Gunther Plüschow
Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau
Gunther Plüschow

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Schwarze Nächte an der Themse

Nun blieb um uns alles ruhig. Der Regen hörte Gott sei Dank auf zu strömen. In vollständige Dunkelheit gehüllt, lag der Park da, und matt schimmerte das Licht der riesigen Bogenlampen, womit das Nachthindernis beleuchtet war, zu uns herüber. Dumpf hallte der regelmäßige Tritt der in ihren Schutzhäuschen auf und ab marschierenden Posten, und unheimlich klang ihr Zuruf, womit sie sich alle Viertelstunde gegenseitig anriefen. Um zwölf Uhr nachts war Wachtablösung, die ich mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgte. Dann kam der wachthabende Offizier und leuchtete mit einer Lampe das Taghindernis – also unseres – ab, und um halb ein Uhr war wieder tiefste Ruhe.

Nun war der Moment des Handelns gekommen.

Leise kroch ich aus meinem Versteck wie eine Katze, schlich durch den Park und zu dem Drahthindernis, um mich zu überzeugen, daß wirklich keine Posten mehr ständen. Als alles in Ordnung war und ich die Stelle, über die wir rüber wollten, wiedergefunden hatte, schlich ich zurück und holte Trefftz ab. Nun machten wir den Weg gemeinsam noch einmal.

Am Hindernis angekommen, gab ich leise noch einmal die letzten Verhaltungsmaßregeln und dann Trefftz mein kleines Bündelchen. Als erster 197 fing ich an zu klettern. Der Zaun war zirka ein Meter hoch und alle zwanzig Zentimeter von Draht mit unheimlich langen Stacheln bezogen.

Bis zirka fünfundsiebzig Zentimeter über dem Boden waren elektrisch geladene Drähte gesetzt, deren Berühren genügte, um sich zu entladen und ein Klingelwerk auszulösen, wodurch selbstverständlich das ganze Lager alarmiert worden wäre. Zum Schutz gegen die Stachel hatten wir Ledergamaschen an und um die Knie Wickelgamaschen gebunden und trugen außerdem noch Lederhandschuhe. Doch die Stacheln waren länger und sie haben ganz fürchterlich gepikst. Aber das hatte den Vorteil, daß wir nun nicht ausrutschen konnten, um dadurch den elektrischen Draht zu berühren. Den ersten Zaun überwand ich leicht. Dann gab mir Trefftz unsere beiden Bündel, und ebenso schnell wie ich überstieg auch er den Zaun. Nun kam ein zirka zehn Meter breites und ein Meter hohes schweres Drahthindernis, nach den neuesten Schikanen erbaut. Wie die Katzen liefen wir beide über dieses hinweg. Dann kam wiederum ein hoher Stacheldrahtzaun, genau so beschaffen wie der erste und ebenfalls mit elektrisch geladenen Drähten versehen. Auch hierüber kamen wir beide glatt, nur daß ich mir an den verflixten Stacheln einen Teil meines Hosenbodens ausriß, den ich mir erst wieder herunterholen mußte, um ihn später wieder einzusetzen. Gott sei Dank, das Hindernis war überwunden! 198

Stumm drückten Trefftz und ich uns kräftig die Hand und stumm sahen wir uns an. Was wir durchgemacht hatten, wußten wir beide.

Nun begann erst die Hauptschwierigkeit.

Vorsichtig schlichen wir uns in der Dunkelheit weiter, überquerten einen Bach, erkletterten eine Mauer, sprangen in einen tiefen Graben und mußten uns dann an dem Wachthaus, welches am Eingang zum Lager lag, vorbeischleichen. Dann endlich waren wir im Freien!

Auf der großen Landstraße, die nach Donington Castle führte, liefen wir ohne Aufenthalt entlang. Nach einer halben Stunde machten wir halt und entledigten uns der zerfetzten Gamaschen und Handschuhe. Na, die inneren Handflächen sahen ja fein aus, ganz zu schweigen von den Fußsohlen und von der Sitzgelegenheit. Noch wochenlang haben die Andenken an den englischen Stacheldraht gejuckt.

Jetzt öffneten wir unsere Bündel, zogen unsere grauen Zivilregenmäntel an, verstauten die übrigen Kleinigkeiten, und untergehakt wanderten wir frohgemut die Straße weiter, als wenn wir von einem späten Nachtgelage kämen. Als Donington Castle in Sicht kam, mußten wir uns vorsehen. Und alles, was wir tun würden, wenn wir jemandem begegnen sollten, hatten wir verabredet.

Da, als wir eben in die Dorfstraße einbiegen wollten, kam uns ein englischer Soldat entgegen. Wie auf Kommando zog mich Trefftz an sich, und so wie wir es verabredet hatten, markierten 199 wir ein Liebespaar. Verlangend nach uns hinschauend und mit der Zunge schnalzend ging der Engländer vorüber. Als er an uns vorbei ging, kannte ich ihn mit einem Schlage. Auf seinem Ärmel leuchteten matt die drei Feldwebelswinkel, und diese dicke, gedrungene, auffallende Figur konnte nur unserem englischen Lagerfeldwebel gehören.

Nun schritten wir weiter. Und nachdem das Dorf passiert war, fanden wir glücklich die angegebene Brücke. Doch hier wurde es kritisch. Drei große Chausseen führten von hier aus ab, und es war unmöglich, uns ohne Wegekenntnisse weiterzufinden. Endlich entdeckten wir in der Dunkelheit einen Wegweiser, etwas äußerst Seltenes in England. Zum Glück war es ein eiserner. Und als Trefftz hinaufgeklettert war, konnte er durch Befühlen der erhaben gegossenen Buchstaben das Wort »Derby« lesen.

In äußerstem Geschwindschritt uns nach dem Polarstern orientierend, marschierten wir tüchtig darauf los. Sobald uns Leute entgegenkamen oder Autos, und besonders wenn solche hinter uns her fuhren, versteckten wir uns im Chausseegraben und warteten ab, bis die Gefahr vorüber war. Es war doch zu natürlich, daß wir bei jedem Auto glaubten, es sei unseretwegen unterwegs und uns nachgehetzt worden. Als wir Hunger verspürten, aßen wir etwas mitgenommenen Schinken und Schokolade. Aber leider war das eine zu salzig und das andere so süß, daß ein 200 furchtbarer Durst uns plagte. Dieser wurde bald so unerträglich, daß wir kaum noch weiter kommen konnten. Dazu kam, daß wir durch die durchgemachte Aufregung und den anstrengenden Marsch außerordentlich viel Schweiß verloren hatten. In unserer Not stellten wir uns dann an den Chausseegraben, und wie die Ziegen leckten wir die dicken Regentropfen von den Blättern der Büsche ab, bis wir endlich an einer Stelle eine schmutzige Wasserpfütze fanden, über die wir uns gierig trinkend warfen. O, das war gut.

Langsam wurde es hell. Und gegen vier Uhr morgens, als wir die ersten Gartenhäuser von Derby erreichten, stieg in wundervollster Pracht blutigrot die riesige Sonnenkugel über den Horizont. Wie gebannt blieben wir stehen, hingerissen von diesem herrlichen Schauspiel, und dann schüttelten wir uns die Hände und winkten freudig der Sonne zu.

