprochen wurde.

Bange Minuten verstrichen. Gerland überflog noch einmal alles, was er von dem Manne da drinnen wußte: den Streit Haußners mit der Behörde wegen des Religionsunterrichts der Kinder, seinen Austritt aus der Landeskirche, seinen Zwist mit der Geistlichkeit, den Bannfluch, den man über ihn gesprochen – und die Katastrophe: der Tod der Kinder, die Scene mit Pastor Menke über den frischen Gräbern – und was man über Haußners Verhalten der eigenen Frau gegenüber gehört, die er angeblich in den Wahnsinn getrieben hatte. – Alles das stand vor Gerlands Seele mit jener unheimlichen Deutlichkeit, die solchen Augenblicken gespannter Erwartung eigen ist.

Endlich that sich die Hausthür auf; Haußner kam selbst herab, um das Thor zu öffnen. Auf der Schwelle des Hauses stand ein weibliches Wesen, mit einer Lampe in der Hand.

Gerland trat ein; die begleitenden Burschen bedeutete er, draußen zu warten. Die Gestalt mit der Lampe kam die Stufen herab – es war niemand anders, als Gertrud. Das Herz des jungen Geistlichen hüpfte vor Freuden, nun schien ihm seine Sache schon halb gewonnen.

Man trat in ein großes Zimmer; Vater und Tochter hatten hier offenbar noch zu später Stunde beisammengesessen. Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch und weibliche Handarbeit ausgebreitet.

Gerland berichtete in Kürze den Fall und rief den Arzt um Hilfe an.

Haußner schüttelte den Kopf, seine Antwort bestand in einem schroffen »Nein!«

Der Geistliche wurde nur um so dringlicher. Er stellte die verzweifelte Lage des Verwundeten mit beredten Worten dar. Haußner ging im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen; er hatte den Hemdkragen abgelegt, die Weste stand ihm über der breiten Brust offen. Unwillkürlich wandte sich Gerland, während er zu dem Vater sprach, hilfeflehend mit seinen Blicken an die Tochter. Das Mädchen war gleich ihm bleich vor Erregung. Er ahnte, daß sie auf seiner Seite stehe.

Gerland versuchte einen Appell an Haußners gutes Herz. Der Arzt lachte höhnisch auf: »Philanthropie – kommen Sie mir, bitte, damit nicht! Das ist eine Kinderkrankheit, die ich mir vor vielen Jahren abgewöhnt habe.«

Einem Haußner konnte man mit dem Hinweis auf Christenpflicht und Barmherzigkeit, der ihm auf der Zunge lag, nicht kommen, sagte sich Gerland. Er sah sich genötigt, seine Gedanken umzukleiden, sprach von der allgemein geltenden Pflicht, einem Mitmenschen, der in Lebensgefahr schwebe, beizuspringen.

Bei Haußner begannen sich Zeichen aufsteigenden Ärgers zu zeigen. »Unsinn!« rief er, »das ist ja alles gedankenlose Phrase. Wo ist denn die berühmte Bruderliebe? Nirgends! Sie steht im Glasschrank bei den übrigen schönen Sachen – man hütet sich wohl, sie herauszunehmen.«

Gerland meinte, der Arzt werde es doch nimmermehr auf sein Gewissen nehmen wollen, einen Menschen, dem seine Hilfe das Leben retten könne, ruhig umkommen zu lassen.

Da fuhr jener auf, seine vierschrötige Gestalt belebte sich, die Augen blitzten drohend, er sprach mit erhobener Stimme: man solle ihn in Ruhe lassen, grollte er, die ganze Sache gehe ihn nichts an, mit Redensarten werde man ihn nicht fangen, man möge nach dem Kreisphysikus schicken, der sei für dergleichen angestellt.