O sie, sie kam ja aus Deutschland, direkt aus der Heimat, hatte sich rotgefärbt beim Durcheilen der blutigen Schlachtfelder und brachte uns nun die treuesten Grüße unserer Lieben daheim. Ein gutes Omen!

Nun schlichen wir uns beide in ein kleines Gärtchen, und hier wurde große Toilette gemacht. Die mitgenommene Kleiderbürste vollbrachte Wunder. Die Schuhlappen hatten schwere Arbeit, und mein Hosenboden wurde mit der mitgenommenen Nähnadel geflickt. In Ermangelung von Rasiercreme benutzten wir unseren 201 Speichel, und dann wurden die armen Gesichter mit den mitgenommenen Gilette-Apparaten bearbeitet. Zum Schluß banden wir uns »den« Kragen und »den« Schlips um und überließen Kleiderbürste und Stiefellappen dem Gartenbesitzer. Und schick fast wie Dandies mit einem koketten Kniff in dem weichen Hut betraten wir Derby.

Zu unserem Glück fanden wir bald den Bahnhof, trennten uns unauffällig und hatten den unerhörten Dusel, daß bereits in einer Viertelstunde ein Zug nach London ging. Ich löste ein Retourbillett dritter Güte nach Leicester, und mit einer dicken Zeitung bewaffnet bestieg ich den Zug. In Leicester stieg ich aus, löste mir ein Billett nach London, und als ich in das Kupee einstieg, saß zufällig mir gegenüber ein Herr, ebenfalls im grauen Mantel, den ich irgendwo mal gesehen haben mußte, von dem ich aber selbstverständlich keine Notiz nahm. Ich glaube, sein Name fing früher mal mit T. an.

Gegen Mittag lief endlich der Zug in London ein.

Als ich durch die Bahnsperre ging und mein Billett abgab, war mir doch nicht ganz wohl zumute, und so etwas hat meine Hand doch gezittert. Doch der gestrenge Blick des Kontrolleurs bedeutete weiter nichts, und einige Minuten darauf war ich im Gewühl der Großstadt verschwunden.

Wie gut war es jetzt, daß ich vor zwei Jahren in London gewesen war und es so genau 202 kennengelernt hatte. Das erste, was ich tat, war, daß ich in vier verschiedene Frühstücksstuben ging und in jeder von diesen so viel aß und trank, daß es noch eben nicht auffiel. Dann ging ich an die Themse hinunter, rief mir alle Straßen und Brücken und Dampferanlegestellen durch persönlichen Augenschein in die Erinnerung zurück und sah mir besonders an, wo neutrale Dampfer lagen.

Ich hatte mir die Sache doch einfacher vorgestellt. Ich hatte gehofft, sofort einen Dampfer finden zu können, doch nun sah ich zu meiner Besorgnis, daß alle Werften und Ladeplätze und die meisten neutralen Dampfer ebenfalls streng bewacht mitten auf dem Strome lagen.

Die ungewohnte Umgebung, die Unsicherheit, in der ich mich in der ersten Zeit befand, und vor allen Dingen das dauernde Gefühl während der ersten Tage, daß ich stets glaubte, daß jeder Mensch wissen müßte, wer ich wäre, und daß jedermann es mir an der Nasenspitze ablesen könnte, daß ich aus Donington Hall entwichen wäre, taten das ihre. Dazu kam noch die durchgemachte Aufregung und Überanstrengung der letzten Nacht und die trostlose Verlassenheit in der riesigen Feindeshauptstadt. Auch hatte ich mich vergebens bemüht, irgendeine Zeitung zu erwischen, aus der die Abfahrt von Dampfern ersichtlich wäre; das war für mich eine besonders herbe Enttäuschung.

War es da ein Wunder, daß ich ganz entmutigt und müde zum Umsinken um sieben Uhr abends 203 wie verabredet vor der St. Pauls-Kathedrale stand, um auf Trefftz zu warten? Bis neun Uhr habe ich gewartet, kein Trefftz kam.

Fest überzeugt, daß es Trefftz bereits gelungen wäre, einen günstigen Dampfer zu fassen, und daß er womöglich London schon verlassen habe, schleppte ich mich gänzlich deprimiert zum Hydepark. Zu meiner Enttäuschung war dieser entgegen früherer Gewohnheit geschlossen. Was sollte ich nun tun, wo sollte ich schlafen? Auf der Straße durfte ich nicht bleiben, um nicht aufzufallen. Und in eine Herberge durfte ich erst recht nicht gehen, da ich keinen Paß besaß, den jetzt in England selbst jeder Engländer besitzen mußte, und ohne den kein Gastwirt bei schwerster Strafe jemanden aufnehmen durfte.

In einer elenden Bar, in der ich mich etwas stärken wollte, bekam ich nur warmen Stout und nur noch eine einzige Rolle Keks. Alles andere war vertilgt. Und als auch in der Bar Feierabend geboten wurde, saß ich wieder auf der Straße. Ich bog in eine der vornehmsten Alleen ein, wo prächtige Paläste von schön gepflegten Vorgärtchen umgeben waren. Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen aufrecht halten, und als die Luft rein war, sprang ich schnell entschlossen über einen dieser Gartenzäune und hatte mich kurz darauf in der dichten Buchsbaumhecke, nur einen Schritt vom Bürgersteig entfernt, verkrochen. Meine Gemütsstimmung läßt sich nicht beschreiben. Wild hämmerten mir die Pulse, und 204 wild jagten sich die Gedanken in meinem Hirn. In meinen Gummimantel gehüllt, wie ein Dieb zusammengekrochen, lag ich in meinem Versteck.

Wenn man mich jetzt hier fände, in dieser Lage, mich, einen deutschen Offizier? Wie ein Verbrecher kam ich mir vor. Und im Inneren war ich fest entschlossen, nie jemand etwas von der unwürdigen Lage, in der ich mich befand, zu erzählen. Ach, hätte ich den Abend schon gewußt, wo ich mich zwei Tage später nächtelang herumtrieb, und das dabei sogar ganz natürlich fand, ich wäre hoffnungsvoller gewesen.

Als ich ungefähr eine Stunde in meinem Versteck lag, öffnete sich in meinem Hause die große Flügeltür einer herrlichen Veranda, und mehrere Damen und Herren in tadelloser Abendtoilette traten heraus, um die prachtvolle Abendluft zu genießen. Von meinem Versteck aus konnte ich alles beobachten und jedes Wort verstehen. Nach einiger Zeit wurde drinnen ein Flügel angeschlagen und bald ertönte ein prachtvoller Sopran, und wunderschönste, sehnsuchtsvolle Schubertlieder zerwühlten meine Seele.

Endlich übermannte mich die gänzliche Erschlaffung, und wie ein Toter schlief ich ein, in meinen Träumen von schönsten Zukunftsbildern umschwebt.

Der gleichmäßige feste Tritt eines Polizisten, der auf der Straße, nur einen Schritt von mir getrennt, auf und ab ging, und die hell strahlende Sonne weckten mich am nächsten Morgen auf. 205

Also hatte ich doch die Zeit verschlafen; nun Vorsicht! Stumpfsinnig pendelte der Polizist auf und ab, er wollte nicht weichen. Endlich kam das Glück. Ein allerliebstes Kammerzöfchen öffnete die Türe, und schon war mein Polizist bei ihr und schäkerte vertraulich mit dem taufrischen Käfer. Ohne von beiden gesehen zu werden, war ich mit einem Satz über den Zaun und auf der Straße. Es war schon sechs Uhr früh und der Hydepark grade geöffnet worden. Da noch keine Untergrundbahn fuhr, ging ich in den Park und legte mich lang auf eine Bank zu mehreren anderen Vagabunden, die es sich dort bereits bequem gemacht hatten. Dann zog ich den Hut übers Gesicht, und fest schlief ich bis neun Uhr weiter.

Frisch gestärkt mit neuem Mut bestieg ich die Untergrundbahn und fuhr zur Hafengegend. Am »Strand« erweckten riesige gelbe Plakate meine Aufmerksamkeit.

Und wer beschreibt mein Staunen, als ich darauf dick und fett gedruckt las, daß:

  1. Mr. Trefftz bereits am Abend vorher gefangengenommen worden war und,
  2. daß Mr. Plüschow »still at large« sei, aber,
  3. man ihm bereits auf der Spur wäre.

Das erste und dritte waren mir neu, das zweite war mir bekannt.

Schnell kaufte ich mir nun die »Daily Mail«, ließ mich in einer einfachen Frühstücksstube nieder und las mit großem Interesse folgenden Steckbrief: 206

Extra Late War Edition.

Hunt for Escaped German. High-Pitched Voice as a Clue.

Scotland Yard last night issued the following amended description of Gunther Plüschow, one of the German prisoners who escaped from Donington Hall, Leicestershire, on Monday:

Height 5 ft., 5½ in, weight 135 lb.; complexion fair; hair blond; eyes blue; and tattoo marks: Chinese dragon on left arm.

As already stated in the »Daily Chronicle«, Plüschow's companion, Trefftz, was recaptured on Monday evening at Millwall Docks. Both men are Naval Officers. An earlier description stated that Plüschow is 29 years old. His voice is high-pitched.

He is particularly smart and dapper in appearance, has very good teeth, which he shows somewhat prominently when talking or smiling, is »very Enghsh in manner«, and knows this country well. He also knows Japan well. He is quick and alert, both mentally and physically, and speaks French and English fluently and accurately. He was dressed in a grey lounge suite or grey and yellow mixture suite.

Also der arme Trefftz, nun hatten sie ihn doch gekitcht. Mein Entschluß, was nun zu tun sei, stand bei mir fest, und der Steckbrief leistete mir dabei vorzügliche Dienste. Zuerst mußte ich meinen grauen Gummimantel los werden,. Ich ging 209 zur »Blackfriars Station« und gab meinen Mantel dort im Gepäckaufbewahrungsraum ab. Als ich das graue Ding dem Beamten übergab, fragte dieser mich plötzlich: »What's your name, Sir?« (Wie ist Ihr Name?).

Wie ein Schreck fuhr mir diese Frage in die Glieder, auf diese Frage war ich nicht gefaßt. Mit zitternden Knien fragte ich: »Meinen?«, im Inneren natürlich denkend, daß der Mann wüßte, wer ich wäre, und vor Schrecken sogar deutsch antwortend.

»Oh, I see, Mr. Mine, M. I. N. E.« und damit übergab er mir das Zettelchen für Mr. Mine.

Daß dem Beamten mein Schrecken nicht aufgefallen ist, war ein Wunder, und mir war etwas übel zumute, als ich durch die beiden wachthabenden Polizisten am Eingang des Bahnhofes, die mich scharf musterten, hindurchschritt.

Bei meiner Flucht hatte ich einen blauen Zivilanzug angezogen, den ich mir seinerzeit in Schanghai hatte machen lassen, und den schon in Schanghai Herr Brown und Scott, später der Millionär McGarvin getragen hatte, der dann an einen gewissen Schlosser, später Schloßherr Ernst Suse vermacht worden war, dann wieder bessere Zage erlebte, als ein deutscher Seeoffizier ihn anzog, und nun sein Dasein auf dem Leibe des Dockarbeiters George Mine beendete. Unter dem Jackett hatte ich einen blauen Mannschaftssweater, den eine unserer gefangenen Matrosenordonnanzen in Donington Hall mir geschenkt hatte. In der 210 Tasche trug ich eine alte zerfranste Sportmütze, ein Taschenmesser, Taschenspiegel, Rasierapparat, ein Stück Bindfaden und zwei Taschentücher vorstellen sollende Lappen. Ferner besaß ich das stolze Vermögen von hundertzwanzig Schilling, die ich mir erspart und zusammengepumpt hatte. Pässe und Papiere, die jetzt in England selbst jeder Engländer haben mußte, habe ich niemals besessen.

Nun ging ich an die Themse zu einer entlegenen Stelle. Mein schöner weicher Hut flog durch Zufall von der London-Bridge ins Wasser, Kragen und Schlips folgten an einem anderen Orte nach, ein schöner vergoldeter Knopf prangte herrlich vorne in der grünen Hemdprise (Marke Knopfzwang), dann wurden die Haare schwarz und schmierig von einer Mischung aus Vaseline, Stiefelwichse und Kohlenstaub, die Hände sahen bald aus, als wenn sie niemals mit Wasser in Berührung gekommen wären, und zu guter Letzt wälzte ich mich auf einem Kohlenhaufen tüchtig herum, und schon war der streikende Dockarbeiter G. Mine fertig.

So konnte man in mir wirklich keinen Offizier vermuten, am allerwenigsten aber von »smart« und »dapper« sprechen. Ich glaube meine Rolle gut gespielt zu haben, und nachdem ich erst den inneren Ekel vor meiner Umgebung und soviel Dreck überwunden hatte und mich erst sicher fühlte, konnte ich wirklich nur als das angesehen werden, wofür ich mich ausgab: als fauler, dreckiger Dockarbeiter oder Segelschiffsmatrose. 211

Pluschow still free.

The Chinese dragone clue.

Gunther Pluschow, the German naval lieutenant, fugitive from Donington Hall, has now been at large seven days. The Chinese dragon tattooed on his left arm while on service in the East should, however, betray his identity.

Further particulars of the escape with Lieutenant Treppitz, who was caught at Millwall Docks within twenty-four hours, show that last Sunday evening a violent thunderstorm raged over Donington Hall when the evening roll-call was taken. Instead of assembling with the other prisoners within the inner of the two rings of wire entanglement, the two hid within the outer circle. Their names were answered by other prisoners. A wooden plank near the outer ring showed how they got across the barbed wire.