Gerland machte geltend, daß es weit sei zur Kreisstadt, und daß der Verwundete sich längst verblutet haben möchte, bis der Physikus zur Stelle sei. Er begann seine vorigen Argumente zu wiederholen. Mit vollem Bewußtsein war er aufdringlich – heute konnte er es ja sein. Er war in der günstigen Lage, scheinbar selbstlos eines anderen Sache zu führen, und dabei plaidierte er doch mindestens eben so viel für die eigene Person.

Haußners Augen waren feindlich auf den Geistlichen gerichtet. Da kam diesem die längst ersehnte Hilfe von Seiten des Mädchens.

Gertrud trat zum Vater und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Geh doch, Vater – geh!«

Haußner knurrte unwillig, sie wiederholte ihre Bitte eindringlicher. Er erwiderte ihr anfangs barsch: »Laß mich in Ruhe mit dem Unsinn!« Aber es war nicht mehr das Grollen des Zornes, sondern das Poltern eines Menschen, der zu der Einsicht gekommen ist, daß er wird nachgeben müssen.

Sie ließ nicht nach: »Vater, es ist doch gar nicht so weit bis zum Kretscham.«

Er widersprach bereits nicht mehr.

Gerland hütete sich wohl, ein Wort zu äußern.

Gertrud brachte des Vaters Hut herbei und machte sich daran, ihm den Hemdkragen anzuknöpfen; er ließ es, wenn auch mit mißmutiger Miene, über sich ergehen. Ob Karbollösung und Verbandwatte im Hause sei, fragte er, immer noch in ärgerlichem Tone. Sie versprach, das Gewünschte sofort zu beschaffen und eilte leichtfüßig von dannen, daß die blonden Zöpfe flogen.

Der Arzt begann in den Fächern eines mächtigen Schreibtisches zu kramen; um Gerland kümmerte er sich nicht weiter. Der stand noch immer da, Hut in der Hand; er hatte jetzt Zeit, sich mit neugierigen Blicken im Zimmer umzusehen.

Es war ein großer Raum, der viel bewohnt worden zu sein schien. Der Arzt mußte ein starker Raucher sein; das ganze Zimmer hatte eine Rauchatmosphäre angenommen.

Gerlands forschender Blick glitt über allerhand Hausrat nach den Bücherbrettern hinüber, auf denen sich Band an Band reihte. In einem Schrank mit Glasfenstern standen Flaschen, Präparate in Essig enthaltend, auf einem anderen Schranke sah er ausgestopfte Vögel stehen. Ferner bemerkte Gerland einen Globus, Karten und eine größere Anzahl meteorologischer Instrumente in den tiefen Fensternischen. Eine große Wanduhr tickte und zeigte jetzt eben mit schnarrendem Tone die elfte Stunde an. Von Schmuck und unnützem Zierat war nichts in dem ganzen Zimmer zu erblicken. Dem Raume war anzusehen, daß hier ein gelehrter, arbeitsamer Mann wohne. –

Gertrud kam mit einem Paket zurück. Der Arzt hatte inzwischen verschiedene Instrumente in seine Rocktaschen versenkt und setzte den Hut auf.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er die Thür und ließ den Geistlichen hinaus. Gertrud folgte den beiden Männern mit der Lampe bis zum Gartenthor.

Gerland hätte ihr nur zu gern ein Wort des Dankes gesagt; aber die Gegenwart des Vaters hinderte ihn daran. Er mußte sich mit einem einfachen »gute Nacht« von ihr verabschieden. –

Von den jungen Leuten gefolgt, die draußen gewartet hatten, schritten sie den Weg nach Breitendorf hinab. Ein Gespräch entwickelte sich nicht.

Trotzdem Mitternacht nicht mehr weit entfernt war, trafen sie vor dem Kretscham auf eine große Menschenmenge. Das Ereignis der letzten Stunden hatte seine Anziehungskraft noch nicht verloren. Als der Geistliche mit dem Arzte erschien, ging ein Flüstern durch die Reihen, man machte lange Hälse und steckte die Köpfe zusammen: »Saht ack – nee, saht ack, dar Eichwälder Duchter!« –

In dem Zimmer, wo der Verwundete lag, fanden sie ebenfalls eine Menge Neugieriger. Haußner ließ sofort räumen, dann befahl er die Fenster zu öffnen. Nur der Wirt und der Gemeindevorsteher durften bleiben.