Steckbrief, eine Woche nach der Flucht213

Mit meiner Mütze frech im Genick, vor Schmutz starrend, die Jacke offen, den blauen Seemannssweater und als einzige Zierde den Kragenknopf zeigend, mit den Händen in den Taschen, pfeifend und spuckend und mich überall herumlümmelnd, wie ich es zu tausenden Malen in allen Hafenstädten der ganzen Welt von den Matrosen gesehen hatte, trieb ich mich tagelang in London herum, ohne auch jemals nur den leisesten Verdacht bei irgendeinem Menschen zu erwecken, daß ich etwas anderes sei, als wonach ich aussah.

Darauf beruhte überhaupt mein ganzer Plan.

Die einzigste Möglichkeit, unentdeckt zu bleiben, war die, mich so zu benehmen und so auszusehen, daß ich niemals den leisesten Verdacht erweckte. Es durfte überhaupt niemals so weit kommen, daß ein Mensch auf mich aufmerksam wurde, und wenn ein Polizist mich erst gefragt hätte, wer ich sei, hätte ich nur meinen richtigen Namen angeben können. Daher war es auch vollkommen unnötig, daß meine Steckbriefe meine Tätowierung auf dem Arm immer wieder als Schlüssel zur Entdeckung erwähnten. Wenn es erst so weit kam, dann war längst vorher schon alles verloren.

Am zweiten Vormittage hatte ich unerhörtes Glück.

Ich saß auf dem Verdeck eines Autobusses, hinter mir zwei Kaufleute in angeregter Unterhaltung. Plötzlich fing ich die Worte auf: »Tilbury, holländischer Dampfer abfährt«; und nun hörte ich scharf zu. 214

Ich mußte mein Herz festhalten, sonst hätte es Freudensprünge gemacht. Die beiden unvorsichtigen Gentlemen erzählten nichts weniger, als daß jeden Morgen um sieben Uhr ein holländischer Schnelldampfer nach Vlissingen führe und jeden Nachmittag der Dampfer vor Tilbury Docks zu Anker ginge.

Mit einem Satz war ich raus aus dem »Bus«.

Schnell zur »Blackfriars Station«, ein Billet gelöst, und eine gute Stunde später stieg ich bereits in Tilbury aus. Es war Mittagszeit, die Arbeiter strömten in ihre Stampen. Ich ging zuerst zur Themse runter und erkundete mein Operationsgebiet und überzeugte mich, daß mein Dampfer noch nicht da wäre. Da ich Zeit und kräftigen Hunger hatte, ging ich nach Tilbury zurück und trat in eine der vielen Speisewirtschaften, wo ich besonders viel Dockarbeiter hatte hineingehen sehen. In einem großen Saale saßen etwa hundert Arbeiter an langen Tischen und vertilgten riesige Schüsseln. So wie es die übrigen taten, ging ich auch an eine Klappe, legte acht Pennies auf den Tisch und empfing einen großen Teller gehäuft mit Kartoffeln, Gemüse und einem mächtigen Stück Fleisch. Dann ging ich an die Bar, kaufte mir ein großes Glas Stout, und in aller Gemütsruhe setzte ich mich zu den anderen Arbeitern an den Tisch, deren Eßweise und Haltung beim Essen genau nachahmend, wobei mir das Essen der Erbsen mit dem Messer besondere Schwierigkeiten verursachte. 215

Mitten im besten Stauen wurde ich plötzlich von hinten auf die Schulter getippt. Eisig durchfuhr es mich durch alle Glieder. Als ich mich umdrehte, stand der Besitzer da und fragte mich nach meinen Papieren. Ich dachte natürlich, er meinte meine Ausweise, und schon gab ich alles verloren. Da ich natürlich nichts vorweisen konnte, mußte ich dem Wirt folgen, und voll Schrecken gewahrte ich, wie er an den Fernsprecher ging, um zu telephonieren. Mit einem Blick schielte ich schon nach Tür und wollte eben fortlaufen, als der Wirt, der mich durch ein Glasfenster beobachtete, wieder zu mir trat und mir sagte: »Ja, da Sie Ihre Papiere vergessen haben, kann ich Ihnen nicht helfen; übrigens wie heißen Sie und wo kommen Sie her?«

»Ich bin George Mine und amerikanischer Leichtmatrose auf der Viermastbark ›Ohio‹, die oben auf Strom liegt. Ich bin eben hier hereingegangen und habe doch schon mein Essen und mein Bier bezahlt, meine Papiere habe ich natürlich nicht mit!«

Dann er: »Dies ist ein geschlossener sozialdemokratischer Verein, hier dürfen nur Mitglieder essen, das sollten Sie doch wissen, doch wenn Sie Mitglied werden wollen, stehen Ihnen die Räume stets frei.«

Natürlich war ich damit einverstanden. Ich zahlte meine drei Schilling Eintrittsbeitrag, erhielt ein knallrotes Seidenbändchen ins Knopfloch gebunden und eine Mitgliedskarte, und damit 216 war ich nun jüngstes Mitglied des sozialdemokratischen Dockarbeitervereins von Tilbury!

Als wenn nichts geschehen wäre, ging ich wieder an meinen Tisch, trank mit einem Zug, um mich von dem durchgemachten Schrecken zu erholen, verließ aber bald den Raum, da mir offengestanden der Appetit vergangen war und das Essen mir so recht nicht mehr schmecken wollte.

Nun ging ich ans Flußufer hinunter, legte mich ins Gras, tat, als ob ich schliefe, und paßte auf wie ein Luchs.

Dampfer an Dampfer zog an mir vorüber. Meine Erwartung wuchs unendlich. Um vier Uhr nachmittags lief stolz und majestätisch ein holländischer Schnelldampfer ein und machte direkt vor meiner Nase an einer Boje fest. Und erst mein Glück und meine Freude, als ich vorne am Bug in weißen, leuchtenden Buchstaben den Dampfernamen:

»Mecklenburg«

las. Das war für mich als Mecklenburger und Schweriner das beste Vorzeichen.

Nun fuhr ich mit der Fähre nach Gravesend hinüber, von wo aus ich den Dampfer unauffälliger beobachten konnte, und bummelte, die Hände in den Taschen, sorglos ein Liedchen pfeifend, möglichst bummlig und schlaksig im Seemannsgang am Ufer entlang, in Wirklichkeit aber scharf beobachtend.

Mein Plan war folgender:

Nachts schwimmend die Boje, an der der 217 Dampfer lag, zu erreichen, dann an der Stahlleine hochklettern, mich an Deck zu schleichen und als blinder Passagier nach Holland zu fahren.

Meine Operationsbasis hatte ich bald gefunden.


Als ich mich vergewissert hatte, daß ich unbeobachtet war, kletterte ich in ein Holz- und Gerümpellager, welches bis ans Wasser der Themse reichte. Unter einigen Brettern lagen mehrere Bündel Heu, und in diese verkroch ich mich und wartete die Nacht ab.

Dieses Heubündel ist dann auch für sämtliche übrigen Nächte mein Aufenthaltsplatz geblieben.

Gegen zwölf Uhr nachts stieg ich aus meinem Versteck. Am Tage hatte ich mir alle in der Nähe liegenden Gegenstände, sämtliche für mich notwendigen Peilungen, genau eingeprägt. Vorsichtig schlich ich über Haufen von Gerümpel, alte Balken; der Regen rauschte, und in der pechschwarzen Nacht konnte ich kaum die beiden Kuffs wiederfinden, die ich am Tage neben dem Holzlager gesehen hatte.

Auf allen vieren kriechend, immer wieder angespannt lauschend, mit den Augen versuchend, die Dunkelheit zu durchbohren, näherte ich mich meinem Ziel.

Zu meinem Schrecken gewahrte ich, daß die beiden Kuffs, die am Nachmittage noch im tiefen Wasser gelegen hatten, jetzt fast trocken lagen. Aber hinten am Heck, da schwabberte Gott sei Dank noch ein kleines Dinghi im Wasser. 218

Kurz entschlossen wollte ich zu dem Boot hinlaufen, aber ehe ich wußte, was mit mir geschah, gab der Boden unter mir nach, und blitzschnell versank ich bis an die Hüften in eine zähe, schlüpfrige, übelriechende Schlammasse. Mit den Armen schlug ich um mich, und gerade konnte ich mich noch mit der linken Hand an einer Planke festkrallen, die vom Ufer zu dem Segelschiff hinüberführte.

Mit äußerster Kraftanstrengung befreite ich mich aus der eklen Masse, die beinahe ein furchtbares Grab für mich geworden wäre, und gänzlich erschöpft schleppte ich mich zu meinem Heubündel zurück.

Als am dritten Morgen meiner Flucht die Sonne aufging, hatte ich den Lattenzaun bereits wieder übersprungen und lümmelte mich auf einer Bank der Parkanlagen von Gravesend herum. Pünktlich um sieben Uhr früh warf meine »Mecklenburg« von der Boje los und rauschte stromabwärts dem freien Meere zu.

An diesem ganzen Tage trieb ich mich, wie auch später, in London herum. Stundenlang stand ich auf den Brücken wie so viele andere Tagediebe und merkte mir genau die Lage der neutralen Dampfer und vor allen Dingen den Stand ihrer Ladungsarbeiten, um jederzeit, wenn ich einen glücklichen Augenblick erhaschen konnte, unbemerkt an Bord zu schleichen.

Essen tat ich in allen diesen Tagen in den gewöhnlichsten Arbeiterstampen von London-East; 219 ich sah so verkommen und dreckig aus, torkelte oder hinkte oft absichtlich, machte ein blödes, stieres Gesicht und ging so krumm und schlaksig, daß kein Mensch von mir Notiz nahm. Ich vermied zu sprechen und merkte mir genau die Aussprache und die Art und Weise, wie die Arbeiter ihr Essen bestellten. Bald hatte ich eine solche Sicherheit und Fertigkeit und wurde so frech, daß ich niemals mehr auf den Gedanken kam, ich könnte entdeckt werden.

Much escaped fugitive

Pluschow's aeroplane flight from Tsing-tao

By the Chinese Dragon clue the authorities still hope to trace Lieutenant Gunther Pluschow, of the German Navy, who escaped from Donington Hall on Monday. The dragon is tattooed on the fugitive's left arm in Oriental colours. It was probably worked by a native artist, for although but 29 years of age, Pluschow has had an adventurous career in the Kaiser's Navy.

He was in Tsing-tao when the British and Japanese besieged that German fortress. Shortly before it fell Pluschow escaped in an aeroplane, and some weeks later he was found on board a Japanese trading ship at Gibraltar.

He will probably endeavour to sign on as a seaman in a neutral ship sailing from a British port, and, with this in view, a very careful watch is being kept at all ports throughout the country. Pluschow is a typical sailor, about 5ft. 6in. in height, with fair hair and fresh complexion. He would pass for a Dutchman with his broken English. Nothing he can do can remove the Chinese Dragon from his left arm, and his recapture should be but a matter of time.

Noch ein Steckbrief

Am Abend war ich wieder in Gravesend.

Da lag wirklich wieder ein Dampfer, und diesmal war es die »Prinzeß Juliana«.

Nun paßte ich besser auf und studierte alles so eingehend und genau, besonders die Beschaffenheit des Flußufers, daß ich meiner Sache sicher war.

Nachts um zwölf Uhr war ich an meinem ausgewählten Platz. Das Ufer war steinig, und die Ebbe fing eben erst an zu laufen. Leise zog ich meine Stiefel, Strümpfe und Jacke aus, verstaute meine Strümpfe, meine Uhr, Rasierapparat usw. in meine Mütze, setzte diese samt dem teuren Inhalt auf den Kopf und band sie fest.

Dann versteckte ich Jacke und Stiefel unter einem Stein, zog den Ledergürtel meiner Hose fest an, und so angezogen wie ich war, kroch ich leise ins Wasser und schwamm nach der Richtung meines Dampfers hinaus.

Die Nacht war regnerisch und dunkel. Bald konnte ich auch nicht mehr das Ufer erkennen, das ich eben verlassen hatte. Matt konnte ich jetzt 220 eben die Umrisse eines Ruderbootes vor mir ausmachen, welches verankert lag. Ich strebte darauf zu, und trotz furchtbarster Anstrengung kam und kam ich nicht näher. Meine voll Wasser gesogenen Kleider wurden immer schwerer und drohten mich herabzuziehen; die Kräfte fingen an zu erlahmen, wie Schatten huschten an mir einige Ruderboote vorüber, die in Wirklichkeit aber verankert lagen, und an denen ich durch die starke Strömung vorbeigerissen wurde. Krampfhaft, mit meiner ganzen Energie schwamm ich weiter und versuchte den Kopf über Wasser zu halten.

Bald jedoch schwanden mir die Sinne, und als ich wieder zu mir kam, lag ich hoch und trocken auf glatten, von Seetang überwucherten Steinen.

Ein gütiges Geschick hatte mich an einige der wenigen steinigen Stellen des Strandes getrieben, da, wo der Fluß einen scharfen Knick machte; und durch das bei Ebbe schnell fallende Wasser lag ich nun auf dem Trockenen.

Zitternd und bebend vor Kälte und Überanstrengung raffte ich mich auf und wankte am Ufer entlang, und nach einer Stunde fand ich meine Jacke und meine Stiefel wieder. Dann kletterte ich über meinen Bretterzaun und lag zitternd und zähneklappernd auf meinem Strohhaufen.

Der Regen strömte, und ein eiskalter Wind fegte über mich weg. Als einzige Decke hatte ich meine nasse Jacke und meine beiden Hände, 223 die ich flach und schützend auf meinen Magen hielt, um diesen wenigstens in Takt zu halten und dadurch für die nächsten Tage die nötigen Kräfte zu behalten. Nach zwei Stunden, ohne ein Auge zugetan zu haben, hielt ich es vor Kälte nicht mehr aus, verließ mein Versteck und lief herum, um wenigstens etwas warm zu werden.