Der Wirt, der sich wichtig zu machen versuchte, erklärte, dem Patienten sei »geringe geworden.« Sie hätten befürchtet, er könne auslöschen, weil er die Augen so verdreht hätte. »Mir hoan en ane Neege Schnaps gegan – da wurd's 'n glei basser; itze schläft er.«

Was der gute Mann für Schlaf gehalten, war tiefe Ohnmacht. Haußner hielt dem Verwundeten eine starke Essenz unter die Nase; er reagierte nicht im geringsten darauf.

Der Arzt begann nun die Wunde bloßzulegen, »Wer hat die Bandage angelegt?« fragte er. Der Geistliche erklärte, daß er es gewesen sei. Haußner erwiderte nichts darauf. Eine Schicht schwarzen geronnenen Blutes zeigte sich, als die Leinwand entfernt war. Doktor Haußner machte sich daran, die Masse vorsichtig mit Karbolwasser zu entfernen. Die Wunde stellte sich als eine kleine, blauumränderte Öffnung dar, die nicht mehr blutete. Der Arzt erweiterte die Wundränder ein wenig mit den Fingern und führte die Sonde ein. Der Geistliche, dem derartige Dinge nichts Neues waren, hielt die Lampe.

Nach einiger Zeit erhob sich der Arzt: »Die Sache ist nicht lebensgefährlich – ein paar Millimeter tiefer und das Messer hätte edlere Teile verletzt. Der starke Blutverlust stammt daher, daß ein paar Adern durchschnitten sind; die Bandage hat eine völlige Verblutung verhindert.«

Fast mehr noch als über diese Thatsachen war Gerland beglückt, durch die Anerkennung, die er zwischen den Worten des Arztes lesen konnte.

Dieser machte sich nun daran, von Gerland unterstützt, die Wunde von neuem zu verbinden. Der Verwundete erwachte unter ihren Händen aus seiner Ohnmacht.

Haußner ordnete noch in seiner kurzen, rauhen Weise verschiedenes an. Der Patient sollte die Nacht über im Gasthofe bleiben.

Gerland erklärte, den Transport am nächsten Morgen selbst beaufsichtigen zu wollen. Der Wirt und der Gemeindevorsteher waren bereit, die Nachtwache zu übernehmen.

Im übrigen solle man sich an den Kreisarzt halten, erklärte Haußner, während er seine Utensilien zusammenpackte, denn er persönlich werde sich nicht weiter um den Patienten kümmern.

Der junge Geistliche befand sich in merkwürdig gehobener Stimmung. Wäre er dem Drange seines überströmenden Gefühls gefolgt, so hätte er den Arzt ans Herz gedrückt und ihm in überschwenglichen Worten seine Achtung und Bewunderung versichert. Es hatte sich etwas wie ein Verhältnis herausgebildet zwischen ihnen, durch das gemeinsame Rettungswerk; so wenigstens meinte Gerland.

Sie traten jetzt hinaus auf die Dorfstraße. Der Mond war verschwunden, der Himmel hatte sich mit Wolken bedeckt, ein Gewitter schien im Anzuge, rings am Horizonte wetterleuchtete es.

Gerland wagte es unter Herzklopfen, dem Arzte seine Begleitung nach Eichwald anzubieten; aber jener meinte trocken, er kenne den Weg. Damit verschwand seine massive Gestalt im Nachtdunkel.

Der Geistliche blieb nachdenklich in der Gasthofthür stehen. Die Brücke, die er im Geiste schon so oft errichtet gesehen, war immer noch nicht geschlagen, zwischen ihm und dem großen Steinhaus in Eichwald.



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