Meine nassen Kleider sind erst wieder trocken geworden, als sie mehrere Tage darauf in Deutschland am Ofen hingen! Tagsüber trieb ich mich wieder in London herum. Ich besuchte mehrere Kirchen, in denen ich sicher den Anschein eines frommen Beters erweckt habe, in Wirklichkeit aber ein Stündchen schlief.

An diesem Tage wäre ich beinahe ein englischer Soldat geworden. Wie an allen Tagen stand auf einem der vielen Plätze auf einer errichteten Tribüne ein Redner und sprach zum Volk. Natürlich Rekrutenfang!

In den glühendsten Farben, in höchster Ekstase schilderte er der lauschenden Menge, wie es aussehen würde, wenn die deutschen Soldaten erst ihren Siegeseinzug durch London hielten. »Die Straßen Londons«, sagte er, »werden von den Tritten der Barbaren widerhallen. Eure Frauen werden von den deutschen Soldaten vergewaltigt und mit ihren kotigen Stiefeln getreten werden. Wollt ihr das, ihr freien Briten?«

Ein entrüstetes »Nein« war die Antwort.

»So gut, dann kommt und – – join the army now!« 224

Ich erwartete einen allgemeinen Sturmlauf. Der Mann hatte wirklich packend geredet. Keiner rührte sich. Nicht einer, der sich meldete und glaubte, daß Kitchener gerade ihn haben wollte. Nun fing der Redner von vorne an, aber seine flammenden Worte verhallten ungehört.

In der Zwischenzeit gingen englische Werbeunteroffiziere durch die Menge. Überall begegneten sie Kopfschütteln, keiner der wackeren Söhne Albions wollte anbeißen. Plötzlich kam ich an die Reihe.

Ein baumlanger Sergeant stand vor mir und befühlte prüfend meine Oberarme. Er schien von seiner Musterung höchst befriedigt zu sein, denn nun fing er mit allen Mitteln an, mich davon zu überzeugen, daß der Soldat ausgerechnet in Kitcheners army das Schönste wäre, was es auf der Welt gäbe. Ich lehnte ab.

»Nein,« sagte ich, »es geht nicht, ich bin erst siebzehn Jahre alt.«

»Oh, das macht nichts, da machen wir einfach eine Achtzehn draus, und alles ist all right.«

»Nein, es geht wirklich nicht, ich bin übrigens Amerikaner und habe auch keine Erlaubnis von meinem Schiffskapitän.«

Nun holte der lästige Bursche eine Mappe hervor, in der in den leuchtendsten Farben die englischen Uniformen abgebildet waren. Der Kerl ließ einfach nicht locker. Um ihn endlich los zu werden, sagte ich ihm, er möchte mir eins der Heftchen überlassen, ich würde dann abends mit 225 meinem Steuermann reden und am nächsten Tage würde ich ihm mitteilen, welche Uniform mir am besten gefiele.

Daß ich von da ab in großem Bogen um diesen Platz herumging, war wohl selbstverständlich.

Nun hatte ich aber allmählich so viel Sicherheit gewonnen, daß ich trotz meines schmutzigen Päckchens ins Britische Museum ging, mir einzelne der größten Gemäldegalerien ansah, ja sogar die Nachmittagsvorstellungen der Varietés besuchte, ohne jemals nach dem Woher und Wohin gefragt zu sein. In den Varietés waren oft die allerliebsten blonden Garderobefräuleins besonders freundlich zu mir und schienen sogar mit dem armen »sailor«, der sich sicherlich in das feine Varieté verirrt hatte, Mitgefühl zu haben.

Am ulkigsten war es, wenn ich auf einem Verdecksitz der Autobusse Platz nahm und die Damen und Dämchen naserümpfend und entrüstet von mir abrückten und mich nicht selten verachtende Blicke trafen. Wenn die gewußt hätten, wer neben ihnen saß! Daß ich nicht gerade nach Parfüm roch, war bei meiner Nachtarbeit und den nassen schlammbeschmutzten Kleidern kein Wunder.

Am Abend war ich wieder in meinem Gravesend. In dem kleinen Park, der direkt ans Themseufer stieß, spielte Militärmusik und mehrere Stunden saß ich ruhig auf einer Bank direkt am Strand, lauschte den Klängen der Musik und beobachtete wie ein Luchs. 226

Meinen Plan, zum Dampfer hinüberzuschwimmen, hatte ich endgültig aufgegeben, da ich einsah, daß die Strecke zu weit und die Strömung viel zu reißend war.

Jetzt kam es für mich nur noch darauf an, irgendwo unauffällig ein Ruderboot zu requirieren, um damit zum Dampfer gelangen zu können.

Vor mir lag gerade ein passendes, doch war dieses an einer Schleuse festgemacht, die von einem Posten Tag und Nacht bewacht wurde.

Doch gewagt mußte es werden!

Nachts um zwölf Uhr bei wiederum stockfinsterer Nacht schlich ich durch den Park und kroch an die zirka zwei Meter hohe Ufermauer heran. Ein Sprung über einen Gartenzaun, und schon lag unter mir leise schaukelnd mein Boot. Atemlos lauschte ich. Der Posten, nur zehn Schritt entfernt, schlenderte schlaftrunken auf und ab. Meine Stiefel hatte ich ausgezogen und mit den Schuhlitzen um den Hals gebunden, das offene Messer zwischen den Zähnen. Leise wie ein Indianer glitt ich an der Mauer hinunter. Mit den Fußspitzen konnte ich gerade das Dollbord des Bootes angeln, lautlos glitten meine Hände an dem harten Granit entlang, und eine Sekunde darauf saß ich zusammengekauert im Boot. Atemlose Spannung. Mein Posten ging unter seinen hellen Bogenlampen ungestört auf und ab. Mit meinem Boot lag ich Gott sei Dank im Dunkeln. Meine durch nächtliche 227 Torpedobootsfahrten geübten Augen sahen jetzt trotz der schwarzen Nacht fast wie am Tage. Vorsichtig tastete ich die Riemen ab. Verdammt, sie waren von einer Kette umschlossen. Zum Glück war diese aber nicht stramm angezogen, und leise zog ich erst den Bootshaken, dann einen Riemen nach dem anderen aus der Kettenschlinge heraus. Knirschend durchschnitt nun mein Messer die beiden Taue, mit denen das Boot an der Mauer festgemacht war, und unhörbar tauchten meine Riemen in das Wasser ein und trieben das Boot vorwärts.

Als ich in das Boot gestiegen war, hatte es schon sehr viel Wasser gehabt. Nun gewahrte ich zu meinem Schrecken, daß das Wasser im Boot mit großer Geschwindigkeit stieg. Schon überspülte das Wasser die Ducht, auf der ich saß, immer schwerer und unhandlicher wurde das große Boot, mit verzweifelter Kraft warf ich mich in meine Riemen. Plötzlich knirschte der Kiel, und das Boot lag eisern fest. Kein Pullen, kein Absetzen mit Riemen und Bootshaken half, das Boot blieb unbeweglich, und rasend schnell fiel das Wasser um das Boot herum, und schon nach wenigen Minuten saß ich fest und trocken im Schlick, dafür aber zum Trost das Boot innen bis an den Rand voll Wasser. Ich habe eine so schnelle Veränderung der Wasserhöhe bei Ebbe und Flut noch nie vorher in meinem Leben erlebt. Wenn auch die Themse in dieser Beziehung berüchtigt war, das hatte ich doch nicht für möglich gehalten. 228

Ich befand mich wohl in der kritischsten Lage der ganzen Flucht. Ringsherum war ich umgeben von weichem, stinkendem Schlick, dessen Bekanntschaft ich zwei Abende vorher beinahe mit dem Leben bezahlt hatte. Schon der Gedanke daran machte mich schaudern. Nur zweihundert Meter entfernt ging der Posten auf und ab, und ich selbst befand mich mit meinem Boot zirka fünf Meter von der zwei Meter hohen granitenen Ufermauer entfernt.

Kühl überlegend saß ich auf meiner Ducht. Eins stand fest: die Engländer durften mich hier nicht finden, denn wie einen tollen Hund hätten sie mich totgeschlagen.

Vor dem nächsten Vormittage stieg aber das Wasser nicht wieder. Also gab's nur eins: alle Energie zusammengerafft, Zähne zusammengebissen und versucht, den Schlick zu überwinden. Ich zog auch noch meine Strümpfe aus, krempelte die Hosen so hoch hinauf, als es irgend ging, dann legte ich die Bootsplanken und die Riemen nebeneinander auf den quillenden und glucksenden Schlammboden, dann benutzte ich den Bootshaken als Sprungstange und setzte ihn mit der Spitze auf eine Planke auf, stellte mich auf das Dollbord des Bootes, dann alle Kraft zusammengenommen, mit einem mächtigen Satze schwang ich mich im Stabhochsprung um meinen Bootshaken und . . . mit einem lauten Platsch langte ich nur einen Meter von der Mauer entfernt an und sank bis weit über die Knie in den zähen Brei, 229 dann aber festen Grund unter den Füßen spürend. Nun arbeitete ich mich an die Mauer heran, legte meinen Bootshaken als Kletterstange an, und einige Sekunden darauf war ich oben und saß mitten auf dem Rasen des kleinen Parkes, in dem ich einige Stunden vorher der Musik gelauscht hatte. Um mich herum lautlose Stille. Ein Alp wich mir von der Brust. Niemand, auch der Posten nicht, hatte etwas gemerkt.

Mit ziemlichem Mißbehagen betrachtete ich mir meine Beine. Bis über die Knie klebte eine dicke, stinkende, graue Schicht. Wasser zum Waschen war nirgends in der Nähe. Aber so konnte ich unmöglich meine Strümpfe und meine Stiefel wieder anziehen. Mühsam strich ich daher mit den Fingern die Schlickmasse, so gut es ging ab, und als die kleben gebliebene Kruste einigermaßen trocken war, gelang es mir, Schuhe und Strümpfe anzuziehen und die aufgekrempelten Hosen herabzustreifen.

Der erste Plan war zwar mißglückt, aber immerhin hatte ich dabei so viel Glück gehabt, daß ich voller Mut einen zweiten Versuch machen wollte.

Mit den Händen in den Taschen, einen betrunkenen Matrosen markierend, torkelte ich der kleinen Brücke, die von meinem Posten bewacht war, zu. In meiner Betrunkenheit rempelte ich den Posten sanft an, dieser schien solche Anblicke gewöhnt zu sein, und mit einem gemütlichen: »Halloh! Old Jack, one Whisky too much!« 230 klopfte er mir auf die Schulter und ließ mich passieren.

Einige hundert Schritte weiter war ich wieder der Alte. Nach kurzem Suchen fand ich die steinige Uferstelle wieder, an der ich den Abend vorher den beinahe mißlungenen Schwimmversuch unternommen hatte.

Es war ungefähr zwei Uhr nachts, und im Nu hatte ich mich ausgezogen, und sofort sprang ich, diesmal leicht und unbehindert, so wie mich der liebe Gott geschaffen hatte, ins Wasser. Der Himmel war zum erstenmal umwölkt, und schwach hoben sich die Umrisse mehrerer zirka zweihundert Meter vom Ufer entfernt verankerter Ruderboote ab. Das Wasser phosphoreszierte ganz ungewöhnlich stark; nur in den Tropen habe ich Ähnliches erlebt. Wie in einem Meer von Gold und Silber schwamm ich daher. Zu einer anderen Zeit hätte mich dieses Naturwunder höchst entzückt, jetzt befürchtete ich, daß das helle Aufleuchten meines nackten weißen Körpers in dem hellen Goldstrom mich verraten würde. Zuerst ging alles nach Wunsch. Sowie ich aber die links vor mir liegende schützende Uferecke passiert hatte, faßte mich der Strom, und nun gab es wieder ein Ringen mit dem Element auf Leben und Tod. Als meine Kräfte zu ermatten drohten, erreichte ich das erste Boot. Die letzte Kraft zusammengenommen, und nach einem mächtigen Klimmzug polterte ich in das Innere des Bootes hinein. Verhängnis! Das Boot war leer. Kein Riemen, 231 kein Haken, mit dem ich mich hätte vorwärts bewegen können. Nach kurzer Pause glitt ich wieder ins Wasser hinab und ließ mich nun von dem Strom gegen das nächste dahinter liegende Boot treiben. Auch dieses Boot . . . leer. Und so ging's noch mit drei anderen Booten. Bis ich schließlich beim letzten leeren anlangte, und nachdem ich mich verschnauft hatte, ging es wieder hinein in das glitzernde, jetzt aber unangenehm kalte Element. Und zwei Stunden, nachdem ich abgeschwommen war, langte ich wieder bei meinen Kleidern an.

Da ich vor Kälte wie Espenlaub zitterte, machte es mir besondere Arbeit, naß wie ich war, in die ebenfalls noch nassen und klebenden Kleider zu gelangen.

Eine halbe Stunde darauf lag ich, an meinem Glücksstern zweifelnd, in meinem Heuhaufen.

War es mir übelzunehmen, daß ich etwas mutlos wurde? Und vor allen Dingen gleichgültig? Ja, ich war so herunter, daß ich am nächsten Morgen nicht die Energie fand, rechtzeitig mein Versteck zu verlassen, und erst über den Bretterzaun setzte, als schon der Besitzer des Holzlagers mehrere Male dicht an meinem Versteck vorbeigeschritten war. Diesen kommenden Tag ging ich zu Fuß von Gravesend nach London hinauf und von London zu Fuß auf der anderen Themseseite nach Tilburn hinunter. Alles nur, um ein Boot finden zu können, das ich mir unbemerkt leihen konnte. Es war ja gar nicht zu glauben, mehrere lagen da, aber die nur gut 232 bewacht von ihren Besitzern. Mutlos gab ich das Rennen auf.

An diesem Abend ging ich in ein Varieté in der festen Absicht, die zwanzig Schilling, die ich noch besaß, zu verjubeln, dann in einer Nacht alles auf eine Karte zu setzen und zu versuchen, in die Docks zu gelangen und mich auf einem neutralen Dampfer zu verstecken. Und wenn das, wie es Trefftz gegangen war, mißlang, wollte ich mich der Polizeibehörde stellen.

Ich stand auf der obersten Galerie des größten Londoner Varietés und folgte dem Spiele. Eine innere Stimme raunte mir immer zu: Du gehörst nach Gravesend zur Arbeit, deine Pflicht ist es, die Schlappheit zu überwinden, sonst bist du kein deutscher Seemann mehr! Als lebende Bilder gestellt wurden, Szenen aus dem Schützengraben und Verherrlichungen des zukünftigen Sieges und Friedens, bei denen selbstverständlich die Deutschen nur fliehend und geschlagen dargestellt wurden, ja als sogar auf dem Hauptbild Britannia dargestellt wurde im strahlenden Sonnenglanz, die Siegespalme in der Hand, mit ihrem rechten Fuß auf einem gefesselt daliegenden feldgrauen deutschen Soldaten, da packte mich der heilige Zorn, und fluchtartig trotz Protestes meiner Nachbarn verließ ich das Theater und faßte gerade noch den letzten Zug nach Tilburn.

Jetzt war mir wieder wohl zumute. Und ich war in meinem Innern so fest überzeugt, daß mir 233 heute mein Plan gelingen würde, daß es gar nicht anders kommen konnte.

Als ich die ersten Fischerhütten von Gravesend passierte, fand ich einen kleinen Bootsriemen. Zur Sicherheit nahm ich diesen mit. Mitten in der Hafenstraße, da, wo in den Kaieinschnitten die Fischkutter direkt anlegten, schaukelte ein kleines Dinghi. Nur zwanzig Schritt davon entfernt saßen auf einer Hausbank gemütlich plaudernd die Besitzer der Fischkutter und des dazugehörigen Dinghis. Da die guten Seeleute mit ihren Geliebten zärtlich kosten, war von meiner Gegenwart nichts gemerkt worden.

Riskant war es, aber: Nur dem Mutigen gehört die Welt, brummte ich in mein Inneres hinein. Und dank meiner erworbenen Übung, kroch ich unhörbar in das Boot, ein scharfer Schnitt, und leise glitt die winzige Nußschale am Fischkutter entlang, auf dessen Achterdeck eine Frau ihr Kind in den Schlaf wiegte.

Da keine Dollen im Boot vorhanden waren, setzte ich mich achteraus und wriggte nun mit aller Kraft vom Ufer fort. Kaum hatte ich jedoch ein Drittel des Weges zurückgelegt, als mich plötzlich mit unwiderstehlicher Gewalt die Ebbströmung faßte, mein Boot wie einen Kreisel herumwirbelte und alle meine Versuche, Kurs zu halten, vergeblich machte. Jetzt galt's seemännische Geschicklichkeit zeigen. Mit eiserner Faust brachte ich das Boot in meine Gewalt, und genau mit dem Strom schwimmend, steuerte ich flußabwärts. 234 Jetzt kam ein gefährlicher Moment. Eine mächtige, quer über den Fluß reichende und von Soldaten streng bewachte militärische Pontonbrücke kam mir in den Weg. Ein Moment kalter Ruhe, schärfster Anspannung, ein Anruf eines Postens, und unverwandt geradeaus sehend und nur auf meinen Riemen achtend, schoß der Nachen durch zwei Pontons hindurch. Nur wenige Sekunden darauf erhielt das Boot einen kräftigen Stoß, und schon war ich an den Ankerketten eines mächtigen Kohlenleichters gestrandet. Wie der Blitz hatte ich mein Bootstau um die Ankerkette festgemacht, nur Bruchteile von Sekunden, in denen das Boot beinahe gekentert wäre. Jetzt war ich in Sicherheit. Wie rasend schoß das Wasser gurgelnd an meinen Bootsplanken vorüber, der volle Ebbstrom, verstärkt durch das Flußgefälle, mußte schon eingesetzt haben.

Mir blieb jetzt nichts anderes zu tun übrig, als geduldig warten.

An meiner Steuerbordseite lag mein Dampfer. Ich wollte abwarten, bis wieder Stauwasser eingetreten war, um dann herüberzuwriggen. Innerlich frohlockte ich schon vor lauter Übermut, als schnell der nötige Dampfer kam. Der Morgen fing an zu grauen, immer heller traten die Umrisse der verankerten Schiffe hervor, endlich ging die Sonne auf, und immer noch rauschte das Wasser so kräftig an mir vorbei, daß an ein Fortkommen für mich nicht zu denken war. Die Flucht war sowieso in dieser Nacht unmöglich. 235 Glücklich aber, daß ich wenigstens das lang gesuchte Boot besaß, ließ ich mich mit dem letzten schwachen Ebbstrom stromabwärts gleiten, und nach zirka einer Stunde machte ich an einer alten zerfallenen Brücke am rechten Themseufer fest. Mein Boot versteckte ich unter der Brücke, die beiden Riemen nahm ich zur Vorsicht mit an Land und verstaute sie im hohen Gras. Dann legte ich mich selbst in die Nähe und beobachtete. Um acht Uhr früh rauschte mein Dampfer stolz an mir vorüber. Es war die »Mecklenburg«. Nun kam noch eine harte Geduldsprobe. Sechzehn Stunden blieb ich im Grase liegen, bis abends um acht Uhr die Befreiungsstunde schlug.

Da bestieg ich wieder mein Boot. Vorsichtig ließ ich mich durch die eben einsetzende Flußströmung wieder stromaufwärts treiben und machte am selben Leichter fest, an dem ich die Nacht vorher gestrandet war. Querab von mir, nur fünfhundert Meter entfernt, lag die »Prinzeß Juliana« an ihrer Boje.

Jetzt hatte ich Zeit, legte mich lang in das Innere meines Bootes und versuchte vergebens ein Nickerchen zu machen. Der Flutstrom schwoll, und bald war ich wieder von brausendem Wasser umgeben.

Nachts um zwölf Uhr wurde es still um mich herum, und als um ein Uhr das Boot ruhig im Stauwasser schlingerte, warf ich los, setzte mich achtern dwarf in mein Boot und wriggte in größrer Gemütsruhe, als wenn ich mich auf einer 236 Sonntagspartie im Kieler Hafen befände, zu Dampfer.

Unbemerkt gelangte ich an die Festmacherboje.

Haushoch türmte sich über mir der scharfe schwarze Vorsteven meines Dampfers. Ein kräftiger Ruck, und oben war ich auf der Boje. Nun gab ich meinem treuen Schwan einen tüchtigen Fußtritt, und schnell wurde der von der eben wieder einsetzenden Ebbströmung stromab geführt. Mäuschenstill lag ich mehrere Minuten auf der Eisentonne. Dann kletterte ich, von eiserner Ruhe erfüllt, wie eine Katze an der mächtigen Stahltrosse zur Klüse empor. Vorsichtig steckte ich den Kopf über den Wassergang und spähte.

Die Back war leer.

Ein kurzes Aufstemmen, und oben war ich. 237

 


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